Feature Rezension

Die Taschenbuchreihen der 1950er Jahre. Vom Büchersammeln

Die beiden Herausgeber Reinhard Klimmt und Patrick Rössler umreißen in der »Gebrauchsanweisung« zunächst, was sie unter »Taschenbuch« verstehen, und was nicht. Im Detail ist die Frage, ob Taschenbuchreihe oder nicht, schwierig zu beantworten. Der Laie staunt ob der möglichen Unterscheidungen. Zudem grenzen die Herausgeber das Sammelgebiet auf den deutschsprachigen Raum Deutschland, Österreich und die Schweiz ein. Der Sammelzeitraum beginnt im Juni 1950 mit den ersten »echten« Taschenbüchern von Rowohlt und endet mit den Taschenbuch Neuerscheinungen im Dezember 1959.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 67)

Der Leser findet nach den Vorworten und der Einleitung im großformatigen Band 1 auf 544 Seiten die wichtigsten Taschenbuchreihenprojekte, die Verlage und einzelne Buchgestalter, reich illustriert und kenntnisreich vorgestellt. Die wichtigsten Titel werden nicht nur besprochen sondern stets auch abgebildet. Der Band endet mit der Titelpräsentation der favorisierten Bücher von Herausgebern und Autoren.

Im Band 2 folgen auf 392 Seiten eine Bibliographie aller im Sammelgebiet und im Sammelzeitraum erschienenen Taschenbücher und eine summarische Darstellung aller Titel in einer Bildbibliographie, ein Künstlerindex, Hinweise auf weiterführende Literatur, ein Autorenregister und ein Titelregister.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 123)

Die Dokumentation reicht über die engen Grenzen der Publikationsgeschichte weit in die Geschichte der Alltagskultur des deutschsprachigen Raumes hinein. Ein besonderes Merkmal der Untersuchung besteht darin, dass die DDR-Taschenbuchreihengeschichte im Gesamtzusammenhang mit Bundesrepublik, Österreich und Schweiz dargestellt wird. Das ist 26 Jahre nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten immer noch die Ausnahme. Reinhard Klimmt verweist an entscheidender Stelle darauf, dass der DDR-Buchmarkt die Entwicklung des Taschenbuches am Ende einfach mitmachen musste: »Sie (die Taschenbücher) bieten in ihrer disparaten Gesamtheit eine kleine Kulturgeschichte der Nachkriegszeit. Sie spiegeln die Gesellschaft und die sich aus ihr vollziehenden Änderungen wider. Wer genau hinschaut, spürt dies in der gesamten deutschsprachigen Taschenbuchliteratur, in Österreich wie in der Schweiz, auch in der DDR, so gelenkt sie gewesen sein mochte. Und wenn wir uns vom reinen Inhalt ein wenig entfernen und die Taschenbücher als Designobjekte betrachten, die nach eigenwilligen und doch letztlich plausiblen und den Zeitgeist widerspiegelnden ästhetischen Prinzipien gestaltet wurden, kann man an ihrem Beispiel eine kleine Geschichte des Buchdesigns dieser Jahre erstellen.« (S. 13)

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(Abbildung von Bd. 1, S. 199)

Wir verraten kein Geheimnis, wenn wir darauf verweisen, dass Ministerpräsident a. D. Reinhard Klimmt ein ausgewiesener Kenner und Sammler von Taschenbüchern ist, der die hier behandelte Taschenbuchreihen-Sammlung der 1950er Jahre selbst komplett zusammengetragen hat.

Warum sammelt ein Mensch Tausende solcher Bücher? Im Jahre 2014 erschien ein Sammelband mit dem Titel »Haben Sie das alles gelesen?«. Hier finden wir Reinhard Klimmt im Kreise mit 15 anderen Büchersammlern, die alle versuchen ihre Sammelleidenschaft verstehbar zu machen. Klimmt ist der einzige Sammler in dieser Auswahl, der sich auf Taschenbücher konzentriert.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 307)

Im Vorwort des neuen Buches finden wir einige Passagen, die an den Text von 2014 erinnern. Reinhard Klimmts antwortet auf die Frage, wer er sei: »Ich bin ein Geschöpf der Taschenbuchkultur«. Die Zeit seiner Jugend charakterisiert er als »Ära des ungeheuren Lesehungers«. Die Taschenbücher lieferten schnell greifbaren Lesestoff, sie befreiten aber auch die Literatur aus der weihevollen Atmosphäre der Leinen-, Halb- und Ganzlederbände, aus den großen Internierungslagern der Gesamtausgaben und boten uns heranwachsenden Lesern die Chance, Bücher zu einem (noch erschwinglichen) Preis zu kaufen …«

»Wir lasen überall … Das Taschenbuch eroberte nicht nur mit eigens konstruierten Drehgestellen die Bahnhofsbuchhandlungen, sondern auch die Angebote der Buchhandlungen. Wenner, die am prominentesten in der Großen Straße von Osnabrück gelegene Buchhandlung, richtete eine eigene Taschenbuchabteilung ein, direkt an der Straße, leicht zugänglich und einladend.«

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(Abbildung von Bd. 1, S. 322)

Klimmt fügt einen weiteren wichtigen Aspekt an:»Die Fernreisen waren noch nicht Mode. Fremde Welten zeigten sich vor allem in der Literatur.« Taschenbücher (vermittelten) »der heranwachsenden Nachkriegsjugend ein weitläufiges Bild von der Welt …, selbst erlesen, unabhängig von den Vorgaben der Eltern und Lehrer.«

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(Abbildung von Bd. 1, S. 333)

Es folgt ein wichtiger Hinweis auf die Eigenständigkeit der Nachkriegsgeneration: »Norman Mailers ‹Die Nackten und die Toten› … setzte einen wichtigen Akzent gegen den vielfach noch grassierenden Militarismus. Es war für uns von ähnlicher Bedeutung wie Remarques ‹Im Westen nichts Neues› für die Väter-Generation.«

Ein anderes Taschenbuch hebt Klimmt in seinem Vorwort heraus: »Fiesta« von Ernest Hemmingway. Das Cover dieses Rowohlt-Taschenbuches, so Klimmt, prägte bis heute sein Spanien-Bild.

Aber ist es nur das Cover? Oder vielleicht auch Hemmingways Text? Oder beides?

Das Lesen eines Buches kann in der Tat ein inneres Bild entstehen lassen. Gute Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass auf billige Oberflächeneffekte verzichtet wird, und statt dessen Assoziationen aus tieferen Schichten des Erzählens entstehen können. Die heute mit Revolutions-Manierismus auftrumpfende Fernseh- und Werbebranche nutzt vor allem Oberflächeneffekte. Innere Bilder können bei Kindern- und Jugendlichen, wie auch bei Senioren, unter diesen Bedingungen nur noch auf sehr flache Weise entstehen.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 363)

Klimmt macht uns im Vorwort deutlich, dass auch die Taschenbuchkultur eine Art von »Generationenrevolte« war. Der Unterschied zur heute entstehenden Dominanz des Bildschirms besteht darin, dass Taschenbücher immer noch Bücher waren. Die Taschenbücher fanden ihren Platz neben den von der Jugend »verachteten« Leinen-, Halbleder- und Lederausgaben. Die Taschenbüchr ermöglichten mehreren nachfolgenden Jugend-Generationen den Zugang zum Buch, unabhängig von Eltern und Lehrern, so wie es Klimmt beschrieb.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 385)

Die Macht der heutigen Internet-Monopole besteht darin, Milliarden von Menschen dazu zu bringen, freiwillig, bei jeder Gelegenheit, auf ihren Bildschirm zu starren, am Arbeitsplatz, beim Gehen, in der Straßenbahn, in der U-Bahn, im Zug, im Auto, bei der Kinderbetreuung, beim Essen, im Kino, im Schlafzimmer …

Zugleich liegen die soziologischen Befunde vor: ein Viertel aller Achtjährigen beherrscht keinen Mindestwortschatz mehr. Die Zahl der funktionellen Analphabeten steigt selbst in hochentwickelten Industrieländern.

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(Abbildung von Bd. 1, S. 493)

Die zwei Bände Taschebuchgeschichte sind deshalb heute von besonderem geistigen Gewicht, gegen das die 5,6 Kilogramm physischen Gewichtes in keinem Verhältnis stehen. Die Darstellung der Geschichte der Literatur, in diesem Fall die des Taschenbuches im deutschsprachigen Raum, kann unseren Glauben an die Bildung zur Humanität stärken und Hoffnung für die Zukunft stiften. In einer Welt, in der sich alles im Umbruch befindet, und von dessen Dimension wir dem Anschein nach noch nicht einmal deutliche Ahnungen haben, ist dieses Unternehmen der Herausgeber und Autoren nicht hoch genug zu schätzen. Vielleicht ist es auch eine Reminiszenz an sozialdemokratische Bildungsideale? Wie dem auch sei, ohne Bildung und humane innere Bilder ist unsere Kultur verloren. »Ohne kulturelle Kompetenz keine interkulturelle Kompetenz. Ohne interkulturelle Kompetenz keine Offenheit.« (Matthias Theodor Vogt) Herausgebern und Verlag gebührt Dank!

Johannes Eichenthal

Die Abbildungen wurden von der Abteilung Gestaltung des Mironde-Verlages ausgewählt

 

Information

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Reinhard Klimmt und Patrick Rössler: Reihenweise. Die Taschenbücher der 1950er Jahre und ihre Gestalter.

Mitarbeit von Jane Langforth, Mirko Schädel und Andrea van Dülmen.

Texte von Georg C. Bertsch, Reinhard Klimmt, Jane Langforth, Thomas Nagel und Patrick Rössler;

2 Bände im Schuber, Leinen, gebunden, Fadenheftung, Kapitalband, Lesebänchen, zahlreiche farbige Abbildungen. VP 249,00 Euro

Achilla Presse; ISBN 978-3-00-052234-5

Bestellung in jeder Buchhandlung oder direkt bei  reinhard.klimmt@t-online.de  oder buechergaertner@t-online.de

 

9783937654805

Klaus Walther/Dieter Lehnhardt: Haben Sie das alles gelesen?

Ein Buch für Leser und Sammler.

Mit Beiträgen der Büchersammler Reinhard Klimmt, Uwe Schneider, Dieter Lehnhardt, Ralph Schippan, Klaus Bellin, Elmar Faber, Hans-Joachim Gelberg, Carsten Wurm, Reiner Speck, Klaus Walther, Joachim Kerstens, Wulf D. von Lucius, Reinhard Abel, Gebhard Bretzke, Godehard Schramm, Gunnar F. Fritzsche;

366 Seiten, 12,5 × 21,5 cm, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen,

zahlreiche farbige Fotos ; VP 29,90 Euro;

Mironde Verlag; ISBN 978-3-937654-80-5

Bestellung in jeder Buchhandlung oder direkt: www.mironde.com

 

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