Reportagen

Von Hohenstein-Ernstthal in die weite Welt

Die Karl-May-Straße lag am Abend des 4. September im warmen Abendlicht. Für einen Moment glaubte man sich in dieser Stadt am Südhang des Pfaffenberges nach Italien versetzt. Doch Hohenstein-Ernstthal liegt in Sachsen und wir stehen vor dem Geburtshaus von Karl May auf der Karl-May-Straße 54.

Der große Dichter könnte jeden Augenblick in der Tür seines Elternhauses stehen.

Ein Relief erinnert an den großen Sohn der Stadt, der Geschichten zu erzählen vermochte für ein breites Publikum und gleichzeitig in der Weimarer Tradition die Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen beförderte.

Gegenüber des May-Geburtshauses, in der Karl-May-Straße 51, hat der Geschichtsverein Hohenstein-Ernstthal seinen Sitz. An diesem Abend sollte Andreas Eichler, ein promovierter Philosoph, über einen anderen großen Sohn Hohenstein-Ernstthals vortragen: Gotthilf Heinrich Schubert (26.4.1780–1.7.1860).

Eichler stellte diesmal zügig den Lebensweg des Hohensteiner Pfarrerssohnes vor, der in der Familie bereits eine vorzügliche klassische Bildung erhielt, und sich gleichzeitig das Wissen über Steine, Pflanzen und Tiere seiner Heimat aneignete.  Er wollte ein Entdecker werden, wie Alexander von Humboldt.

Das Gymnasium in Weimar (Schüler von Johann Gottfried Herder), Studium in Leipzig und Jena (Schüler von Johann Wilhelm Ritter und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling) absolvierte er mit hohem Einsatz, stand bereits in den frühen Morgenstunden auf, lebte nach strenger Diät, mitunter hatte er auch einfach kein Geld für ausreichende Ernährung, und las bereits vor den Lehrveranstaltungen klassische Texte und naturwissenschaftliche Werke. Zu Fuß besuchte er die Eltern Ostern und Weihnachten. Schiffsarzt war sein nächstes Ziel, um die Entdeckungen fremder Kulturen und Natur zu verwirklichen.

Doch nach seiner Promotion in Medizin heiratete Schubert und gab seine Entdeckerpläne auf. Die junge Familie ließ sich in Altenburg nieder. 1805 verzogen Schubert und seine junge Frau nach Freiberg. Hier wollte er nocheinmal bei Abraham Werner Geognosie, die Lehre von der Erdentstehung studieren. Schubert schrieb dort an einer »Allgemeinen Geschichte der Natur« und an Lehrbüchern der Geologie und Mineralogie. Mitstudenten bei Werner waren A. W. v. Herder, W. A. Lampadius, Ralenbeck, K. von Raumer,  M. von Engelhardt, Beltheim, von Charpentier, von Scharner, von Przystanowski.

Im Herbst 1806 reiste diejunge Familie, in Freiberg wurde ihr eine Tochter geboren, nach Dresden. Ihnen entgegen marschierten die preußischen Truppen, um die eingedrungenen französischen Eroberer abzuwehren.

In Dresden wurden Schuberts von den Freunden Köthe, Wetzel, Krause, Hartmann, Dippold und anderen empfangen. Die Familie wohnte im Haus des Malers Gerhard von Kügelgen in der Altstadt. (Der Umzugg in die Neustadt erfolgte erst später) Im Hause der Familie von Kügelgen traf Schubert andere Intellektuelle: Oehlenschläger, von Engelhardt, von Raumer, Fernow, Seume, Thiersch, C. D. Friedrich, P. Cornelius, Julius Schnorr v. Carolsfeld, von Kleist, Müller, von Pfuehl, A. Schlegel, F. Schlegel, Madame de Stael und andere.

Im Winter 1807/1808 hielt Schubert gemeinsam mit Adam Müller im Palais Carlowitz Abendvorträge. Schubert nannte die seinigen »Ansichten über die Nachtseiten der Naturwissenschaften«. Er versuchte Licht in das Dunkel von Erscheinungen zu  bringen, die die Wissenschaft bis dahin ignorierte. Zugleich monierte er die starren Disziplinengrenzen an den Universitäten, die fortschreitende Umweltzerstörung, die imperiale Kriegführung und die herablassende Behandlung fremder Kulturen.

Eichler meinte, die Vorträge machten Schubert populär, aber er erhielt in Sachsen keine Anstellung. So nahm er im November das Angebot einer Direktorenstelle eines neuen Realgymnasiums (erweiterter Naturwissenschaftsunterricht und moderne Sprachen) in Nürnberg an, welches Schelling, sein Freund aus Jenaer Zeit, vermittelte, und verließ im Januar 1809 Sachsen für immer.

In Nürnberg freundete er sich mit den Kollegen Kanne, Pfaff und Schweigger an.

Sein erster Schüler war Johann Andreas Wagner, der später einmal an der Münchner Universität sein Kollege werden sollte.

Auch mit dem Direktor des Humanistischen Gymnasiums in Nürnberg, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, trat Schubert in Kontakt.

Es folgte eine Episode als Prinzessinenerzieher in Schwerin, aus der ihn eine Berufung an die Universität Erlangen errettete. Der alte Freund Schelling und die Kollegen Kanne, Pfaff, Schweigger hatten die Berufung 1819 betrieben. Zudem traf Schubert in Erlangen die Kollegen Krafft und Engelhardt. Ab 1820 war auch Schelling in Erlangen und  Friedrich Rückert kam 1826 dazu. Schubert bezeichnete später die Jahre in Erlangen als die schönsten Jahre seines Lebens,

Im Unterschied zu Sachsen tat sich damals in Bayern in Bildungsangelegenheiten etwas. König Ludwig I. verlegte die Universität von Landshut nach München und wollte ein geistiges Zentrum begründen.

1827 wurde der Protestant Schubert in das katholische München berufen, obwohl  er wegen der Anwesenheit seines einzigen »Angstgegners« Lorenz Oken zögerte. Doch Schelling zerstreute die Bedenken. Schubert traf dort die Kollegen Baader, Görres, Thiersch, Ringeis, Roschlau. Im Jahre 1831 wurde Schubert der Titel Hofrat und der personaler Adelstitel verliehen. Oken wurde 1832 nach Zürich berufen und zugleich Johann Andreas Wagner (1797–1861) auf den Lehrstuhl von Wagler. Im so genannten Münchner Kreis traf sich Schubert u.a. mit Julius Schnorr von Carolsfeld und Peter Cornelius. Ideale Arbeitsbedingungen. Dennoch brachte Schubert nach 1830 kein neues wissenschaftliches Werk mehr zustande. Er widmete sich ganz dem Unterricht und dem Verfassen von Lehrbüchern.

Im Rahmen seiner Professur für Naturgeschichte oblag ihm auch der naturwissenschaftlicher Unterricht der Kindern von König Ludwig I.: Prinzessin Adelgunde (1823–1914), später Herzogin von Modena; Prinzessin Hildegard (1825–1864) ; Prinzessin Alexandra (1826–1875), Prinz Adalbert (1828–1875).

Auch der nachfolgende König Maximilian II. vertraute Schubert den naturwissenschaftlichen Unterricht seiner Kinder an: Prinz Ludwig (1845–1886), der spätere König Ludwig II.; Prinz Otto (1848–1916); Herzogin Elisabeth (Amalie Eugenie) von Bayern (1837–1898), der späteren Kaiserin Elisabeth von Österreich und Königin von Ungarn, »Sisi« genannt.

Im Jahre 1852 wurde Schubert emeritiert. 1853 verlieh ihm die Universität Erlangen zum 50. Jubiläum seiner Promotion den Titel eines Doktors der Theologie.

Eichler verwies darauf, dass in Schuberts Autobiographie das vorletztes Kapitel den Titel trage »Das Leben ein Traum«. Dies sei auch die Grabsteininschrift des am 30.6./1.7.1860 bei München verstorbenen Gotthilf Heinrich Schubert gewesen.

Die Zuschauer wünschten sich am Ende Näheres zu Schuberts Buch »Symbolik des Traumes« von 1814. Eichler meinte, dass bei diesem Buch deutlich werde, dass Schubert einer der wenigen Romantiker gewesen sei, die in ihrem Streben nach Erneuerung nicht auf die Kant-Fichtesche Transzendentalphilosophie stützten. Schubert sei zu einem Entdecker auf dem Gebiet des Seelenlebens, unserer inneren Welt geworden, anders als sein Vorbild Alexander von Humboldt. Gegen die verengte Sicht auf Rationalität von Kant-Fichte habe Schubert das Thema Traum gewählt, sei aber fast in das andere Extrem verfallen: nur im Traum seien wir wir.

Interessant seien bis heute Schuberts Dokumentationen von Traumbildern. In typisch romantischer Weise habe Schubert Urphänomene, unveränderliche Urbilder des Traumes gesucht. Zudem habe er festgestellt, dass wir mit unter im Traum das Gegenteil dessen erfahren, was wir am Tag bewusst entscheiden.

Eichler verwies, dass Schuberts Buch besonders unter romantischen Künstlern große Wirkung erzielte. Aber auch Wissenschaftler wie Sigmund Freud hätten es mit Gewinn gelesen. (Karl Gustav Jung führte den Ansatz dagegen ohne Hinweis auf Schubert einfach weiter.)

Es kam, wie es kommen musste. Hier brachte Eichler Johann Gottfried Herder ins Spiel. Dieser habe auch in seinen Abendvorträgen für seinen Sohn Emil und für Gotthilf Heinrich Schubert im Frühjajhr 1799 darauf verwiesen, dass wir mit unserer Sprache Sinneseindrücke festzuhalten und wiederaufzurufen vermögen. Wir bstimmen diese Eindrücke, und schließen dabei anderes aus. Das, was ausgeschlossen wurde, käme mitunter in der Nacht als Traum zurück. Hier verwies Eichler auch darauf, dass Psychoanalytiker, wie Jacques Lacan hervorheben, dass die Psychoanalyse keine Triebtheorie sei, sondern dass es um die sprachliche Struktur des Unterbewussten gehe.

Abschließend verwies Eichler noch darauf, dass Schubert die Suche nach »Urphänomenen« und »Urworten«, wie die anderen Romantiker, zu wörtlich nahm. Für Herder seien Urworte eher die Sagen von der Entstehung der Welt, wie sie in der Genesis von Moses festgehalten wurden, wie sie aber vorher von den Hochkulturen des Zweistromlandes, Persiens, Indiens und Ägyptens weitergegeben wurden. Herder habe gemeint, dass die Völker den uralten Text immer gemäß ihrer Lebensbedingungen aufnahmen, veränderten und weitergaben.

Nach anderthalb Stunden ging dieser Abend zu Ende. Das Publikum war äußerst interessiert und sehr gut vorinformiert.

Kommentar

Dr. Klaus Walther stellte im März 2012, bei der Vorstellung der »Ergebirgischen Dorfgeschichten« Karl Mays anlässlich der Leipziger Buchmesse die Frage, warum aus dem kleinen Städtchen so viele Schriftsteller, hervorgegangen seien, die fremde Kulturen entdecken wollten. Er verwies auf Karl May, Werner Legère und Rainer Klis. Er hätte auch noch deren Vorgänger Gotthilf Heinrich Schubert nennen können, der sich nach seiner Berufung zum Professor Reisen durch Europa und in den Nahen Osten leisten konnte.

Eichler verwies an diesem Abend darauf, dass man von den Höhen Hohenstein-Ernstthals eine Weitsicht genieße. Man könne nicht nur den Fichtelberg erblicken, Schubert habe sogar den Petersberg bei Halle gesehen.

Weitsicht ist also bereits vorhanden in Hohnstein-Ernstthal. Zudem praktizierten diese Schriftsteller eine Art von Weltendeckung, die nichts mit dem banalen Globe-»Trotten« der heutigen Konsum-Touristen zu tun hat, aber auch nicht mit Konzerninteressen oder Waffen belastet ist. Die Hohenstein-Ernstthaler Welt- und Kulturentdeckung erfolgt allein mit der Poesie. Insofern ist Hohenstein-Ernstthal der Ort, an dem heute der Dialog der Kulturen praktiziert werden kann und werden sollte.

Johannes Eichenthal

 

Information

www.geschichtsverein-hohenstein-ernstthal.de

 

Andreas Eichler: G.H. Schubert – Ein anderer Humboldt
Format 22,5 × 22,5 cm, fester Einband, Fadenheftung, runder Rücken, Lesebändchen, 96 Seiten
23 zum Teil farbige Abbildungen und Fotos. ISBN: 978-3-937654-35-5

 

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