Reportagen

KOMM INS OFFENE

Sehr geehrter Herr Eichenthal, Sie haben 2021 den zweiten Band der Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland herausgebracht. Es ist ein offene Geheimnis, dass Sie auch der Autor des ersten Bandes von 2019 sind, obwohl dort ihr Autorenpseudonym verwendet wurde. Sind Sie mit dem bisherigen Echo der beiden Bücher zufrieden?

Johannes Eichenthal: Wir erhielten viele dankbare Reaktionen von aktiven Lesern, die unser Buch tatsächlich als Anregung zum Wandern und Weiterdenken aufnehmen. Zudem sind in der Litterata und in anderen Zeitschriften mehrere Rezensionen erschienen, die einzelne Seiten der Reihe zustimmend hervorhoben. Die Buchreihe richtet sich an praktisch-tätige Menschen, die im bereits Bekannten nach dem noch nicht Erkannten suchen. Eine solche Lebenshaltung ist keine Frage des Alters, sondern des Geistes. Dazu laden wir zu einer literarischen Wanderung ein, besuchen Literaten, Architekten, Ärzte, Gärtner, Handwerker, Ingenieure, Juristen, Landwirte, Naturwissenschaftler, Theologen u.a., die zwischen den Jahren 1200 und 2000 in Mitteldeutschland lebten, an ihren ehemaligen Wirkungsstätten. Bisher kaum beachtet wurde, dass wir mit unserer Auswahl Vielfalt und Tiefe der literarischen Überlieferung hervorheben. Unser Ziel ist tatsächlich eine Vorstellung von diesem sprachlich-literarischen Überlieferungszusammenhang zu vermitteln. Aber das sieht man vielleicht erst, wenn man alle Kapitel gelesen hat.

Stammt die Idee der Reihe von Ihnen?

Johannes Eichenthal: Nein. Die Idee entstand aus dem Zusammenwirken von Volker Caysa (1957–2017) und Andreas Eichler (Jg. 1954). Beide sind Schüler des Leipziger Philosophiehistorikers Helmut Seidel (1929–2007). Seidel war ein Schüler des russischen Spinoza-Kenners Ewald Wasiljewitsch Iljenkow (1924–1979). Seidel und seine Generationsgenossen formulierten Ende der 1960er Jahre die Einsicht, dass man das kulturelle Erbe, die Überlieferung nur als Ganzes annehmen oder ablehnen kann. Wenn man es ablehnt, ist man ohne Kultur. Wenn man es annimmt, dann muss man mit der Widersprüchlichkeit des eigenen Erbes leben können. Seidel formulierte prägnant die Konsequenz: Nur wer seine Geschichte begreift, der hat eine Zukunft. Aber nur der, der eine Zukunft hat, kann auch seine Geschichte begreifen.

Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?

Johannes Eichenthal: Diese betrifft den inneren Zusammenhang unserer Darstellung, den „Geist“ der Überlieferung oder das, was wir Philosophie nennen. Zu langen Diskussionen mit meinem Chef Andreas Eichler führte meine Einsicht, dass Philosophie entweder Weisheit ist oder es ist keine Philosophie. Bis zum Jahre 1800 war die Philosophie als Weltweisheit eigentlich der Konsens. Auch Immanuel Kant (1724–1804) wollte in seinen Frühwerken ein „Weltweiser“ sein. Doch Kant reduzierte im „Streit der Fakultäten“ letztlich Philosophie auf „reine Vernunft“, auf den berechnenden Verstand, auf das bloß quantifizierende Denken, um die Vorherrschaft der Theologischen Fakultät an der Universität durch die Vorherrschaft der Philosophischen Fakultät zu ersetzen. Die „reine Vernunft“ setzte sich tatsächlich an den deutschen Universitäten durch. Wenn Sie ein Lexikon aufschlagen, dann lesen Sie noch heute unter dem Stichwort „Philosophie“ zunächst „Liebe zur Weisheit“. Danach ist aber nur noch von „Vernunft“ und „Rationalität“ die Rede.

Was ist denn schlecht an der Begrenzung auf Vernunft?

Johannes Eichenthal: Vernunft, der berechnende Verstand, ist ein wichtiger Aspekt der menschlichen Arbeits- und Lebenstätigkeit. Johann Gottfried Herder (1744–1803) meinte, dass diese menschliche Vernunft im Kern Skepsis ist, die Fähigkeit, aus unseren Fehlern zu lernen. Rationalität und Skepsis reichen aber für das menschliche Leben nicht aus. Glaube, so Herder, ist dagegen im Kern Hoffnung auf Teilhabe an der göttlichen/kosmischen Vernunft. Die Verknüpfung der Dinge im Kosmos ist, so Herder, als absolute Wahrheit außer uns die Voraussetzung dafür, dass wir „die Dinge verknüpfen“, dass wir überhaupt „vernünftig“ denken können. Das leuchtet doch ein, oder? Aber Andreas Eichler kam bei Herder an dieser Stelle nicht weiter. Er hätte nur einmal die „Metakritik zur Kritik der ‚reinen Vernunft‘“ lesen müssen … Wenn man dagegen Philosophie wieder als Weisheit versteht, dann muss man akzeptieren, dass Weisheit traditionell die sich bedingende gegensätzliche Einheit von Vernunft und Glaube, von Skepsis und Hoffnung ist. Philosophie ist nur als ewige Suche nach Weisheit existent. Erst von der Position aus kann man Herder, wie auch die Geschichte der Kulturen und Religionen, verstehen. 

Worin besteht die besondere Leistung Herders?

Johannes Eichenthal: Herder war einerseits der Verteidiger der überlieferten Tradition (Plato, Aristoteles, Leibniz u.a.). Gegen die Intellektualphilosophie Kants verwies Herder mit dem überlieferten Logos-Begriff darauf, dass wir uns als Menschen in Sprache konstituieren. Nicht durch Vernunft und Denken unterscheiden wir uns von Tieren, mit denen wir viel Gemeinsamkeit besitzen, sondern durch die bezeichnende Sprache. Die Anwendung von Weisheit auf unsere konkreten Lebensbedingungen beschreibt Herder mit dem Platonischen Begriff der „Besonnenheit“. Und diesen Begriff „Besonnenheit“ verwendet Herder nicht zufällig in seinem von der Berliner Akademie preisgekrönten Essay „Über den Ursprung der Sprache“ für den inneren Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmung in der Sprach-Vernunft (Logos). Weil unsere Sinneswahrnehmungen individuelle Differenzen aufweisen, ist auch der Zusammenhang der Sinneswahrnehmung und deren sprachliche Struktur individuell geprägt. Herder meint, dass dieser „Eigensinn“ des Individuums sein Reichtum, jedoch auch nicht restlos sprachlich kommunizierbar ist. Dennoch ist das Wort die einzige Möglichkeit, um uns und andere zu verstehen. Selbst das Unbewusste besitzt eine sprachliche Struktur. Das Wort ist das Wesen unserer Seele. (Herder)

Sie sagten, dass Herder „einerseits“ die Tradition wahrte, was ist das „andererseits“?

Johannes Eichenthal: Herder vermochte die zeitgenössischen Ansätze eines organischen Systemdenkens von Caspar Friedrich Wolff (1734–1794) und Johann Heinrich Lambert (1728–1777) zur Theorie der organischen Kräfte weiterzuführen. Damit war ihm der Zugang zum Verstehen der organischen Entwicklung unserer Erde möglich. Kant, Schelling und die Romantiker kamen dagegen über die Mechanik nicht hinaus. Mit den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784–1792) legte Herder eine bis heute unerreichte Menschheitsgeschichte aus ihrem kosmischen Ursprung vor. Hier formulierte er, lange vor der „Gaja-Hypothese“, die Einsicht, dass unsere Erde ein Lebewesen ist. Herder definierte in Anlehnung an Aristoteles Vorstellung vom „unbewegten Beweger“, Gott als „organische Kraft der organischen Kräfte“, als „gestaltlosen Gestalter“, der das Chaos beständig strukturiert.

Sie sprachen davon, dass sich historisch die Kantische Philosophie an den Universitäten durchsetzte. War das Herdersche Werk damit erledigt?

Johannes Eichenthal: Grundsätzlich muss man auf Herders Bemerkung verweisen, dass Philosophie nicht durch „Dominanz“ zu verwirklichen ist. Der Kantische Erfolg führte das deutsche Bürgertum daher in den Verlust der Weisheit. Andererseits geht in unserer Geschichte keine Idee verloren. Wenn es an der Zeit ist, wird sie wieder aufgegriffen. Mit Walther Rathenau (1867–1922) setzte am Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue Stufe der Rezeption Herderscher Gedanken ein. Rathenau führte die Herdersche Kant-Kritik weiter und bezeichnete die deutsche Universitätsphilosophie wegen ihrer Beschränkung auf die „reine Vernunft“ als bloße „Intellektualphilosophie“. Der Abstand von 100 Jahren zu Herder ermöglichte Rathenau die neue Erkenntnis, dass sich die Vernunft inzwischen mit der Industrie verbunden hatte. In seinem philosophischen Hauptwerk „Von kommenden Dingen“, das 1917 im berühmten S. Fischer-Verlag erschien, nannte er die neu entstandene Verbindung von Vernunft und Industrie „Mechanisierung“ (heute Globalisierung), d.h. den zwangsweisen Zusammenschluss aller Menschen zu einer Produzenten-Konsumenten-Maschinerie, die Durchdringung des gesamten menschlichen Lebens mit der Forderung nach finanzieller Effizienz. Rathenau, der die Rolle der preußischen Reformer im 20. Jahrhundert hätte übernehmen können, entwickelte ein strategisches Programm: „Wirtschaft ist keine Privatangelegenheit mehr!“ (Höchste Besteuerung von Monopolgewinnen, Einzug von Großerbschaften, Förderung von öffentlichem Verkehr, Bildung, Landwirtschaft, Mittelstand, Wissenschaft und Kunst)

Und warum kritisiert Rathenau die Intellektualphilosophie?

Johannes Eichenthal: Rathenau warf der Intellektualphilosophie vor, dass sie nicht nur nicht helfe, uns gegen die materielle Gewalt des finanziellen Effizienzstrebens zu verteidigen, sie beschleunige durch ihre Beschränkung auf das bloß quantifizierende Denken den Prozess der Mechanisierung/Globalisierung sogar. Im Grunde folgte die Intellektualphilosophie bis heute dem Trend der europäischen Naturwissenschaften zur reinen „Quantifizierung“. (vgl. Charles Taylor: „Was ohne Deutung bleibt ist leer.“ FAZ vom 16.1.2016) Man konzentriert sich auf die Folgerichtigkeit der Ableitung seiner Gedanken und verwechselt diese Folgerichtigkeit mit Wahrheit, das Modell mit der Wirklichkeit. Ricarda Huch (1864–1947) machte Francis Bacon (1561–1626) dafür verantwortlich, Lewis Mumford (1895–1990) sah die Schuld bei Galileio Galilei (1564–1641/42). Mehr als 100 Jahre nach Kant formulierte Kurt Gödel (1906–1978) den Unvollständigkeitssatz, mit dem er diese Art von Logik „matt“ setzte. Aber schon zu Lebzeiten Gödels wurden enorme Anstrengungen unternommen, vorangetrieben durch die Rüstungen zum Zweiten Weltkrieg, um das Wissen mit Hilfe von Rechenmaschinen (Computern) zu automatisieren. Die Ausnahmerolle, die Europa etwa ab 1500 gegenüber den anderen Kulturen beanspruchte, stützte sich auf das quantifizierende Denken, auf die bloß berechnende Vernunft, auf das Kalkül. Das Ergebnis der 500 Jahre europäischer Vorherrschaft ist die börsengetriebene Wachstums- und Wegwerfwirtschaft, bei der 20 Prozent der Menschheit 80 Prozent der Energie, der Rohstoffe, des Wassers und der Nahrungsmittel verbrauchen. Bereits Walther Rathenau hatte darauf verwiesen, dass das nicht so weitergehen kann. Alle Menschen auf der Erde seien mittlerweile voneinander abhängig, Großwirtschaft und Politik dächten aber immer noch in den Kategorien der Vorzeit. Zudem betreffen ungefähr ein Drittel der Produktion Kitsch, Schund, Müll und Rüstungsschrott, was wir uns schon lange nicht mehr leisten können. Mit der Digitalisierung wurde der Siegeszug des 500 Jahre alten bloß quantifizierenden Denkens in Europa vollendet. Philosophie und Wissenschaft ersetzen, wie die antiken Sophisten, die Suche nach Wahrheit durch Folgerichtigkeit. Das Resultat ist in dieser Art von Wissenschaft, die absolute Beliebigkeit: „Alles ist möglich. Anything goes!“

Das Josephskreuz, der „Eiffelturm“ des Harzes, das größte eiserne Doppelkreuz der Welt, nach einem Entwurf von Karl Friedrich Schinkel

War Rathenau ein Philosoph?

Johannes Eichenthal: Ja, er führte die Suche nach Weisheit im traditionellen Sinne weiter. Plato, Jesus, Buddha und Goethe waren die Menschen, die ihn am meisten beeindruckten. Er machte geltend, dass selbst die Mitglieder der Finanzoligarchie vom Streben nach finanzieller Effizienz versklavt würden und keine Erfüllung in ihrem Geldreichtum fänden. Gegen die materielle Gewalt des Effizienzstrebens helfe nur die Kraft des Geistes. Ein mäßiger materieller Wohlstand reiche für ein menschliches Leben aus. Die Stärkung der Kräfte unserer Seele (der Gesamtheit unserer Psyche) erfordere den Zugang zur absoluten Wahrheit außer uns. Den Zugang des Individuums zur göttlich-kosmischen Vernunft sah Rathenau, wie Meister Eckhart, in der Meditation.

Gibt es denn jemanden, der Walther Rathenau heute folgt?

Johannes Eichenthal: Papst Franziskus (Jg. 1936) schrieb in der Umweltenzyklika „Laudato si“ (2015), Franziskus von Assisi (1181/82–1226)  gewidmet, dass die Erde unser gemeinsames Haus ist und dass wir uns in den Naturkreislauf einordnen müssen. Politik und Wirtschaft wollen die Natur immer noch beherrschen und bringen deshalb kein Bild vom Naturkreislauf zustande. Die Wissenschaft scheitert am Naturkreislauf, weil sie sich in ihrer Überspezialisierung und in ihren Formeln gefällt. Aber ohne ein Leitbild vom Naturkreislauf wird uns auch die Wiedereinordnung nicht gelingen. Die Mahnung des Papstes an die Wissenschaft ist bemerkenswert. Vor 500 Jahren erinnerten Naturwissenschaftler den Vatikan daran, dass es ewige Naturgesetze gibt. Heute muss der Papst die Wissenschaft ermahnen, ihrer menschlichen Verantwortung wieder gerecht zu werden. 

Glauben Sie, dass solche Appelle wie der von Papst Franziskus die heutige Intellektualphilosophie und Wissenschaft zu einer Umkehr bewegen kann?

Johannes Eichenthal: Nein. Es gab nach 2015 ein paar Tagungen zur Enzyklika, etwas Wissenschaftsprosa, und das war es denn auch schon. Unser Buch richtet sich deshalb an selbstständige Menschen in Bürgerinitiativen, Genossenschaften, Körperschaften öffentlichen Rechts, GbRs und GmbHs. Das sind Literaten, Architekten, Ärzte, Gärtner, Handwerker, Ingenieure, Juristen, Landwirte, Naturwissenschaftler, Theologen u.v.a., die sich aller Widerstände zum Trotz für die Wiedereinordnung in den Naturkreislauf engagieren. Der entscheidende Punkt in der Auseinandersetzung mit der börsengetriebenen Wachstums- und Wegwerfkultur ist eine geistige Alternative. Deshalb wollen wir diesen aktiven Menschen einen individuellen Zugang zur sprachlich-literarischen Überlieferung unserer Region erschließen, um uns in Sprache zu konstituieren und um in Besonnenheit ein Leitbild vom Naturkreislauf entwickeln zu können. Das ist die eigentliche Botschaft unserer „Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland“.

Sehr geehrter Herr Eichenthal, vielen Dank für das Gespräch.

Clara Schwarzenwald

 

Information

Johannes Eichenthal (Jg. 1982) ist als Redaktor der Internetzeitschrift Litterata tätig. Er studierte Architektur und Jura, seine Liebe gilt jedoch der Literaturgeschichte. 

Im Mironde Verlag erschien 2021 von ihm: 

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  ISBN 978-3-96063-026-5

In jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag beziehbar: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1

Lieferbar:

Andreas Eichler: Literarisch Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 1. Von den Minnesängern bis Herder

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-025-8

In jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag beziehbar: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-den-minnesaengern-bis-herder-sprache-eigensinn1

2024 soll erscheinen:

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. 

Von Landauer bis Gundermann. Sprache und Eigensinn 3.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, zahlreiche farbige Fotos, Karten und Abbildungen 

VP 29,90 €  

ISBN 978-3-96063-024-1

Mehr Informationen: https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-sprache-und-eigensinn-3-von-landauer-bis-gunderman

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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