Reportagen

Verlagerter Krieg

»Eine neue Sicht auf den totalen Krieg« – so überschrieb die Lokalausgabe der Chemnitzer »Freien Presse« für Aue-Schwarzenberg am 18. November einen Artikel über den Dokumentationsband »Verlagerter Krieg«. Heimathistoriker der Region Chemnitz-Erzgebirge stellen in diesem Band die Ergebnisse dreijähriger Forschungsarbeit vor. Der theoretische Ausgangspunkt erscheint im Buch an letzter Stelle: eine Rezension über das 2011 im Christoph Links Verlag erschienene Buch von Rolf Dieter Müller: »Der Feind im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion«. Der renommierte Forscher des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes belegt seine These, dass Hitler gegen den Widerstand der Führung seiner eigenen Partei und den der Reichswehrführung ab 1933 einen Krieg gegen die UdSSR vorbereitete, und dass gleichzeitig von der Machtübergabe 1933 an das gesamte politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche Leben Deutschlands auf diesen Krieg hin ausgerichtet wurde.

Der Historikerarbeitskreis, der sich regelmäßig beim Heimatverein in Niederfrohna trifft, arbeitet seit 1994 an einer Sozialgeschichte der Region zwischen 1939 und 1960. Die Kämpfe am Kriegsende, der Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, die Wiedererrichtung der kommunalen Selbstverwaltung, der Alltag während des Kriegs, Bodenreform und LPG-Gründung, die Ankunft der Flüchtlinge, Evakuierten und Vertriebenen, die Reparationsleistungen waren Themen bisheriger Forschung und Dokumentation.

Am 24. November 2011 trat Jens Hummel in der Kantine der Schwarzenberger Firma Kuka System GmbH vor das Publikum, das auf Einladung des bekannten Schwarzenberger Buchhändlers Michael Schneider gekommen war.

Jens Hummel ist der Autor des einleitenden Artikels über das Rüstungskommando Chemnitz. Aus den Wehrkreisen entstanden in den 1930er Jahren zunächst die Rüstungsinspektionen und später die Rüstungskommandos. Dieses Ämter hatte die Aufgabe die Vergabe der Rüstungsaufträge zu koordinieren und zu überwachen. Bis 1938 wurde Sachsen als »Grenzland« angesehen und kaum mit Rüstungsindustrie versehen. Im Laufe des Kriegs wurde zunehmend Rüstungshochtechnologie nach Sachsen verlagert, um der Reichweite alliierter Bomber zu entgehen. Zugleich mussten mit dem Fortschreiten des Kriegs Zulieferer in Sachsen für die Rüstungsgroßprojekte gefunden werden. Das Rüstungskommando war die Institution, die die Übernahme von Rüstungsaufträgen in zivilen Firmen anordnete. Im Weigerungsfall konnte der Firmeninhaber abgesetzt und durch einen kommissarischen Leiter ersetzt werden. Am Kriegsende war kaum noch zivile Produktion in der Region vorhanden. Nahezu alle mittelständigen Firmen mussten auf diese oder jene Weise für Rüstungs-Großprojekte zuliefern.

Jens Hummel machte auf nüchtern-sachliche Weise die Entstehung und die Struktur des Rüstungskommandos Chemnitz deutlich. Außenstellen der Behörde waren in Aue und Plauen. Ein einzig erhaltenes Foto aus dem Jahre 1943 zeigt den Kommandeur des Rüstungskommandos Chemnitz Oberst Paul Spangenberg bei einem Besuch in einem Unternehmen. Die Spannung der Situation ist sichtbar. Der Unternehmer würde eigentlich gern unter stabilen Bedingungen zivile Produktion betreiben und der Oberst muss die Befehle seiner Vorgesetzten umsetzen. (Oberst Spangenberg wurde 1945 verhaftet und in das sowjetischen »Speziallager Mühlberg« gebracht. Dort starb er in der Folge von Unterernährung und Entkräftung.)

Jens Hummel verwies unter anderem darauf, dass auch die Rüstungszulieferung unter größter Geheimhaltung erfolgte. Die Firmen erhielten Codenummern, die ebenfalls zur Produktkennzeichnung angebracht wurden. Es wurden Scheinfirmen angelegt und Scheinadressen eingerichtet. Über die Buchstaben- und Zahlencodes kann heute noch festgestellt werden, was der jeweilige Betrieb produzierte.

Günter Eckhardt berichtete zunächst über eine Veröffentlichung in der Tageszeitung »Erzgebirgischer Volksfreund« vom 27. September 1933. In einem Artikel wird von der Wiederaufnahme des Abbaues von Nickel, Kobalt, Wismut und Uran berichtet. Es sei, so Eckhardt, selten, dass das Wort »Uran« ausgesprochen wurde. In der Regel werde es in Artikel und Dokumenten umschrieben. Nachdem er über die Baugeschichte einer Wasseraufbereitungsanlage, die dem Anschein nach völlig überdimensioniert war, aber mit 100% Förderung errichtet wurde, berichtete, kam Eckhardt zur Firma Friedrich Volckers. Dies Firma befand sich einst auf dem Grundstück der heutigen Gastgeberfirma. Eckhardt berichtete, dass hier 1938 bereits die Karosserie des VW-Käfer im Tiefziehverfahren hergestellt werden konnte. Seinerzeit eine Spitzentechnologie. Aufgrund seiner Bergbau- und Ortskenntnisse vermochte es Eckhardt eindrucksvoll seine These auszubreiten, dass ein Luftschutzkeller der Firma Volckers 1944 durch ein zweites unterirdisches Bauwerk ergänzt wurde. Dieser zweite Raum sei unter größter Geheimhaltung errichtet worden. Der Raum von 30 Meter Breite und 90 Meter Länge könne der Verlagerung der Produktion unter Tage gedient haben.

Anwesende Kritiker meinten, dass die Aufnahme von Hochtechnologieproduktion in einem unterirdischen Raum problematisch sei. Energiezufuhr, Belüftung, Sanitäranlagen – das sei alles nicht im Hau-Ruck-Verfahren machbar. Eckhardt entgegnete, dass es höchstwahrscheinlich nicht zur Aufnahme von Produktion gekommen sei. Allerdings vermute er, dass hie am Kriegsende Einlagerungen erfolgten, die bis heute nicht entdeckt seien. Der Beweis für diese These könnte nur praktisch erfolgen. Dafür fehlen aber die Voraussetzungen.

Jens Hummel und Günter Eckhart vertreten zwei Generationen der Heimathistoriker im Arbeitskreis des Heimatvereins Niederfrohna. Im Oktober 2011 wurde Jens Hummel in Dresden für seine Geschichte von Glauchau mit dem Titel »Schwere Jahre« ausgezeichnet und prämiert.

Im vorliegenden Band sind weitere Beiträge zu finden. Werner Ulbrich berichtet über Rüstungsproduktion in Glauchau. Horst Kühnert berichtet über den Einsatz von Zwangsarbeitern in der Rüstungsproduktion in Mittweida. Gerhard Hofmann berichtet über das Rochlitzer Zweigwerk der Pittler AG. Der Hauptgesellschafter habe in den USA gesessen. Aufsichtsratsvorsitzender sei Hermann Joseph Abs gewesen. Auch in dieser Firma seien in Rochlitz ungarische Jüdinnen zur Zwangsarbeit eingesetzt worden.

Christoph Ehrhardt berichtete, wie ein Textilbetrieb in Grüna gezielt zur strategischen Nutzung einheimischer Flachs-Vorkommen in der so genannten »Wehr-Wirtschafts-Förderung« aufgebaut wurde.

Es folgt ein Interview mit Reiner Schlick. Die Textilmaschinenbau-Firma seines Vaters wurde nach 1945 unter dem Vorwand der »Rüstungsproduktion« enteignet, obwohl hier auch nur Zulieferer-Aufträge erfolgten. In einem weiteren Interview berichtet Werner Dietz vom Zusammentreffen mit dem Schwarzenberger-Waschmaschinenfabrikanten Friedrich Emil Krauß 1948 im sowjetischen »Speziallager Buchenwald«. Krauß war ebenfalls unter dem Vorwurf der Rüstungsproduktion verhaftet worden. Nach Recherchen von Jens Hummel hatten die Kraußwerke im Codierungssystem von 1936 den Code »404«. Im Buchstabencode von November 1940 folgte dann der Code »ato««. Ab 1941 sei die Herstellung von Patronen- und Kartuschenhülsen in den Kraußwerken nachweisbar. An 1944 seien die Kraußwerke in das Me-262-Programm eingebunden gewesen. (Das Programm wurde bekanntlich nicht realisiert.)

 

Kommentar

Die Überschrift der Freien Presse »Eine neue Sicht auf den totalen Krieg« ist nicht übertrieben, wenn man sie auf die Besonderheiten der Region bezieht. Im Vorwort des Forschungsbandes wird berichtet, dass man drei Jahre an dem Thema arbeitete, weil noch heute mehrere »Diskursschichten« über der Thematik liegen. Beginnen wir beim Mittelstand. Über Jahrhunderte waren in Sachsen, wie in Europa, kleine und mittlere Familienunternehmen die Basis aller Wirtschaftsentwicklung. Große Unternehmen gingen aus dieser Schicht hervor und nach Ablauf ihrer Zeit wieder in sie ein. Die Stärke diese Basisschicht, der französische Historiker Fernand Braudel nennt sie »Civilization materielle«, besteht in ihrer dezentralen Vielfalt. Was heute immer noch als »Fortschritt« gilt, die Herausbildung von Großunternehmen, ist lediglich eine Spezialisierung unter Verlust der Grundlage. Rein wirtschaftlich gesehen wäre kaum ein heutiges Großunternehmen noch existenzfähig. Mittlerweile bezahlen die großen Wirtschaftsakteure kaum noch Steuern und werden gleichzeitig mit Fördermitteln alimentiert.

In der Weltwirtschaftskrise von 1929/32, ausgelöst durch einen Bankenkrise in den USA, zeigte sich, dass Monopole die Dominanz in der Wirtschaft übernommen hatten. Die Lasten der Krise wurden auf Familienunternehmen, Kommunen und Familien abgewälzt. Der Mittelstand hatte keine politische Interessenvertretung. In dieser Situation traten Redner der NSDAP wie Joseph Goebbels und Gregor Strasser in der Region auf, um dem Mittelstand den Schutz vor Konzernen und Banken anzubieten. Darauf erhielt die NSDAP in vielen Städten und Gemeinden der Region die Stimmen des ehemaligen »bürgerlichen Blocks«, der vor 1914 gegen die SPD gegründet worden war. Ende 1932 strich die NSDAP aber jenen Passus aus ihrem Programm, der die Einschränkung der Macht des Finanzkapitals behauptete. Die Hoffnungen des Mittelstandes wurden enttäuscht. Großbanken und international tätige Konzerne wurden zu Großsponsoren der NSDAP und bestimmten die Wirtschaftspolitik mit.

In der Vorbereitung des Krieges und erst recht unter den Bedingungen des Kriegsrechtes hatten mittelständige Unternehmer keine Wahl. Wenn sie die Übernahme von Rüstungsaufträgen ablehnten, wurden sie als Betriebsleiter abgesetzt. Im besten Fall durften sie ihren Betrieb nicht mehr betreten.

Wer nach Kriegsende auf eine Verbesserung der Lage des Mittelstandes gehofft hatte, der wurde abermals enttäuscht. Nicht nur große Konzern wurden in der sowjetischen Besatzungszone enteignet, sondern auch mittelständige Familienbetriebe. Hier lautete der Vorwurf vielfach »Übernahme von Rüstungsproduktion«. Man stützte sich auf einen Volksentscheid. Auf die Frage, ob man für »die Enteignung von Nazi- und Kriegsverbrechern sei«, hatte 1946 eine Mehrheit mit »Ja« geantwortet.

Unsere Interview-Beispiel zeigen, dass die Frage, wer denn ein solche Verbrecher sei, vor Ort oft der Willkür einzelner KPD-Funktionäre überlassen war.

Es wird aber auch deutlich, dass mit den Mittelständlern Schlick und Krauß die Inhaber internationaler Patente, erfahrene Führungspersönlichkeiten mit umfangreichen Wissen und hoher Kultur verhaftet und ausgeschaltet wurden. Der Mittelstand hatte über Jahrhunderte kulturelle Erfahrung beförderte und Innovationen hervorgebracht. Mit den Enteignungen mittelständischer Firmen wurden die Grundlagen sächsischer Kultur dauerhaft beschädigt. Die DDR war eigentlich bereits vor ihrer Gründung gescheitert.

Herbert Wehner machte Walter Ulbricht für diese verhängnisvolle Entwicklung verantwortlich. Ulbricht habe, so Wehner, nicht einmal Lenin gelesen, geschweige denn verstanden. Faktisch betrieb die KPD in Ostdeutschland eine sektiererische Politik. Sie beschädigte mit den Enteignungen der Mittelständler, denen Massenfluchten anderer Unternehmer in den Westen folgten, die Voraussetzungen für eine bürgerlich-demokratische Republik, die aber nach ihrem eigenen Programm 1945 auf der Tagesordnung stand. Die KPD-Funktionäre waren 1945 nicht auf aktuellem Stand ihrer eigenen Theorie. Man begriff nicht den Unterschied zwischen dem Familienunternehmer, der vor Ort ansässig ist, der selbst im Unternehmen arbeitet, der viele Arbeiter persönlich kennt und der sich in der Kommune engagiert, und den anonymen, heimatlosen, zentralistischen Konzernen. Walter Benjamin hatte in den 1920er Jahren geschrieben, dass der einzelne Aktionär einer Aktiengesellschaft nicht wirklich weiß, was mit seinem Geld gemacht wird und wo es eingesetzt wird. Die zentralistischen Führungsstrukturen der Konzerne gingen zudem, wie alle Zentralen, in ihren Entscheidungen stets von Informationsdefiziten aus: sie entschieden über Angelegenheiten, die sie nicht im Detail kannten. So entstehen beständig Folgen des Handelns dieser Unternehmen, die nicht abschätzbar sind. Zwischen 1939 und 1945 konnten Rüstungs-Großprojekte nur von international tätigen Aktiengesellschaften realisiert werden. (Die Geheimhaltung auf nationaler Ebene hätte man sich eigentlich schenken können.) Diese Strukturen waren 1945 das Problem, nicht die Familienunternehmen. Oft wird gesagt, dass Wirtschaft und Handel friedensstiftende Wirkung hätten. Aber ein Mann wie Samuel Huntington verwies darauf, dass die Wirkung von Wirtschaft ambivalent sei, wenn es um Macht, Rohstoffvorkommen und Einflusszonen geht.

Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges reichen bis in unsere Gegenwart. Kaum ein Erbe einer der traditionsreichen Familienunternehmen im Werkzeugmaschinenbau, im Textilmaschinenbau und in der Textilindustrie vermochte 1990 die Familientradition wieder aufzunehmen.

Den Autoren des Dokumentationsbandes, dem Buchhändler Michael Schneider und der Kuka System GmbH ist für den interessanten Abend zu danken.

Johannes Eichenthal

 

Information: Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkrieges. ISBN 978-3-937654-68-3  VP 9,50 €

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