Reportagen

Mythos Amerika

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Am 19. Juni, einem der heißesten Tag des Jahres, besuchte das Reiseensemble des Concordia Community Chorus, des Universitätschores aus dem kanadischen Edmonton, die sächsische Gemeinde Niederfrohna. Frau Prof. Joy Berg, die Chorleiterin, und Reverend Lorne Manweiler, der Organist, werden von Gabriele Liebert, der stellvertretenden Vorsitzenden des Heimatvereins begrüßt.

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Ein Foto des Chores auf der Rathaustreppe. Darüber die Jahreszahl 1837. Das Gebäude wurde 1837 als Schule erbaut.

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Die kanadischen Gäste wollten sich über Hintergründe der deutschen Amerikaauswanderer informieren. Aus Niederfrohna waren 1838 der Ortspfarrer  Ernst Gerhard Keyl und etwa 50 jüngere Einwohner dem Ruf des Dresdner Pfarrers Martin Stephan gefolgt. Zunächst besichtigte die Delegation das Wohnhaus der Familie Martin. Hier lebte der Leineweber Johann Gottlob Martin mit seiner Frau Johanne Christiane, geb, Werner. Das Ehepaar hatte 18 Kinder als die Mutter starb. Die ältesten Geschwister mussten fortan für die kleineren sorgen.

Im November 1838 folgten die ältesten Geschwister August Wilhelm Martin (21 Jahre), Christiane Wilhelmine (19 Jahre) und Karl Gottlob (17 Jahre) ohne Wissen des Vaters den Pfarrern Keyl und Stephan nach Amerika.

Gabi Liebert kann über die Details berichten, weil der Heimatverein Niederfrohna von Nachfahren der Familie Martin und Sterzel einen umfangreichen Briefwechsel zwischen dem in Niederfrohna verbliebenen Vater und den ausgewanderten Kindern zur Aufbewahrung erhielt. Gabi Liebert hat sich seither intensiv mit dem Briefwechsel beschäftigt.

Sie fährt in der Erklärung fort, dass August Wilhelm Martin bereits 1839 in Amerika verstarb und dass die beiden Geschwister 1841 aus dem neu gegründeten Ort Frohna in Missouri an den Vater schrieben: »Was nun die äußeren Verhältnisse hier betrifft, so bin ich allerdings in dem früheren Wohlstand nicht mehr, habe manche Erfahrung gemacht, von wo ich früher nichts zu sagen wußte.« Es kam sogar soweit, dass der hart arbeitende Vater seinen Kindern Geld nach Amerika schicken musste, dass diese überleben konnten.

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Die nächste Station war die Niederfrohnaer Rathausgalerie. Der Heimatverein präsentiert aus Anlass des 175. Jahrestages der Auswanderung noch einmal eine Ausstellung, ergänzt durch einige neue Dokumente, die bereits 2011 gezeigt wurde. Hier wartete Frau Ingerose Paust (auf dem Foto rechts) auf die Auswanderer. Sie veröffentlichte 1972 in der Evangelischen Verlagsanstalt die historische Erzählung »Der Auszug der 800«, in der sie die Stephanusbewegung dokumentierte. Das Buch wurde in der Hardcover-Fassung in acht Auflagen veröffentlicht, ebenso noch einmal als Paperback. Frau Paust begrüßt die Gäste in fehlerfreier englischer Sprache. Sie legt Wert darauf, dass die Eckpunkte ihrer Erzählung mit den historischen Dokumenten übereinstimmt, die sie studierte. Im Jahre 1997 erhielt sie für ihr Lebenswerk die Würde des »Dr. of letters« der Concordia-Universität in Austin/Texas.

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Bürgermeister Klaus Kertzscher und sein Stellvertreter Jens Hinkelmann begrüßten die Gäste im Saal des Rathauses Niederfrohna. Der Bürgermeister stellte die Gemeinde vor. Die Damen des Heimatvereins bewirteten die kanadischen Gäste.

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Im Anschluss kam Frau Prof. Berg der Bitte des Bürgermeisters nach, sich in das Ehrenbuch der Gemeinde einzutragen.

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Zum Abschluss des Besuches trat der Chor in der Johanniskirche auf. Fleißige Hände der Kirchgemeinde hatten die Kirche von den Spuren der letzten Bauarbeiten befreit. Eigentlich war die Kirche bereits 2010/11 zu einem Begegnungszentrum umgebaut worden. Nach einer Eröffnungsveranstaltung traten aber Bauschäden auf. So war das Konzert des Abends wohl eine Art Eröffnung der Kirche als Begegnungszentrum.

Die Gäste hatten das Konzert unter das Motto »Awake my Heart« (Auf, auf mein Herz) gestellt. Man konnte die Verehrung ahnen, die der deutsche evangelische Lieddichter Paul Gerhardt (1607–1676) bei ihnen genießt. Eine Station war auch Gräfenhainichen bei Wittenberg, der Geburtsort Paul Gerhardts. So nahm der Chor die Gäste der voll besetzten Kirche mit auf eine Reise in deutsche literarische Liedtradition. Manch einer war sicher überrascht, was die deutsche Sprache alles beheimatet. Zudem sang der Chor einzelne Strophen in englischer Sprache. Das alles geschah unkompliziert, ohne die in Deutschland übliche Erklärung. Das Publikum war hingerissen.

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Reverend Lorne Manweiler brachte die wenig genutzte Orgel der Johanniskirche zum Klingen. Seine Improvisation waren der belebende Kontrast zum gefühlvollen Stil des Chores. Einzigartig.

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Bürgermeister Klaus Kertzscher ließ es sich nicht nehmen, dem wunderbaren Ensemble nach Abschluss des Konzertes zu danken. Ebenso dankte er den  fleißigen Helfern des Heimatvereins, der Kirchgemeinde und des Gemeindeamtes. Zugleich dankte er aber auch den anwesenden Vertretern des Amtes für Ländliche Entwicklung, die mit Fördermitteln dazu beitrugen, dass die Kirche zur Begegnungsstätte umgebaut werden konnte, um sich auch weltlichen Veranstaltungen öffnen zu können.

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Nach dem Konzert verlassen die Zuhörer die Kirche. Hier Peter Hecht, dessen Vorfahren auch nach Missouri auswanderten.

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Aber der Chor wollte an diesem Abend noch nach Dresden.

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Der Bürgermeister verabschiedete die Gäste.

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Die Verabschiedung des Heimatvereins erfolgte durch Gabi Liebert auf dem Hof der Johann-Traugott-Sterzel-Grundschule. (Sterzel wurde 1841 in Dresden/Missouri geboren. Seine Eltern kehrten mit ihm nach Niederfrohna zurück. Er wurde später Begründer des Chemnitzer Naturkundemuseums.)

 

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Ein schöner Sommertag ging in Niederfrohna zu Ende. Von der großen Hitze hatte man kaum etwas gespürt.

 

Kommentar

Das Thema Amerika-Auswanderung hat heute seinen früheren Glanz verloren. Vielleicht ist erst jetzt eine nüchterne wissenschaftliche Sicht möglich? Dann sollte die Wissenschaft aber auch mit der Untersuchung der Einzelschicksale beginnen. Die Geschichte der Familie Martin ist eine solche Möglichkeit, um frühere Abstraktionen zu überwinden.

Was war das für eine Zeit? Nach den Aufständen von 1830 revidierte man in Dresden zunächst die Städte-Ordnung, dann die Landgemeindeordnung. 1839 durfte erstmals wieder ein Gemeinderat in Niederfrohna gewählt werden.

Man kann sich heute auch kaum noch vorstellen, dass die Landeskirche 1838 Menschen an der Ausübung des christlichen Glaubens gehindert haben soll. Es gab Diskussionen in der Theologie. Aber die praktische Seelsorge war immer etwas anderes. Schließlich müsste man auch die Tatsache neu bewerten, dass der ordinierte Pfarrer Keyl Mitglieder seiner Kirchgemeinde darin bekräftigte, die Gemeinde und die Kirchgemeinde zu verlassen. Im Falle der Familie Martin wird deutlich, dass dies sogar ohne Wissen und ohne Zustimmung des Vaters geschah. Vielleicht ist der 175. Jahrestag des Ereignisses also ein Anlass für die Historiker die Zusammenhänge neu zu untersuchen? Wir sind gespannt.

Johannes Eichenthal

 

Information

Die Ausstellung des Heimatvereins in der Rathausgalerie ist bis zum Herbst zu den Öffnungszeiten des Rathauses und auf telefonische Vereinbarung zu sehen.

E-Mail: rathaus@niederfrohna.de

 

Ingerose Paust: Der Auszug der 800. Eine historische Erzählung.

Evangelische Verlagsanstalt GmbH 1972ff.

Das Buch ist leider nur noch antiquarisch zu erhalten.

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