Reportagen

Schubert in Freiberg

Der Freiberg Altertumsverein beging 2010 seinen 150. Geburtstag. Regelmäßig veranstaltet der Verein Vortrags- und Diskussionsabende im Museum für Stadt- und Bergbaugeschichte. Am 23. November begrüßte Dr. Ulrich Thiel, der Direktor des Museums, Dr. Andreas Eichler, den Autor einer Einführung in Leben und Werk Gotthilf Heinrich Schuberts. Der Veranstaltungsort, die »Tonne« genannt, ist ein historischer Kellerraum des Museums.

Eichler verwies darauf, wie wir es von ihm kennen, dass er den am 26. April 1780  in Hohenstein geborenem Schubert zum Gegenstand eines Buches machte, weil dieser ein Schüler Johann Gottfried Herders gewesen sei. Ihn habe interessiert, wie eine neue Generation mit dem Erbe von Herder, Wieland, Goethe, Schiller u.a. umging.

Schubert sei, wie viele große deutsche Geister, in einem protestantischen Pfarrhaus geboren worden. Die höhere Bildung habe hier schon im Alltag der paternalistisch strukturierten Familie begonnen. Interessant sei gewesen, dass selbst der junge Schubert auch eigenen Anregungen folgen durfte. So begleitete er 1796 einen Schulfreund aus dem Greizer Gymnasium, der an das Weimarer Gymnasium wechseln wollte, zur Teilnahme an einigen Lehrveranstaltungen nach Weimar. In seinen Lebenserinnerungen von 1854/55 habe Schubert die Wanderung nach Weimar beschrieben:

»Meine Stimmung auf dieser Fußreise, am Morgen über die vom Tau befeuchteten, im Strahl der aufgehenden Sonne schimmernden Wiesen, in den heißen Stunden durch die Felder, wo die Schnitter ihre reifen Saaten mähten und in Garben banden, dann durch den dichtschattigen Wald, war eine so ganz besondere, fröhlich ernste, wie sie es mir nur auf wenig anderen Reisen gewesen ist. Alles erschien mir merkwürdig und bedeutend … Mit einer Art von Ehrfurcht erfüllte mich der Anblick der schön im Saaletal gelegenen Stadt Jena, dahin wir am andern Morgen kamen … Da waren wir denn in dem damaligen Athen von Deutschland … Bei jedem Haus hätte ich gern gefragt, welch ein berühmter Mann darin wohne; ich lauschte, so viel ich’s vermochte, auf alle Gespräche der Vorübergehenden, weil mir hier in Weimar alles des Aufmerkens wert schien«

Die Ankunft in Weimar habe sofort das alte Gymnasium in Greiz verdrängt. Schubert sei von der Atmosphäre in Weimar begeistert gewesen. Obwohl der Vater andere Pläne mit ihm hatte, habe er mit Hilfe seiner erwachsenen Schwestern den Vater überreden können, und wechselte nach Weimar. Über den Direktor des Gymnasiums, Karl August Böttiger, der auch Griechisch und Latein lehrte, äußerte er sich auch nach 60 Jahren noch voll des Lobes. Die Lernbedingungen seien sehr gut gewesen. Zudem habe die Altherzogin Anna Amalia halbjährlich die besten Schüler empfangen und sie ermuntert. Der Besuch von Konzerten und Theateraufführungen am Weimarer Hof sei für alle Gymnasiasten, wie auch für die Jenaer Studenten, kostenfrei gewesen.

Schubert habe in dieser Zeit nach einer Hufelandschen Diät gelebt, viel Gemüse gegessen und auch im Winter in der Ilm gebadet. Morgens sei er um 5 Uhr aufgestanden, um noch vor den ersten Lehrveranstaltungen klassische Texte lesen zu können.

Das beeindruckendste Erlebnis in Weimar sei aber die Begegnung mit Johann Gottfried Herder gewesen. Dieser war in seiner Funktion als Generalsuperintendent auch Oberaufseher des Weimarer Gymnasiums. Herder korrigierte selbst die eingereichten Abschlussarbeiten der ältesten Schüler. Schubert hatte ein naturphilosophisches Thema gewählt. Er wollte nachweisen, dass die Natur ein lebendiger Organismus sei, wie der menschliche Körper. In seinen Erinnerungen beschreibt er die Rückgabe der Arbeiten durch Herder:

»Die Tage der öffentlichen Schulprüfungen waren gekommen, und es war alles nach Wunsch vorüber gegangen; jetzt kam auch der letzte, der für die fleißigeren, ernsteren Schüler alle, auch für mich ganz besonders, ein Tag der Erwartungen war. Wir standen in dem großen Prüfungssaale, hinter den Schranken beisammen, ein Diener legte auf den Tisch jenseits der Schranken das Gehäuse unserer schriftlichen Arbeiten. Der Mann trat ein, den ich nie ohne tiefe Ehrfurcht ansehen konnte; er setzte sich auf seinen Richterstuhl. Es war Herders Weise, immer zuerst in einigen tief eindringenden ernsten Worten uns daran zu erinnern, warum wir jetzt hier seien, und an Das uns zu mahnen, was wir sollten, und was er in Absicht auf uns und unsere ganze Schule von uns wolle.« Eine Arbeit nach der anderen habe Herder an die Schüler zurückgegeben. Die besten Texte wurden zuerst mit einem Kommentar bedacht. Die schlechteren übergab er schweigend. Der junge Schubert habe vergeblich gewartet, schon sei ihm das Herz in die Hose gerutscht. Doch habe Herder zu einem Papierbündel gegriffen, das er zur Seite gelegt hatte: »Schubert, wo ist er? Er trete hervor … In Ihrer Arbeit«, so ungefähr habe er gesagt, »finde ich mehr als in den anderen, eigene Gedanken und dabei einen rühmlichen Fleiß. Gehen Sie weiter auf diesem Wege. Ein redliches Forschen bleibt niemals ohne seinen Lohn, auch Sie werden zu einem guten Ziele kommen.«

Herder habe also eigene Gedanken und Fleiß als die wichtigsten Eigenschaften eines guten Schülers angesehen.

Aus heutiger Sicht könne man vielleicht die Wertigkeit der Schubertschen Arbeit kaum noch einschätzen. Aber in dieser Gymnasiasten Arbeit sei ein Thema aufgegriffen worden, das viele Wissenschaftler bis heute nicht verstünden.

Bereits Ostern 1799 verließ Schubert Weimar. Er wanderte zunächst zu seinen Eltern nach Hohenstein. Nach Ostern begann er, wie in der Familientradition festgelegt, ein Theologie-Studium in Leipzig. Im ersten Semester durfte er die Fächer noch frei wählen. Mathematik, Chemie, Biologie, Zoologie, Philosophie … Als der Vater etwas irritiert nachfragte, antwortete Schubert, dass Herder gesagt habe, diese Fächer vertrügen sich sehr gut mit Theologie.

Seit Jena lebte Schubert nach der so genannten »Brownschen Diät« und unternahm lange Wanderungen. Im Sommer stand er morgens um 3.00 Uhr auf, im Winter um 4.00 Uhr.

Mit Hilfe seiner Schwestern erwirkte Schubert vom Vater die Erlaubnis in Leipzig zur Medizin wechseln zu dürfen.

An Emil Herder schrieb Schubert aus Leipzig: »Jetzt ein Vorschlag: damit wir unserm alten Vorsatz treu auch bei wissenschaftlichen Arbeiten, immer ein gemeinschaftliches Werk miteinander treiben, so lege dich doch … vorzüglich auf Zergliederung von Pflanzen. Wie wenig ist doch hierin getan. …Mich dünkt ich sehe ein neues System der Pflanzen … mit dem großen System der gesamten [?]  durch Zergliederung aufgestellt werden. Welches Verdienst! auch hierin zur nähern Erkenntnis des großen Gesetzes beigetragen zu haben! Du Emil! hast dir ein ganzes Naturreich, dessen Wohltäter du werden willst erwählt, lerne es kennen! Mir hat meine Kunst das andre Naturreich, die Tiere angewiesen. Wohlan! ich will den besten Teil meines Lebens der Kenntnis ihres inneren Baues und der Gesetze ihrer Organisation schenken. Ich Zergliederer u. Physiolog der Tiere! Du Zergliederer u. Physiolog der Pflanzen! Wenn wir dann einmal brüderlich die Ausbeute unserer Arbeiten verbinden, so können wir ein schönes Ganzes, (einen Tempel dem großen Gesetz) daraus bauen. Ich will dir künftig einmal sobald er zur gehörigen Reife gediehen ist den Plan, nach dem wir gemeinschaftlich arbeiten wollen schicken. Ohne Tätigkeit ist ja das Leben ein unerträglich langweiliger Traum, und die ganze schöne Welt wird einem zum stehenden, stinkenden Pfuhl. Wer Kraft unter der linken Brust in sich arbeiten fühlt, die nicht bloß mit dem bisschen Broterwerb zufrieden ist, der erwähle sich früh ein Werk oder die Kunst die er nach einem festen Plan bearbeitet.«

Schubert teilte in diesem Brief seinem Freund noch ein weiteres Ziel mit: »Ich bereite mich jetzt schon völlig vor einen Lieblingstraum meiner ganzen Jugend (vom frühesten Knabenalter an) zu verwirklichen, nämlich als Schiffsarzt mir die große Welt zu besehen. … Ich erlerne jetzt mit redlichem Fleiß die arabische Sprache, die mir in einem großen Teil von Afrika (an d. ganzen Nordküste bis hinab in die Wüste Sahara), Asien (an d. ganzen Westküste) u. auch zum Teil v. Europa sehr wichtige Dienste tun kann. In der Lehre von den Krankheiten pflege ich schon jetzt auf die Seekrankheiten mein vorzügliches Augenmerk zu richten. Meine Erholungslektüre sind Reisebeschreibungen, geographische Werke und fremde Sprachen.«

Das Vorbild Schuberts war zu dieser Zeit schon Alexander von Humboldt.

In der Tat beherrschte Schubert damals mindestens sechs lebendige Sprachen perfekt. Aber Leipzig gefiel ihm nicht. Er wollte in eine andere Stadt wechseln. Seine Freunde strebten nach Halle. Es kam aber anders. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Schubert, dass er kurz vor Weihnachten 1800 in einer Zeitschrift einen Artikel über Wilhelm Ritters Versuche und Beobachtungen der Wirkung des Galvanismus auf Nerven des lebenden menschlichen Körpers gelesen habe. Noch am gleichen Abend habe er seinen Freund Friedrich Gottlob Wetzel überredet, sofort in Richtung Jena loszuwandern. Sie kamen aber in dieser Nacht nur bis Weißenfels. Am anderen Tag seien sie endlich in Jena eingetroffen: »Sahen und sprachen Ritter, hörten vor allem Schelling, und die Wahl war für Jena entschieden.«

In einem Brief an Emil Herder vom 2. Februar 1801 las sich die Episode etwas anders: »Kurz vor Weihnachten hörte ich, dass Ritter in Jena das Wasser wieder in seine alte Ehrenstelle unter den einfachen Elementen eingesetzt hätte, ich lief sogleich mit meinem Freund Wetzel noch abends um 8 Uhr von hier weg, um in Jena selber zu hören, was an der Sache sei; aber ob wir gleich mehrere Tage in Jena warteten, war doch Ritter nicht ein einziges Mal zu Hause zu finden, wir mussten unverrichteter Sache wieder abziehen.« Die Entscheidung für Jena war für Schubert jedoch dem Anschein nach bereits vor der Reisen gefallen.

Etwas Besonderes muss Jena damals schon gewesen sein. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Schubert: »Wer zu meiner Zeit in Jena in einer späten Stunde des Nachmittags über den Marktplatz ging, der konnte da einem Zusammenlaufe der Studierenden begegnen, der so zahlreich als zu keiner andern Stunde des Tages war. Nicht das Festgelage irgend einer Landsmannschaft, nicht die Versammlung der Angehörigen einer einzelnen Fakultät konnte der Grund solches Zusammendranges sein, denn man sah da Jünglinge aus den verschiedensten Landschaften beisammen, mit den Theologen zugleich Juristen und Mediziner, unter ihnen auch gereiftere Männer, welche den Lauf der akademischen Studien längst zu-rück-gelegt hatten, oder von anderem Stande waren als dem der Gelehrten. Nur die Fremdlinge konnten fragen: was gibt es hier? Jeder, der nur seit wenigen Tagen an der Universität gelebt hatte, der wusste es: jetzt ist die Stunde, in welcher Schelling seine Naturphilosophie liest.«

Am 17. Januar 1802 schrieb Schubert aus Jena an Emil Herder: »Ich habe dieses halbe Jahr bei Schelling gehört, und will dir einmal mündlich davon erzählen. Anfangs verstand ich kein Wort davon, und ging blos aus Kuriosität hinein, um zu sehen, wie ich mich darin ausnähme, wenn ich vom Vortrag kein Wort verstände? Zuletzt aber bekam ich doch helle Punkte darin, und jetzt fasse ich alles so ziemlich.«

Mit dem nur fünf Jahre älteren Friedrich Wilhelm Joseph Schelling verband Schubert schließlich eine lebenslange Freundschaft, die er in seinen Erinnerungen auch benennt. Weniger gut erinnert er sich an den nur vier Jahre älteren Wilhelm Ritter, obwohl dieser ihn in Jena bis hin zum Dissertationsthema »Die Anwendung des Galvanismus auf Taubgeborene« vielleicht am meisten beeinflusste.

In einem Brief an Emil Herder hatte er die Beantwortung dessen Fragen nach dem Galvanismus angekündigt: »Schicke dir einen Aufsatz darüber gleich mit, aber ich habe groß Verlangen ihn erst deinem Vater zu zeigen, du sollst ihn dann von Weimar aus erhalten. Ich habe mich jetzt in die vergleichende Anatomie vergraben (ein Fach in dem ich einmal groß zu werden hoffe) vielleicht bekommst du in dem genannten Aufsatz auch etwas was dir ohngefähr die Art zeigen kann wie ich sie bearbeite. Freilich behalte ich nicht eben sonderlich viel Zeit dazu übrig, denn künftige Michaelis will ich schon Doktor werden, und ein paar Wochen darauf mich adeln lassen. Die Übersetzung des Darwinschen Werkes wird mir auch noch manchen Abend wegnehmen, da mir besonders noch der bei weitem größte Teil dieser Arbeit übrig ist. Indes macht mir diese Beschäftigung viel Vergnügen. Ich hoffe zu Ostern wird ein Teil davon erscheinen können (vielleicht auch erst beide zusammen zu Michaelis.) Ich möchte es je eher je lieber enden, denn ich brauche Geld.«

Mit dem »Darwinschen Werk« meinte Schubert den zweibändigen Naturhymnus »The Botanic Garden«, den Erasmus Darwin, ein promovierter Mediziner, und Großvater von Charles Darwin, in englischer Sprache veröffentlichte. Herder hatte Schubert zu einer angemessenen Übersetzung angeregt. Herder hielt die Poesie für eine mögliche Brücke zwischen Glauben und Naturwissenschaft. Schubert gelang tatsächlich eine Übersetzung. Karoline Herder versuchte bei der Suche nach einem Verleger zu helfen. Eine Veröffentlichung kam aber nicht zustande. Das Manuskript ist leider bis heute nicht aufgefunden worden.

In Jena war Schubert immer noch von dem Forschungsreisenden Alexander von Humboldt begeistert. Der Jenaer Orientalist C. B. Ilgen stand mit Humboldt im Briefwechsel. Bei ihm erfuhren die jungen Leute, wie die Reisen verliefen.

Bereits 1803 verließ der frischgebackene Doktor Jena, heiratete, und ließ sich als Arzt in Altenburg nieder. Hier trat er aber weniger als Mediziner hervor, sondern verdiente das notwendige Geld als Übersetzer. Der Altenburger Buchhändler Dr. Johann Christian Rink gab ein Reihe mit Übersetzungen aus dem Italienischen, Französischen und Provensalischen heraus. Zum Gelderwerb schrieb Schubert auch einen zweibändigen Roman, der 1804 anonym unter dem Titel »Die Kirche und die Götter« im Verlag von Ferdinand Dienemann in Penig erschien.

In der Woche vor Pfingsten 1805 gab Schubert seine Arztpraxis in Altenburg auf und wanderte gemeinsam mit seiner Frau über Waldenburg nach Hohenstein. Dort verbrachten sie mit Eltern und Geschwistern das Pfingstfest. Dann wanderte das Ehepaar nach Freiberg weiter. Den letzten Teil der Strecke nahm man aber eine Kutsche, des besseren Eindrucks in Freiberg wegen. Schubert wollte bei Abraham Gottlob Werner Geognosie und Mineralogie studieren.

In seinen Lebenserinnerungen schreibt Schubert: »Das Verlangen aber, Werner in Freiberg zu hören und sein recht treuer Schüler zu werden, hatte mich nicht erst seit gestern, sondern schon seit Jahren ergriffen. Mir lag es an, die Natur, die ganze Schöpfung der Sichtbarkeit nicht im einzelnen Stückwerk, sondern als ein göttliches Ganzes anzuschauen, so wie Herder und Schelling dieselbe mit geistigem Blicke erfasst hatten.«

Doch als Schubert in Freiberg ankam war Werner nicht da. In der Wartezeit schrieb Schubert an seiner Naturphilosophie. Im Herbst 1805 begannen endlich die Vorlesungen Abraham Werners. Schubert gibt in seinen Lebenserinnerungen eine Beschreibung seines neuen Lehrers: »Es hat wenige Männer der Wissenschaft gegeben, welche innerlich wie äußerlich so ohne Aufhören beschäftigt und tätig waren als Werner. Auch wenn man, wie dies je zuweilen geschah, schon am frühen Morgen zu ihm kam, wenn man aus der zutraulichen Mitteilung des Dieners es wusste, dass sein Herr (Abraham Werner) einen großen Teil der Nacht mit der Ausarbeitung der Grubenberichte, in Beziehung auf die Inspektionsgeschäfte des vorhergehenden Tages, zugebracht habe, und dass er nun beim Frühstück ausruhe, traf man ihn – denn keiner seiner näheren Bekannten durfte abgewiesen werden, – bei einer neuen Art des Ausruhens an, die ein Anderer nicht so würde genannt haben. Denn dieser seltene Geist blieb bei seinem eigentlichen, großen Tagwerk der Mineralogie und Gebirgskunde nicht stehen, sondern erhob sich in den Stunden seines Ausruhens von jenem Tagwerke gern von der innersten, von der Urgeschichte der Erde und ihres festen Landes zu dem Gebiete der innersten, der geistigen Urgeschichte ihres Bewohners, des Menschen. Und so fand man ihn etwa, so in früher Morgenstunde bei einer Tabelle sitzend, die er mit eigner, fleißiger Hand entworfen hatte, und jetzt zu vervollständigen im Begriffe stand; neben ihm lagen Wörterbücher der verschiedensten europäischen und asiatischen Sprachen. Der freundliche Mann ließ gerne Jeden, den er für solche Belehrung empfänglich hielt, an der Freude seiner Ausruhestunden Teil nehmen. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er damit umgehe, ein polyglottisches Wörterbuch, nach einem großartig angelegten Plane, und ein allgemeines Etymologicum zu schreiben: jene Tabellen, in denen er die ihrem Sinne nach verwandten Wurzelwörter der vornehmsten, bekannten Ursprache, so wie anderwärts gleichlautende zusammengestellt hatte, sollte zu diesem freilich nie vollendeten Werk die Grundlagen bilden.«

Schubert zählte in seinen Lebenserinnerungen einige Mitstudenten bei Abraham Werner auf: August Wolfgang von Herder, Wilhelm August Lampadius, Ralenbeck, Karl von Raumer, Moritz von Engelhardt, Beltheim, von Charpentier, von Scharner, Rudolf von Przystanowski.

Im Oktober 1806 zog Schubert mit seiner Frau und der in Freiberg geborenen Tochter nach Dresden. Dort wurde er von seinen Freunden erwartet. »Außen vor dem Tore erwartete uns schon eine kleine Gesellschaft der lieben Freunde: Köthe vor allen, Wetzel mit seiner Frau, Karl Christian Friedrich Krause, Hartmann und Dippold. Köthe hatte für uns eine gemeinsame Wohnung gemietet, darin er selber bereits in dem einen der Zimmer eingezogen war.«

Entgegen seinen Lebenserinnerungen war diese erste Wohnung im Hause der Familie Kügelgen in der Altstadt. Erst später zog man in die Neustadt. Die Freundschaft mit dem Maler Gerhard von Kügelgen prägte Schubert ebenfalls sein Leben lang. In seinen Erinnerungen habe Schubert einige Stammgäste des Hauses Kügelgen des Jahres 1808 aufgezählt: Adam Oehlenschläger, Moritz von Engelhardt, Karl von Raumer, Karl Ludwig Fernow, Johann Gottfried Seume, Thiersch.

Mit Caspar David Friedrich, Julius Schnorr von Carolsfeld und Peter Cornelius war Schubert in Dresden ebenfalls befreundet. Aber auch mit Heinrich von Kleist und Adam Müller verband Schubert bald eine Freundschaft. Kleist wurde zuerst von der Arnoldischen Buchhandlung in Dresden verlegt. Schubert trat um diese Zeit in den Freundeskreis Kleists ein. Er nannte hier die Namen Rühle von Lilienstern, von Pfuel und Adam Müller: »Diese drei bildeten den Mittelpunkt jenes Kreises. Auch mir tat sich derselbe auf und ich besuchte denselben öfter, gab auch einige kleine Arbeiten in die Zeitschrift ‹Phöbus›, welche damals Kleist und Adam Müller gemeinsam redigierten.«

Aus dieser Bekanntschaft heraus sei Schubert von Adam Müller zu Abendvorträgen vor einem ausgewählten Publikum im Palais Carlowitz eingeladen worden: »An einem gewissen Donnerstag Abend im Spätherbst, so war es öffentlich versprochen, sollte ich mich zum ersten Male in dem großen Saale des v. Carlowitzschen Hauses bei Kerzenlicht vernehmen lassen.«

Schubert hielt den Winter 1807/1808 im Wechsel mit Adam Müller Vorträge unter dem Titel »Die Nachtseiten der Naturwissenschaften«. Dabei kommen im seine umfangreichen Kenntnisse in vielen Disziplinen zu Hilfe. Zudem vermag er dem Ganzen einen poetischen Ton zu verleihen. Adam Müller nannte ihn nach einem damals bekannten altschottischen Dichter den »Ossian der Naturwissenschaften«. Schubert sah seine Zeit vor Anbruch einer neuen »Morgenröte«. Er schränkte in seinem Vortrag jedoch ein: »Aber vor der Morgendämmerung geht das ‹kalte Wehen› der letzten Nachtwache vorher, und verlassen von der mütterlichen Schwinge, erstarrt auf einigen Momenten noch das zarte Geschlecht. Unter dem Scepter der ehernen Zeit, als das kühne Volk die Stimme in seinem Busen verstehen gelernt, und der eigne Wille sich der Stimme der Mutter widersetzt, sieht die Natur mit traurigem Unwillen den Geist des Menschen sich ihren Armen entwinden, und ein andres Gesetz, eine andre Heimat als die Erde selber suchen. Da schweigt die Stimme der kühnen Begeisterung, der Mensch versteht die Natur nicht mehr, und durch sein eignes Streben, verstoßen aus der Mitte der seligen Anschauung, ist die alte Weisheit, nur noch in der Asche glimmend, ihrem Untergange nahe. Es verleugnen nun die Herrscher die alte Bestimmung, und die vorhin ein Vorbild der Ergebung und heiligen Anschauung, wird der König als Eroberer, ein Vorbild des eigenen Willens. Es gefällt dem Menschen, die Erde, welche vorhin anzubauen heiliges Gesetz war, zu zerstören, der Fruchtbarkeit seines Geschlechts, vorhin als Symbol des Göttlichen verehrt, durch blutige Kriege Einhalt zu tun, und wie in der alten Zeit das Einzelne vollkommen dem Bunde mit dem ganzen sich ergeben, so kämpft diese nachfolgende, dass die Natur, das das ganz Geschlecht dem Einzelnen untergeordnet sei.

In dem dumpfen Kampfe, noch ohne Bewusstsein, ist die hohe Kultur, welche der ursprüngliche Zustand des Menschen war, bei ganzen Völkern untergegangen, und in entarteter Rohheit, harren diese noch jetzt des neuen Morgens Andere sind in gewaltigem Unglück früher gereift, und wir sehen den harten Kampf und die wüste Zerstörung jener Zeit, nirgends so mächtig wüten, als im westlichen Asien und südlichen Europa. Da wird plötzlich, aus den Trümmern der alten Zeit, wie die Stimme eines Träumenden, die Sehnsucht des Menschen nach dem höheren und göttlichen Ideal vernommen, und die zerstörte Welt von dem ersten matten Schimmer des neuen Morgens erhellt. Einzelne Weise, welche wie Wächter auf der Zinne, die Stunden der Nacht bewahren, verkünden die Nähe des Morgenrots.«

Gotthilf Heinrich Schubert sei über Nacht populär geworden. Aber er habe als junger Wissenschaftler in Sachsen keine Anstellung bekommen und seine Familie hier nicht ernähren können. So sei es Schelling gewesen, der ihm im November 1808 einen rettenden Brief sandte: In Nürnberg sei der Posten eines Gymnasiums-Direktors frei, er habe Schubert vorgeschlagen. Schubert nahm sofort an. In den ersten Tagen des Jahres verließ er Dresden und Sachsen für immer. In Bayern nahm man den universellen Denker gut auf. 1814 veröffentlichte er in Bamberg eine »Symbolik des Traumes«, die unter Künstlern und Literaten als Sensation angesehen wurde. Auch Sigmund Freud schätzte noch diese Schrift. 1830 folgte ein zweites Hauptwerk, eine zweibändige »Geschichte der Seele«.

Anders als Alexander von Humboldt beschritt Schubert den Weg der Erforschung unseres Inneren, unserer Psyche. Daneben schrieb Schubert unzählige Lehrbücher über Naturgeschichte, die zu seinen Lebzeiten teilweise 25–30 Auflagen erreichten. Erzählungen und Romane folgten.

1819 erhielt Schubert eine Professur in Erlangen. 1826 wurde er auf einen Lehrstuhl nach München berufen. Er wurde in mehrere Akademien berufen, zum Geheimrat ernannt, in den Adelsstand erhoben, Prinzenerzieher und Berater des bayerischen Königshauses.

Schubert starb am 30.6./1.7.1860 auf dem Landsitz seines Schwiegersohnes in der Nähe von München. Seine Beisetzung vereinte noch einmal nahezu alle Vertreter des Geisteslebens seiner Generation.

Das sachkundige Freiberger Publikum war dem Anschein nach vorgebildet. Gotthilf Heinrich Schubert war in Freiberg nicht unbekannt. Dennoch war man von der universellen Bildung der Elite des 19. Jahrhunderts überrascht. Eichler hob noch einmal hervor, dass Herder seinen Schülern keine simple Nachahmung abverlangte, keine Bekenntnisse einforderte, sondern die Suche nach einem eigenen Lebensweg empfahl.

Ein Zuhörer verwies darauf, dass Schubert mit Wilhelm August Lampadius in Kontakt geblieben sein muss, denn er habe dessen moderne Schreibweise chemischer Elemente in seinen Werken übernommen.

Ein Zuhörer sah Schuberts Werk als Fortsetzung des Werkes »Kosmos« von Alexander von Humboldt. (Es wunderte mich, dass Eichler hier nicht widersprach. So wie man die moderne Sprachphilosophie in Deutschland aus Unkenntnis gern mit dem unproblematischen Wilhelm von Humboldt beginnen lässt, so weiß heute kaum ein Wissenschaftler, dass Herder 1784 den ersten Bandes einer Menschheitsgeschichte vorlegte, die mit dem Satz beginnt »Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen«, in der die naturwissenschaftliche Sicht auf das Werden unserer Erde und die religiösen Schöpfungsmythen durch Poesie vermittelt werden.)

Eichler nutzte jedoch wenigstens die Gelegenheit darauf zu verweisen, dass Herder im 19. Jahrhundert sehr populär war. Hegel, Marx und Nietzsche schrieben Passagen seiner Texte ab, ohne die Quellen anzugeben.

Herder habe auf die Bildung einer wissenschaftlichen Schule verzichtet, weil dies eine Behinderung der wissenschaftlichen Kommunikation darstelle. Ruhm und Ehre sei Herder das Ergebnis von Zufällen gewesen. Der Lohn der Arbeit sei für den Wissenschaftler die Arbeit selbst.

Zudem habe Herder eine Vorstellung von Philosophie vertreten, die auf das Individuum zielte. Kurz vor seinem Tode übermittelte Karoline Herder in einem Brief, Herders Gedanken, dass, wenn der unselige Streit mit Kant vorbei sei, wieder jeder vernünftige seine eigene Philosophie haben werde, wie er seine eigene Art zu leben habe. Es gäbe eben kein allgemeinen Regeln, sondern nur allgemeine Voraussetzungen, die man sich aneignen und unter seinen Bedingungen anwenden müsse.

Eine Zuhörerin fragte darauf, ob denn jeder Mensch ein Philosoph sein könne. Eichler antwortete, dass dass im Herderschen Sinne so sei. Die akademische Philosophie sei allein wegen ihrer überspezialisierten Fachsprache für den normalen Menschen bedeutungslos geworden. (Der Präzedenzfall war für Herder übrigens, das erwähnte der so genannte Herder-Kenner Eichler wieder einmal nicht, Kants erfundene Kritizismus-Sprache, die eine öffentliche Diskussion ausschloss.) Die heute auf den ersten Blick plausible und verständliche Ratgeber-Literatur verursache letztlich aber auch Enttäuschungen, weil eben allgemeine Regeln abstrakt seien, und das Leben dagegen konkret.

Es bleibe eigentlich nur der von Herder angedeutete Weg. Der junge Schubert habe in Leipzig auf Herders Anregung mit der Lektüre von Plato, Salomo und dem Neuen Testament begonnen.

Zum Abschluss dankte Dr. Thiel dem Vortragenden und überreichte einen Band zum 150. Jubiläum der Gründung des Freiberger Altertumsvereins.

Johannes Eichenthal

 

 

Information

www.museum-freiberg.de

 

Andreas Eichler: G. H. Schubert – ein anderer Humboldt. ISBN 978-3-937654-35-5  VP 14,90

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