Reportagen

Verlagerter Krieg

Am 8. Mai begrüßte Hermann Meinel, der Leiter des Uranbergbaumuseums in Bad Schlema, Dr. Andreas Eichler zur Vorstellung des Buches »Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkriegs« im traditionsreichen Kulturhaus »Aktivist«. Eichler fungiert auch als Moderator eines regionalen Historikerkreises. Der Dokumentationsband zur Tätigkeit des Rüstungskommandos Chemnitz enthält die Beiträge zweier Tagungen dieses Kreises zur Thematik.

Eichler erklärte etwas weitschweifig, dass sich der Arbeitskreis von Laienhistoriker seit 1993 regelmäßig auf Einladung des Heimatvereines zu Tagungen in Niederfrohna traf. Man habe früher Themen aus der Besiedlungsgeschichte behandelt, die Geschichte des Konrad (Kunz) von Kauffungen wurde untersucht, auch die Kämpfe um den Muldenübergang im Jahre 1813 spielten eine Rolle. Doch seit einigen Jahren sei man immer wieder bei den Ereignissen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region hängen geblieben.

Man könnte einwenden, dass es zum Zweiten Weltkrieg schon unzählige Bücher gäbe, warum dann ein weiteres Buch? Eichler meinte, dass bisher zum Rüstungskommando Chemnitz keine Publikationen vorlagen. Erst die Forschungen von Jens Hummel hätten hier Licht in das Dunkel gebracht. Zudem ereigne sich Geschichte immer an konkreten Orten. Die Großgeschichtsschreibung habe zwar eine unüberschaubare Menge an Arbeiten hervorgebracht, aber man abstrahiere dort in der Regel von den konkreten Ereignissen. Man beschränke sich auf abstrakte Vergleiche. So gehe das Besondere der Geschichte verloren. »Der Vergleich« sei in der Geschichtswissenschaft also weniger unter moralischem Aspekt problematisch als aus methodologischen Gründen. Wenn sich Wissenschaft methodisch auf den Vergleich reduziere, gehe sie gerade an den Besonderheiten des Lebens vorbei. Trotz aller allgemeiner Zusammenhänge verlaufe Geschichte jedoch in jedem Dorf, in jeder Straße oder jedem Stadtteil anders, auf besondere Weise. Das Besondere müsse gerade das Ziel von Wissenschaft sein. Eine Wissenschaft, die das Besondere nicht erklärt, ist keine. (Karl Marx)

 

 

Foto: Eingangsbereich Kulturhaus »Aktivist«

Die Laien-Historiker hätten aber noch weitere methodische Hürden zu überwinden.Wissenschaft, so Eichler, sei die konzentrierte Vernunft. Im Kern sei Vernunft Skepsis. (An dieser Stelle war eigentlich zu erwarten, dass Eichler Johann Gottfried Herder erwähnt, er tat es an diesem Abend jedoch einmal nicht.) Eben weil Vernunft im Kern Skepsis sei, ermöglich sie im besten Fall eine nüchterne Darstellung dessen, was geschehen ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wissenschaft kann keinen Sinn stiften, sondern im besten Fall kalt und nüchtern untersuchen. Gerade bei der Untersuchung der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte werde man immer wieder verleidet moralische Kommentare abzugeben. Doch der Wissenschaft bleibe nur ein kaltes Konstatieren, ein »ärztlicher Blick«, wie es Michel Foucault nannte. Die Priester der Vernunft übersähen mitunter, dass Vernunft in der Neuzeit zur effektiven Ausübung von Herrschaft, als Staats-Vernunft entstand. Allein mit »Vernunft« lasse sich Humanität so nicht begründen. Für einen humanen Blick reiche Vernunft nicht aus, sei zudem Sinnstiftung notwendig. Vernunft müsse mit ihrem Gegenpol, mit Religiosität und Hoffnung ergänzt werden. (Bemerkenswert, auch hier an diesem Abend kein Verweis auf den Stammvater dieser Gedanken: Johann Gottfried Herder.) Der Arbeitskreis vertrete neben seinen Untersuchungen das außerwissenschaftliche Ziel zur Verständigung zwischen Menschen beizutragen. (Treffen mit Veteranen der US-Armee u.a. gehörten zum Programm des Arbeitskreises.)In der Forschungsmethodik sei man von zwei Seiten her vorgegangen. Einerseits konstatierte man Ereignisse, andererseits interviewten die Historiker wo viel wie möglich Zeitzeugen. Es gäbe zahlreiche Einwände gegen Zeitzeugen, aber man könne Geschichte nicht nur von den Ergebnissen her, vom Ende her erfassen, man müsse auch das Denken, die Gefühle, Hoffnungen und auch Illusionen der Menschen einbeziehen, weil diese reale Wirkungsgrößen waren. Jakob Grimm habe bereits darauf verwiesen, dass Geschichte ein vielstimmiger Prozess sei. Selbst der beste Historiker könne heute nicht mehr ohne Zeitzeugen arbeiten, wenn er ernst genommen werden wolle. Mit der Erfindung des Personalcomputers sei die Publikation von Erinnerung auf individueller Basis möglich geworden. Wenn jemand seine Lebenserinnerung veröffentliche, dann setze er sich auch der wissenschaftlichen Kritik aus. Trotz Bedenken vieler älterer Berufshistoriker sei die massenhafte Erinnerungsliteratur eine Bereicherung für die Wissenschaft. Es werde damit aber auch deutlich, dass es kein »kollektives oder kulturelles Gedächtnis« quasi »an sich«, als ein separates Gebilde gäbe. Das Allgemeine eines solchen »kollektiven Gedächtnisses« (Halbwachs) oder »kulturellen Gedächtnisses« (Assmann) existiere nur in den Millionen einzelner Erinnerungen, nicht losgelöst von diesen, am allerwenigsten als ein abstrakt Allgemeines. Für volkspädagogische, kulturpolitische Ambitionen wie zur Musealisierung eigneten sich auch diese allgemeine Vorstellungen, Begriffe sind es streng genommen nicht einmal, nicht.

Eichler gab an dieser Stelle einen Überblick von Publikationen des Arbeitskreises: Andreas Eichler: »Bürgertum und Industrie im Limbacher Land« (1999), »Erinnerungen an den Frühling 1945« (2000), Wolfgang Bönitz: »Millenium, Gomorrha, Thunderclap« (2001), »Luftkrieg und Zivilbevölkerung in der Region« (2003), »Enttäuschte Hoffnung. Wiederaufbau der kommunalen Selbstverwaltung« (2004), »Nochmal davongekommen. Alltag in der Region 1939–1949« (2005), Wege übers Land. Bodenreform und LPG-Gründung in der Region« (2006), »Wehe den Besiegten. Regionale Reparationsleistungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg« (2007),«Von der Memel bis an die Mulde. Die Ankunft der Evakuierten, Flüchtlinge und Vertriebenen in der Region während und nach dem Zweiten Weltkrieg« (2008), Jens Hummel: Schwere Jahre. Glauchau 1928 bis 1948« (2008),«Verlagerter Krieg« (2011).

Jens Hummel habe mit seinen Forschungen zum Rüstungskommando Chemnitz erstmalig eine auf Akten gestützte Darstellung erbracht. Bis 1938 galt Sachsen als Grenzgebiet und war kein ausgewiesener Standort für Rüstungsindustrie. 1939 wurde die Wehrwirtschaftsinspektion IV Dresden in Rüstungsinspektion IVa Dresden umbenannt. Dazu gehörten die Rüstungskommandos Dresden, Leipzig und Chemnitz (mit Außenstellen in Aue und Plauen). Mit den Luftangriffen auf den Westen Deutschland und besonders ab 1943 sei in großem Stil Verlagerung von Rüstungsproduktion nach Sachsen erfolgt. Die Umstellung der noch vorhandenen zivilen Industrie als Zulieferer oder deren Stilllegung, um Platz für Rüstungsproduktion zu bekommen, erfolgte in Regie des Rüstungskommandos Chemnitz. Diese Behörde beauftragte mittelständische Unternehmen mit Zuliefereraufträgen für Rüstungsgroßprojekte, deren Generalauftraggeber international tätige Konzern waren. Wenn sich ein Mittelständler nicht kooperativ zeigte, wurde er durch einen kommissarischen Leiter ersetzt. Jens Hummel liefert in seinen beiden Beiträgen Einblick in die Mechanismen der zentralistisch aufgebauten Rüstungsproduktion. Gleichzeitig habe Hummel auch auf Fehlplanungen und Pannen verwiesen. Werner Ulbricht, Horst Kühnert, Christoph Ehrhardt, Gerhard Hofmann und Günter Eckhart lieferten einzelne Fallstudien. In einem Interview gab der Sohn eines mit der Begründung »Rüstungsproduktion« 1945 enteigneten Mittelständlers Auskunft über die Hintergründe des Falles und seine Stigmatisierung als »Sohn eines Nazi- und Kriegsverbrechers«. Aufgrund von Codierungen der einzelnen Firmen kann man heute überprüfen, was von welcher Firma produziert wurde. Ein Interview lässt einen ehemaligen Mithäftling des Schwarzenberger Fabrikanten Friedrich Emil Krauß in Buchenwald zu Wort kommen. Es wird geschildert, wie der alte Herr dem Jugendlichen Mut zusprach. Auch Krauß wurde mit der Begründung »Rüstungsproduktion« enteignet, in Buchenwald und Bautzen internier, und anschließend in die Bundesrepublik ausgewiesen. Mit den Firmenkodierungen wurde nachgewiesen, dass bei Krauß auf Weisung des Rüstungskommandos Geschosshülsen für Infanteriewaffen und Artillerie produziert wurden. Eichler hob hervor, dass die deutschen Kommunisten dem Anschein nach den Mittelstand mit international tätigen Konzernen verwechselten und damit verheerende Folgen bewirkten. Mario Ulbrich schrieb bei der Erstvorstellung des Bandes in der Ausgabe Aue/Schwarzenberg der »Freien Presse«, dass mit dem Band ein völlig neuer Forschungsstand erreicht sei. Abschließend verwies Eichler auf die Rezension zu Rolf Dieter Müllers 2011 im Christoph Links Verlag erschienenem Buch »Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahre 1939.« Mit diesem Buch könne der Arbeitskreis die Verbindung zur großen Wissenschaft herstellen. Müller, ein erfahrener Historiker aus dem Militärgeschichtlichem Forschungsamt, weise mit Dokumenten nach, dass Reichskanzler Hitler ab 1933 gegen die Führung seiner eigenen Partei und die der Reichswehr den Krieg gegen UdSSR als Hauptziel formulierte und durchgesetzt habe. Seit 1933 wurde die deutsche Politik und das Militär auf diesen Krieg hin ausgerichtet. In der Wirtschaft wurde alles nach Verwendungsmöglichkeiten für den Krieg überprüft. Es habe immer wieder Verzögerungen gegeben, weil die Wirtschaftskraft und Rüstung noch nicht ausreichten. Bereits 1939 lag die erste Angriffsplanung vor. Müller sei auch auf Hintergründe des polnischen Überfalls auf die UdSSR und das gegen die UdSSR gerichtete deutsch-polnischen Bündnis von 1934 eingegangen. Ebenso habe Müller auf den eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1931 durch Japan verwiesen. Japan habe begonnen, China zu erobern und gegen Mongolei in Richtung UdSSR vorzurücken. Die in diesem Krieg umgekommenen 20 Millionen Menschen werden in europäischen Publikationen in der Regel übersehen.

Foto: Ausschnitt Wandgemälde im Eingangsbereich des Kulturhauses »Aktivist«

Eichler lobte die Arbeit von Müller in hohen Tönen. Für die Regionalhistoriker werde damit nachweisbar, dass bereits 1933/34 wirtschaftliche Aktivitäten im Hinblick auf den Krieg begonnen wurden (z.B. die Wiederaufnahme der Suche nach für die Rüstung bedeutsamen Erzen im Erzgebirge, nicht nur von Uran). Müller gehe damit auf Fakten ein, die heute in der etablierten Wissenschaft weitgehend ausgeblendet würden. Äußerst interessant sei auch der Nachweis, den Müller am Beispiel der konkreten militärischen Planung des Überfalls auf die UdSSR vorlegte. In der Forschung sei dem Ansatz, wonach Reichskanzler Hitler mit seiner Ost-Kriegs-Planung sich gegen die Führung seiner Partei und gegen die Führung der Wehrmacht durchsetzte, kaum ernsthaft nachgegangen worden.

Zufällig, so Eichler jährte sich im März 2012 auch die Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Vertrages zur Normalisierung der diplomatischen Beziehungen in Rapallo durch die Außenminister Walther Rathenau (1867–1922) und Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin (1872–1930) im Jahre 1922 zum 90. Male. (Der AEG Präsident, promovierte Naturwissenschaftler, begnadete Philosoph, Schriftsteller, Musiker und Maler Rathenau wurde unmittelbar vor der Ratifizierung dieses Vertrages durch den Reichstag am 24. Juni 1922 durch Mitglieder der von Kapitänleutnant von Killinger geleiteten »Organisation Consul« in Berlin auf offener Straße ermordet.) In einem der wenigen Artikel, die dem Ereignis in diesem Jahr gedachten, habe Valentin Falin im »Neuen Deutschland« geschrieben, dass es unter geopolitischem Aspekt bemerkenswert gewesen sei, dass nach Rapallo die NSDAP im November 1922 erstmals Spendengelder aus den USA erhalten habe.

Das interessierte Publikum dankte mit Applaus. Es schlossen sich Fragen an. Erst etwa eine Stunde später verließen die letzten Besucher das Kulturhaus Aktivist.

PS. Eichler verwies am Ende auf einen neuen Film über Leben und Werk des weitsichtigen deutschen Ausnahmepolitikers Rathenau (»Von kommenden Dingen«), der von Prof. Eberhard Görner im vergangenen Jahr in Bad Freienwalde, wo Rathenau einen Wohnsitz hatte, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, momentan in Programmkinos läuft und auch als DVD zu beziehen ist.

Johannes Eichenthal

 

Information

www.uranerzbergbau.de

Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkrieges. A5, Brosch., 114 Seiten, 9,50 € ISBN 978-3-937654-68-3

Über Mironde-Buchversand zu beziehen: www.mironde.com

 

Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Christoph Links Verlag 2011. 978-3-86153-617-8

www.christoph-links-verlag.de