Reportagen

Haben Sie das alles gelesen?

151025Eschze7689

Für den 28. Oktober hatte die Chemnitzer »Villa Esche« zu einer Buchvorstellung und Gesprächsrunde eingeladen. Etwa 70 bis 80 Interessierte nahmen die Einladung zur Vorstellung des Bandes »Haben Sie das alles gelesen? Ein Buch für Leser und Sammler« an.

151028Esche7700

Dem Anschein nach waren an diesem Herbstabend alle Buchliebhaber aus Chemnitz und Umgebung in der Villa Esche versammelt. Man sah die Leiterin der Stadtbibliothek Limbach-Oberfrohna, Christine Erler, die Betreiberin der Sonnenberg-Presse Bettina Haller, die langjährige Leiterin der Chemnitzer Volkshochschule und Vorsitzende der Internationalen Stefan Heym Gesellschaft Dr. Ulrike Uhlig, und den Chemnitzer Antiquar Wolfgang Gebhardt. Aus Mannheim reiste Dr. Ralph Aepler, der Vorsitzende der Pirckheimer-Gesellschaft e.V., eigens für diese Veranstaltung an.

151028Esche7711

Auf dem Podium hatten Platz genommen (von re. nach li): der Herausgeber, Autor und geistige Vater des Projektes Dr. Klaus Walther, die Buchgestalterin und Verlegerin Birgit Eichler, Moderator Dr. Andreas Eichler, Autor und Bücherkenner Klaus Bellin und Herausgeber und Fotograf Dieter Lehnhardt.

Der Moderator formulierte als Ausgangspunkt, dass das Buch im Oktober 2014 erschien. In einer Zeit, in der sich viele Menschen von ihren Büchern trennen und das elektronische Buch als »Fortschritt« angepriesen wird, habe man auf die Bedeutung der Büchersammler verweisen wollen. In einem ersten Teil des Buches erzählen sechzehn Büchersammler aus ganz Deutschland von Entstehung und Struktur ihrer privaten Bibliothek, in der Regel geht es um mehr als 20.000 Bücher, und von ihrer Sammel-Motivation. In einem zweiten Teil werden acht Bibliotheken verstorbener Literaten und Gelehrter vorgestellt. Der Moderator verwies darauf, dass mit diesem Teil des Buches an die Kette der Tradition erinnert werde, in der die heutigen Sammler stünden. Hier finde man einen Bericht Klaus Walthers über Goethes Bibliothek im Haus am Frauenplan. Gleichzeitig falle auf, das Thomas Mann, Wilhelm Ostwald, Ernst Haeckel und andere, über deren Bibliothek Klaus Walther auch berichtet, wiederum Bezug auf Goethe nähmen. Hier würde eine wichtige Voraussetzung heutigen Büchersammelns zur Sprache gebracht. Es sei für den Leser hilfreich, so der Moderator, wenn man den zweiten Teil des Buches vor dem ersten Teil lese.

Aber dann ging es endlich zur Sache. Birgit Eichler erzählte die Geschichte der Gestaltungsidee und der Herstellung des Buches. Sie hob die wichtige Leistung der Dokumentarfotografien von Dieter Lehnhardt hervor. Weil sie am Ende hervorragende Fotos von vierundzwanzig hochrangigen Bibliotheken vorliegen hatte, verbat sich die Auswahl eines einzelnen Fotos für den Titel. Deshalb habe sie in der Titelgestaltung versucht das Thema graphisch zu abstrahieren.

Die drei Autoren berichteten davon, wie sie überhaupt zum Büchersammeln kamen. Klaus Walther gab über seine Bestrebungen nach einer enzyklopädischen Bibliothek Auskunft. Klaus Bellin, der von einem Vertretungslehrer zur Buchliebhaberei verleitet, und von der Bibliothek Max Heckers in der Weimarer Altenburg inspiriert wurde, schilderte die Anschaffung zahlreicher Ausgaben der Goethe-Werke. Auf die Frage eines Zuschauers ergänzte er, dass es unterschiedliche Versuche der Werkerschließung gäbe. Einige Ausgaben seien nach Werkgruppen geordnet, andere versuchten die unterschiedlichen Arbeiten chronologisch darzustellen. Ihm, so Klaus Bellin, gehe es um das Vergleichen der verschiedenen Versuche, um die Zusammenhänge. Dieter Lehnhardt gab zu Protokoll, dass er als Student Chemie-Fachbücher und auch andere Bücher erwarb um sich Wissen anzueignen. Aus der Nähe von Wetzlar stammend widmete er sich auch bald besonders der Sammlung von Goethe-Werken und Erstausgaben einzelner Texte. Aus dem Erwerb der Bücher und der Beschäftigung mit dem Inhalt habe er viel gelernt. Heute trete für ihn die Entschleunigungsfunktion des Lesens zunehmend in den Vordergrund. Lesen habe für ihn etwas mit Lebenskunst und Genießen zu tun. Bücher und Wein passten hervorragend zusammen.

Der Moderator versuchte an dieser Stelle einen Zusammenhang von Literatur- und Sprachgeschichte herzustellen. Und, wir hatten es befürchtet, verwies dazu auf Johann Gottfried Herder, der seine Literaturkritik immer auch als Sprachkritik betrieben, und die Herausbildung der deutschen Nationalliteratur am Kriterium eines gemeinsamen Kommunikationsraumes gemessen habe, um die Rolle des Buches als Träger von Bildung zu begründen. Aber er vermochte seine Problematisierung nicht plausibel zu machen, obwohl er auf den Gedanken des jüdischen Exulanten Chimen Abramsky verwies, der die private Bibliothek als Vergegenständlichung seines geliebten »deutschen Geistes« betrachtete.

151028Esche7709

Ein junger Mann aus dem Publikum fragte, ob er richtig verstanden habe, dass die Sammler sich mehr für die Form der Bücher als den Inhalt interessierten, und ob sie deshalb auch Bücher hätten, die sie eigentlich nicht mögen. Aber keiner der Sammler hat Bücher, die er nicht mag und alle hoben die Bedeutung von Inhalt und Form als Einheit hervor. Dr. Werner Abel regte die Erzählung der interessantesten Episode an, die die Sammler mit ihren Büchern erlebten. Dr. Andrea Pötzsch wollte wissen, nach welchen Prinzipien die Sammler ihre Bücher ordneten. Und immer wieder tauchte die Frage auf, warum kaum eine Frau unter den Sammlern ist. Man kam jedoch nur das Zitat einer Schweizer Buchhändlerin zurück, die dem Herausgeber Klaus Walther auf diese Frage antwortete. »Frauen lesen – Männer sammeln«.

151028Esche7713

Neben der Podiumsdiskussion lief eine Bilderschleife, die Dieter Lehnhardt einrichtete. Er hatte aus seinem Fundus, der bei den Arbeiten am Buch entstand, auch unveröffentlichte Bilder von Sammler-Bücherregalen ausgewählt, die er an diesem Abend erstmals zeigte. Diese Bilder brachten die Büchersammler-Atmosphäre auf sinnlichem Wege unter die Gäste des Abends.

Nach fast zwei Stunden endete die Diskussion. Die Autoren signierten und sprachen noch mit einzelnen Gästen. Langsam ging dieser schöne Abend zu Ende.

151028Esche7712

 

Kommentar

Es war eine anspruchsvolle Veranstaltung im »Van-de-Velde- Lebensraum« Villa Esche. Die Diskussionsrunde bewegte sich auf hohem Niveau. Das Publikum wusste die seltene Konstellation zu schätzen. Die fleißigen Helfer hinter den Kulissen der Villa Esche hatten alles sorgsam organisiert. Allen Beteiligten gebührt Dank.

Vielleicht ist der eine oder andere bei der Unterhaltung seiner kleinen Privatbibliothek bestätigt worden? Vielleicht wurde auch der eine oder andere motiviert, sich eine kleine Bibliothek zuzulegen.

Es ist bedauerlich, dass der Moderator nicht in der Lage war, den Zusammenhang von Bildung und Buch schlüssig zu begründen. Wenn Eichler wirklich einmal Herder gelesen hätte, dann hätte er darauf verwiesen, dass es immer um »Bildung zur Humanität« geht, nicht um eine »höhere Form des Wissens«, eher um die breite Basis unseres Wissens.

Gleichzeitig hätte er deutlicher machen müssen, dass das elektronische Buch das traditionelle Buch nicht vollständig ersetzen kann. Das E-Buch ist lediglich besser für die Mitnahme auf Reisen und die Textanalyse, Wortsuche u.ä. geeignet.

Menschen, die täglich am Bildschirm arbeiten, möchten verstärkt wieder auf das traditionelle Buch zurückgreifen.

Weil unsere Sprache den Zusammenhang von Sinneswahrnehmungen erfasst, braucht es auch einer sinnlichen »Decodierung« von Texten. Die Konstruktion des klassischen Buches ist über die Haptik, die Papierqualität, Geruch, Farbe u.a. der ideale »Umwandler« von Text und Sprache in Sinnenreize.

151028Esche7687

Zuletzt, doch nicht vergessen: Eichler hatte mit der Andeutung des Zusammenhanges von Literatur- und Sprachgeschichte durchaus einen wichtigen Punkt getroffen. Wahrscheinlich störte ihn jedoch in seiner Herder-Begeisterung die häufige Nennung des Namens Goethe. Doch bei »Goethe« geht es hier mehr um eine Metapher für das klassische Weimar und die deutsche Nationalliteratur. In den letzten Jahren ist die deutsche Sprache und Literatur durch Internationalisierungsprozesse etwas in den Hintergrund gerückt worden. Mit dem Ausdruck »postnational« versuchten Ideologen nationale Besonderheiten zu nivellieren, um zu begründen, dass man die Nation »überwunden« habe und die »Muttersprache« im »Postnationalen« kaum noch Bedeutung besitze. In diesem Punkt taucht bei manchen Autoren auch wieder »Goethe« auf, gegen den man polemisiert.

Doch hinter dieser »postnationalen Verurteilung« steckt ein Denkfehler. Das »Internationale« hat keine gesonderte Existenz. Mit dem Nationalen kennzeichnen wir die Besonderheit von Kulturen und Sprachen in bestimmten Landschaften. Jede Nation geht ihren eigenen Weg. Wer die Geschichte kennt, der weiß, dass es eigentlich nur »Sonderwege« gibt. In jedem Besonderen gibt es aber auch allgemeine Momente. Doch das »Allgemeine an sich«, das »Internationale an sich«, das »Postnationale« – das kann es nicht geben.

151028Esche7691

Insofern sind und bleiben unsere deutsche Nation, die deutsche Nationalliteratur und die Muttersprache auch Grundlage für die Aneignung anderer Sprachen. Grundsätzlich ist die deutsche Sprache, wie jede andere auch, zur Aufnahme fremder Einflüsse in der Lage, vorausgesetzt, man verfügt über nationales, kulturelles Selbstbewusstsein. Dieses Selbstverständnis ist jedoch nicht ohne eine aktive Beziehung auf unsere Sprach- und Literaturgeschichte, auf unser kulturelles Erbe, auf »Weimar« und »Goethe« zu haben, wenn wir nicht in Existenzängste verfallen wollen. Wer dieses kulturelle Erbe ohne Not aufgibt, der erleichtert nicht den Austausch mit anderen Kulturen, nein, im Gegenteil, der erschwert oder zerstört kulturellen Austausch.

Bei den Büchersammlern ist diese Einsicht so selbstverständlich, dass sie sie kaum thematisieren. Dennoch oder gerade deshalb sind die Sammler und ihre privaten Bibliotheken die eigentlichen Bewahrer unseres kulturellen Erbes, wie unserer Zukunftsfähigkeit.

Johannes Eichenthal

 

Information

Klaus Walther/Dieter Lehnhardt: Haben Sie das alles gelesen?

Ein Buch für Leser und Sammler.

366 Seiten, 12,5 × 21,5 cm, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen,

zahlreiche farbige Fotos,

VP 29,90

ISBN 978-3-937654-80-5

9783937654805

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert