Reportagen

Wintersalon in Chemnitz eröffnet

Unsere Zeit ist aus den Fugen. Wir Menschen reagieren unterschiedlich auf die Medienberichte von einer brennenden Welt. Die einen suchen Trost im Adventskonsum und vier Wochen Glühweinrausch. Aber der Weihnachtsmarkt hat nichts mit der Geburt des Kindes, dem Licht der Welt, zu tun. Wir wünschen den Konsumenten, dass sie Trost finden, wissen aber, dass sie es nicht schaffen werden.

141128Chemnitz4514
Da gibt es auch noch sensible Menschen. Uwe Bullmann begrüßte zur Eröffnung seines »Wintersalons« am Abend des 28. November in der Galerie Borssenanger eine kleine, hochkarätige Besucherschar. Die Ausstellung Wintersalon Teil 1 zeigt neue Werke von Chika Aruga, Peter Kallfels, Johannes Ulrich Kubiak, Jan Kummer, Oskar Manigk, Osmar Osten, Maria Schoof und Hans Winkler.
Unter den anwesenden Künstlern war auch Osmar Osten, von dem die Bilder für den Lyrikband von Rüdiger Görner »Die Leiden des N. Eine Naumburger Trilogie« stammen. Das Buch erschien am 25. August 2014 im Mironde-Verlag.

141128Chemnitz4518
Andreas Eichler vom Mironde Verlag stellte dem Publikum an diesem Abend das Buch vor. Er zeigte großformatige Abbildungen der Buchseiten und richtete einige einführende Worte an das Publikum. Der in London lehrende Germanist Rüdiger Görner ist dem Chemnitzer Publikum leider kaum bekannt, obwohl dessen familiäre Wurzeln im Erzgebirge zu finden sind.
Mit »N.« sei Friedrich Nietzsche gemeint. »Die Leiden des N.« ließen einige ältere Besucher vielleicht an Ulrich Plenzdorfs Buch denken und noch ältere vielleicht sogar an »Die Leiden des jungen Werthers« von einem gewissen Johann Wolfgang Goethe. (Siegfried Arlt, der Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, lächelt bei diesen Worten vielwissend.)
Mit seinem Buchtitel spiele Görner wahrscheinlich auf das Schicksal Nietzsches wie auch seine Beziehung zu Goethe an.

141128Chemnitz4524

Eine Arbeit von Osmar Osten

Zu Friedrich Nietzsche seien viele dicke wissenschaftliche Bücher geschrieben worden. Biographien mit 1000–1500 Seiten seien heute keine Seltenheit. Der Wissenschaftler Rüdiger Görner legte aber nun einen schmalen Lyrikband vor. Er habe die Form eines Poems, einer lateinischen Ode gewählt, vielleicht auch als Reminiszenz an Friedrich Nietzsche, der dieses Genre liebte.
Die Naumburger Trilogie umfasse je ein Kapitel über Richard Lepsius, Friedrich Nietzsche und Zacharias Hildebrandt. Der Weltreisende und Entdecker Richard Lepsius, aus Naumburg stammend und wie Nietzsche Absolvent von Schulpforta, weist auf den Entdeckeranspruch Nietzsches hin. Doch anders als Lepsius richten sich Nietzsches Anstrengungen auf die Entdeckung unseres Inneren.
Görner versuche weder Nietzsche »psychoanalytisch« zu diagnostizieren noch instrumentalisiere er Nietzsche auf »postmoderne Weise« als großen Dekonstrukteur.
Der erste Satz lautet: »In der Weinlaube wurde N. aus ihm.« Der psychisch kranke Nietzsche, der in Naumburg von Mutter und Schwester betreut wird, befindet sich nicht im Stadium des Triumphes, sondern der Niederlage. Doch Görner könne bei einem Nietzsche in der Niederlage eher »Größe« nachweisen als im Triumph. Aber selbst in gesundheitlich schwersten Situationen habe Nietzsche noch nachgedacht. So heißt es bei Görner:
»Er kritzelte auf Zetteln Dutzende Ns,
bis zu Hieroglyphen sie werden,
hackt Akkorde auf der Klaviatur aus Karton.«

141128Chemnitz4523

Eine Arbeit von Maria Schoof

Mit Größe, so Eichler, sei hier »Denkversessenheit und Wachheit« gemeint.
Görner stelle uns einen Nietzsche vor, der sein Leben der Kunst widmete. Kunst sei für Nietzsche im wesentlichen mit Musik gleichzusetzen gewesen.
Im abschließenden Kapitel sei der Erbauer der Orgel in der Naumburger St. Wenzel-Kirche behandelt worden. Der gewaltige Klang dieser Königin der Instrumente hat Friedrich Nietzsche zeitlebens beeindruckt. Von »Orgelklängen« habe er immer wieder geträumt.

141128Chemnitz4530Eine Arbeit von Osmar Osten

 

Zusammenfassend meinte Eichler, dass Rüdiger Görner uns mit seinem schmalen Bändchen und der poetischen Form Friedrich Nietzsche vielleicht näher bringe als es dicke Biographien, schwer lesbare philologische Dissertationen oder Germanistenprosa vermögen. Friedrich Nietzsche werde im kulturellen und historischen Kontext als ein Mensch erahnbar, der das klassische kulturelle Erbe seiner Zeit vom dekadenten Zeitgeist gefährdet sieht, und der nach Möglichkeiten der Erneuerung des Erbes sucht. Bewahren sei nicht ohne Erneuerung möglich, und umgekehrt. Der assoziative Text Rüdiger Görners habe all diese Aspekte auf poetische Weise verdichtet. Der Leser könne bereits beim ersten Lesen in seinem Kopf neue Verbindungen aus der Verdichtung herauslösen, assoziieren, wie auch beim 10. oder 100. Mal. Das mache die Qualität dieses Textes aus.
Zugleich werde aber hier deutlich, wie bravourös Osmar Osten, dem nur wenig Zeit zur Verfügung stand, die Bilder zu diesem Text zu finden vermochte.
Zuletzt, doch nicht vergessen, meinte Eichler, dass Rüdiger Görner die lyrische Form auch dramatisiert habe. Dieses Verfahren wendeten u.a. Henry James, Thomas Mann, Arno Schmidt, Thomas Bernhard und Gert Hofmann auf die Prosaform an. Man könne gespannt sein, wie es bei Rüdiger Görner weiter gehe.

141128Chemnitz4527

Kommentar
Der Galerie Borssenanger ist für ihr kulturelles Engagement zu danken. Die Künstler der Region Chemnitz-Erzgebirge haben nicht zu viele Möglichkeiten der angemessenen Werkausstellung. Uwe Bullmann und seine Gattin leisten vorbildliche Arbeit.
Interessant war auch, dass Uwe Bullmann die Buchillustration eines Künstlers an Stelle einer Laudatio zur Eröffnung des Wintersalons zuließ. Aber auch die bildende Kunst muss ja auf sprachlicher Ebene kommunizierbar sein.

141128Chemnitz4528
Bemerkenswert an Eichlers Statement war vielleicht zunächst, dass er kein einziges Mal auf Johann Gottfried Herder zu sprechen kam. Über Nietzsche sagte er dem Publikum viele Dinge, die wir ja alle schon wissen. Bewahren und Erneuern? Die entscheidende Pointe in diesem Punkt entging ihm jedoch. Rüdiger Görner trat im Oktober 2012 bei der Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft in Naumburg auf und sprach über Nietzsches Sehnsucht nach Verwandlung. In diesem Vortrag begründete er seine Annahme, dass der viel interpretierte Gedanke Nietzsches vom »Willen zur Macht« kein Aufruf zur Selbstermächtigung gegenüber anderen Menschen sei, sondern der Anspruch, in einer dekadenten Mainstream-Kultur die Kritik Kritik sein zu lassen, und eine alternative Erneuerung des kulturellen Erbes zu stiften.
Darum geht es. Kritik, so brillant und amüsant sie auch vorgetragen wird, dient eher unserer Selbstbestätigung. Die muss auch sein. Keine Frage. Aber Kritik bewirkt keine Veränderung. Michel Foucault wies ausgerechnet in einem Vortrag mit dem Titel »Was ist Kritik?« darauf hin, dass man über »Kritik« hinausgehen müsse. Er zitierte Friedrich den Großen mit dem Satz: »Räsoniert so viel ihr wollt … Hauptsache, ihr gehorcht!« Statt um Kritik geht es um den Willen zu einer alternativen Lebensweise, um den Willen zur Macht über den Sinn unseres Lebens. Es lohnt nicht, sich mit dem Mainstream kritisch auseinanderzusetzen. Besser ist Karl Valentins: »Soetwas ignorieren wir nichteinmal!«
Wahrscheinlich kennt aber Eichler, dem wir ja eine gewisse Kenntnis der alten Bücher aus dem 18. Jahrhundert, wie auch oberflächliche Nietzsche-Kenntnisse, nicht absprechen, jedoch nicht einmal die Namen Michel Foucault und Karl Valentin!
Johannes Eichenthal

141128Chemnitz4525Eine Arbeit von Osmar Osten

 

Information
Bis zum 23. Januar 2015 ist die Ausstellung noch zu sehen.
Galerie Borssenanger, Straße der Nationen 2-4, 09111 Chemnitz
galerie.borssenanger@versanet.de
www.borssenanger.de

Rüdiger Görner: Die Leiden des N. eine Naumburger Trilogie
14,0 × 20,5 cm, 48 Seiten, fester Einband, Fadenbindung, Lesebändchen
Titelgestaltung und 10 Collagen von Osmar Osten
VP 19,00 € ISBN 978-3-937654-55-3

Erhältlich in der Galerie Borssenanger, in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlag www.mironde.com

 

 

One thought on “Wintersalon in Chemnitz eröffnet

  1. Seliger N., als die Infektion noch geraden Weges zur Genialität führte! Was wohl, wenn er – mal schlicht infektiologisch gesehen – nur 20 Doxycyclin 200 im Schub gehabt hätte? Keine biografischen oder dissertierenden Wälzer, keine lyrischen Perlen von görneschem Range vor die Füße des hochkarätigen Publikos. Er komme also über sie, der Wille zur Macht und erleuchte ihre grauen Häupter, zumindest den Versuch sollte man der schütteren Herde wünschen.

    Wie immer der Ihre, Herr Redaktor: Scardanelli

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert