Rezension

Zeit für einen Wechsel

Im Herbst-Heft von »Lettre International«, einer europäischen Kulturzeitschrift, finden sich in der Rubrik »Ordnungen im Zerfall« drei besonders interessante Artikel. Wenn Ordnungen zerfallen, dann zerfallen in der Regel auch Denkgebäude. Samuel Huntington war es, der Anfang der 1990er Jahre darauf hinwies, dass mit dem Zerfall der Ideologie des »Ostens«, auch die des »Westens« verschwand. Das beginnende 21. Jahrhundert macht uns überdeutlich, dass die alten Gewissheiten keinen Sinn mehr stiften können. Es ist Zeit für einen Wechsel.

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Hugh Roberts ist Jahrgang 1950 und Professor für die Geschichte von Nordafrika und dem Mittleren Osten an der Tufts Universität in Medford. Zugleich ist er Mitherausgeber des Journals für Nordafrika-Studien. Der Titel seines Beitrages lautet: »Syrien. Die gekaperte Revolution«.

Der Autor macht die Problematik der heutigen Situation deutlich, indem er daran erinnert, dass Damaskus von der Umayaden-Dynastie einst zur Hauptstadt eines islamischen Imperiums gemachte wurde, und dass das Land heute in Trümmern liegt, mit 200.000 Toten und Millionen Flüchtlingen ringen muss.

Jean-Pierre Filiu habe das Scheitern des »arabischen Frühlings« mit einer vom »tiefen Staat« durchgeführten Konterrevolution versucht zu erklären. Aber, so Roberts, »Staat und tiefer Staat sind nicht zweierlei, sie sind aus einem Guss, und das gilt sowohl für Demokratien – oder was wir als solche bezeichnen – als auch für Diktaturen.«

Um die Problematik zu verstehen, müssten zwei Fragen geklärt werden:

1. Warum wurde die nationalistische Bewegung in den arabischen Ländern, besonders in Syrien, militarisiert?

2. Wer sind die wirklichen Hijacker des Arabischen Frühlings?

Zur Beantwortung der ersten Frage verweist Roberts auf die Zerstückelung Syriens durch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges und deren Folgen. Noch 1939 trat Frankreich eine ganze syrische Provinz an die Türkei ab. 1949 habe es in Syrien den ersten Militärputsch in der arabischen Welt gegeben. Der junge Nationalstaat konnte sich aber nicht stabilisieren. Schließlich ging man mit dem Ägypten Gamel Abdel Nassers eine Staatengemeinschaft ein. Aufgrund des israelischen »Präventivkrieges« von 1967 verlor der nicht lebensfähige Staat Syrien auch noch die Golan-Höhen. 1970 habe der syrische Verteidigungsminister Hafiz al-Assad die Macht in Syrien ergriffen, um die abenteuerliche Politik seines Vorgängers gegenüber Israel zu beenden und aus Syrien wieder einen lebensfähigen Staat zu machen: »Unter Assad wurde Syrien zu einer autokratisch regierten Republik.« Diese gegensätzliche Bezeichnung treffe die Sache. Roberts vergleicht an dieser Stelle Assad mit Oliver Cromwell und kennzeichnet zugleich den Unterschied: Die Erbfolge Cromwells wurde zum Fiasko, weil sein Sohn die Liberalisierung versucht habe. Die Erbfolge von Hafiz al-Assad wurde zur Tragödie, weil sein Sohn wie die Herrschenden in Ägypten, Algerien und Jemen fürchtete, dass eine Liberalisierung die ohnehin ernsthaften Probleme der nationalen Sicherheit vergrößern würden. Die Regierung Assad habe 2011 die aufkommenden Reformbewegungen unterdrückt. Es kam darauf zu zornigen Protesten und bewaffneten Aufständen im Zusammenhang des »arabischen Frühlings«.

Hier geht Roberts zu Beantwortung der zweiten Frage über. Er zeichnete die wesentlichen Punkte der Oppositionsbildung, deren Protegierung durch den türkischen Staatschef Erdogan und die Rolle der syrischen Muslimbrüder, des al-Quaida-Ablegers al-Nusra und deren Finanzierung durch die Golfstaaten nach. Er fügt aber an, dass das Verhalten der Golfstaaten wenigstens noch mit einer Machtlogik erklärbar sei, einer Reaktion auf das Erstarken des Irans, in Folge der Beseitigung des irakischen Staates durch die USA im Jahre 2003. Die Golfstaaten wollten mit dem Sturz Assads eine Verbindung zwischen Iran, Syrien und der Hisbolla-Bewegung im Libanon verhindern.

Die Politik der Westmächte sei dagegen nicht rational erklärbar. Roberts verweist auf die einseitige Erklärung von US-Außenministerin Clinton am 30.6.2012 in Genf, die im Kontext der US-Regierungsvorstellung von »Regimewechsel« den Sturz des syrischen Staatschefs Assad zur Bedingung für eine Verhandlungslösung machte.

Zusammenfassend Roberts: »Es geht hier nicht um die Sturheit der einen oder anderen Seite; es geht darum, dass die Westmächte mit ihren Forderungen, Assad müsse gehen, dessen Zukunft zur zentralen Frage und damit eine politische Lösung, die wenigstens der Gewalt ein Ende bereiten würde, unmöglich machten. Und sie taten das im Einklang mit Saudi-Arabien, Katar, Kuweit, den Vereinigten Emiraten und Jordanien, die alle keine Demokratien sind – sowie der Türkei, die unter Erdogan einer autoritären Herrschaft ein gutes Stück näher gekommen ist. Wenn man von einem Hijacking des ‹Arabischen Frühlings› sprechen kann, dann hier.«

Es folgen wichtige Gedanken zum so genannten »Kalifat«. Roberts sieht hier das Bemühen großer Teile der ehemaligen irakischen Staatsstrukturen, eine Art Wiedererrichtung des osmanischen Kalifats zu betreiben, um die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs willkürlich gezogenen Grenzen zu überwinden.

Roberts widmet sich auch ausführlich der Frage, ob der vom Westen geforderte Sturz Assads in der konkreten Situation irgendeine Verbesserung in Richtung Demokratie, dem Kampf gegen IS, der Bewahrung staatlicher Strukturen und dem Ende der Gewalt hätte bringen können.

Roberts zitiert zudem veröffentlichte Dokumente der US Defense Intelligence Agency (DIA) vom 12.8.2012, in dem der Aufstieg des IS als »wünschenswert« im Kampf gegen die Regierung in Damaskus bezeichnet wurde, und in denen die »Möglichkeit der Einrichtung eines salafistischen Fürstentums« angedeutet wird. Roberts verweist hier auf die Diktion des Papieres: es werde nicht davon gesprochen, dass ISIS so etwas wolle, sondern von der Möglichkeit der Einrichtung durch eine dritte Kraft.

In der Folge verweist Roberts auf eine Karte mit einem »Neuen Nahen Osten«, der US War Academie, die eine völlig veränderte Staatenlandschaft zeige, und die in einem militärischen Journal von 2007 in den USA erschien.

Verschwörungstheoretiker, so Roberts, würden angesichts dieser tatsächlich komplizierten Lage sicher behaupten, die Westmächte hätten absichtlich für das entstandene Chaos gesorgt, um so ihre Interessen durchzusetzen. Es sei aber gar nicht nötig, den Westmächten einen bösen Willen zu unterstellen. Es komme im Laufe der Geschichte immer wieder zu solchen »monumentalen Schnitzern«. C. Wright Mills habe es damit erklärt, dass die amerikanische Politik von »realistischen Spinnern« gemacht werde. Realistisch seien sie, wenn es um die Betreibung ihrer Karriere gehe. Unverbesserliche Spinner seien sie, wenn es um die Betreibung der Außenpolitik gehe. Das sei aber durchaus kein rein amerikanisches Phänomen. Ernest Bevin habe formuliert: »Die Mittelklasse pocht auf ihre Überlegenheit im Bereich der Staatsgeschäfte, während ihre Arbeit tatsächlich ein Monument der Inkompetenz darstellt.«

Roberts schildert auf acht großformatigen Seiten die wesentlichen Ereignisse, die zur heutigen Lage Syriens führten. Seine Argumentation ist nachvollziehbar, alle Quellenbezüge werden belegt. Er bezieht das Urteil berühmte Kollegen ein. Dem normalen Menschen vergeht beim Lesen dieser Geschichte »Hören und Sehen«. In der Tat widerspricht das reale Handeln politischer Mächte so ziemliche allem, was in Lehrbüchern und Sonntagsreden gepredigt wird. Vieles wird noch heute in geheimen Absprachen und Übereinkommen geregelt. Es ist erklärbar, dass wir angesichts der diffusen Lage unserer Gegenwart in unseren Erklärungsversuchen bei »Verschwörungen« landen können. Interessant ist dagegen Roberts‘ Versuch, die heutige Situation in Syrien auf »monumentale Schnitzer«, die sachlicher auch als »Fehlleistungen« der westlichen Politik bezeichnet werden könnten, zurückzuführen. Aber es gibt Fehler und Fehler. Echte Fehler werden im Denken und Handeln immer wieder gemacht, weil wir alle Menschen sind. Arroganz ist ein Moment, das unsere Urteilskraft trübt.

Aber selbst wenn wir in unseren Entscheidungen alle Faktoren berücksichtigen, selbst dann wird sich das Ergebnis unseres Handelns von dem unterscheiden, was wir beabsichtigt haben. Die Ursache besteht darin, dass wir unsere Ziele nur allgemein vorwegnehmen können. Die Wirklichkeit ist aber immer vielschichtiger und damit anders als unsere Zielstellung. Korrektur ist deshalb keine Schande. Wir müssen uns immer korrigieren. Deshalb sollten wir auch zu unseren Fehlentscheidungen stehen. Und deshalb sollten Korrekturen in der Politik vom Volk auch gewürdigt werden.

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Pankaj Mishra ist Jahrgang 1969 und Träger des Leipziger »Preises für Europäische Verständigung« von 2014. Mishra überschreibt seinen Artikel mit »ISIS. Die Attraktion des Ressentiments und der bevorstehende Flächenbrand«. Er betont zunächst die fatale Rolle, die die westlichen Machteliten heute spielen: »Die durch bewegliches Kapital, Kommunikation in Sekundenschnelle und die Möglichkeit rascher Mobilisierung gekennzeichneten Globalisierung hat ältere Formen der Herrschaft überall geschwächt – in den sozialen Demokratien Europas ebenso wie in den arabischen Despotien – und eine Vielzahl neuer internationaler Akteure ausgespuckt, mit denen niemand rechnen konnte, von den chinesischen Irrendisten und Hackern bis zu Syriza und Boko Haram. Die deutlichsten Anzeichen einer allgemeinen Verwirrung indes, vor allem in den politischen Eliten, die offenkundig nicht wissen, was sie tun und was sie anrichten, sind das plötzliche Erscheinen des islamischen Staates in Mosul im vergangenen Jahr und der bis heute vergebliche Versuch, seine Expansion aufzuhalten und seine Anziehungskraft zu verringern.«

Mishra verweist darauf, dass die »Bürokratie der Terrorismusbekämpfung«, die »Islamexperten aus dem Stehgreif«, die »Ideologen des Kalten Krieges« und andere mit ihren ideologischen Verlautbarungen ein abgrundtiefes intellektuelles Defizit erzeugt hätten.

Den »Islamischen Staat« definiert er zunächst als Missgeburt eines katastrophalen Krieges, des angloamerikanischen Angriffes auf den Irak. Vor allem mit Literatur-Zitaten versucht er die Weltsicht des von Selbsthass verwirrten und verbitterten Spätankömmlings in der »modernen westlichen Welt« zu verstehen. Seit Puschkin hätten Schriftsteller immer wieder auf die eigentümliche Psychologie des »überflüssigen Menschen« verwiesen. Er zitiert Dostojewski, Turgenjew, Shelley, Carlyle, Novalis, Grillparzer, Joseph Conrad, T. S. Elliot und andere Literaten. Die von der Industrialisierung vorangetrieben Entwurzelung der Menschen bringe neben »Hass« und »Selbsthass« auch die Sehnsucht nach Heimat und festen Regeln hervor.

Die Anziehungskraft solcher Bewegungen wie dem IS führt Mishra auf tief empfundene Unstimmigkeiten von Begriffen wie »Demokratie« und »individuelle Rechte« zurück, mit denen noch die »ideologischen Mauern« eines »offenkundig dysfunktionalen Systems« abgestützt würden: »Die durch wütendes Abstreiten und aggressive Ausflüchte lange unterdrückten Widersprüche und Kosten des einer kleinen Minderheit vorbehaltenen Fortschritts sind in planetarischem Maßstab sichtbar geworden. Sie bestärkt Hunderte von Millionen ‹überflüssiger› junger Menschen in dem potentiell tödlichen Verdacht, dass die gegenwärtige teils demokratische, teils autoritäre Weltordnung auf Gewalt und Betrug gebaut ist; sie heizen eine breitere und explosivere apokalyptisch-nihilistische Stimmung an, als wir je erlebt haben. Berufspolitiker und ihre intellektuellen Lakaien werden ohne Zweifel weiter über ‹islamistischen Fundamentalismus›, ‹westliche Allianz› und ‹Vergeltung auf der ganzen Linie› schwadronieren. Doch ist enorm viel radikales Denken nötig, wenn sie verhindern wollen, dass das Ressentiment noch größere Flächenbrände entfacht.«

Mishra gelingt es, die Psyche radikaler junger Menschen im Nahen Osten deutlich zu machen. Zudem geht er auf die globalen politischen Ursachen heutiger Radikalisierung ein. Mishra zitiert jedoch ausschließlich Literaten der Vergangenheit. Er vermag nicht den Schritt zu tieferen ökonomischen Ursachen und religiösen Faktoren zu gehen. So lässt er uns am Ende verunsichert und ratlos zurück.

Zwei Faktoren müsste man aber in diesem Zusammenhang erwähnen: Das, was »Globalisierung« genannt wird, ist in Wirklichkeit nur der Versuch transnationaler, monopolistischer Unternehmen Produkte und Konsumenten weltweit zu vereinheitlichen. Unternehmensgröße ist immer noch der Maßstab aller Dinge. Die Groß-Wirtschaftsmacht zerstört so in ihrer Hauptwirkung die Vielfalt der Unternehmen weltweit.

Subventionierte Lebensmittelexport der westlichen Staaten bedrohen und zerstören zum Beispiel die Existenz von landwirtschaftlichen Familienbetrieben in Afrika, Asien und Lateinamerika. Diese Betrieb sind aber die Grundlage regionaler Selbstversorgung. Fernand Braudel betonte immer wieder, dass die Schicht der Familienbetriebe so etwas wie die Basis aller wirtschaftlichen Entwicklung selbst in Europa war und ist. Diese Schicht der Familienbetriebe müsste weltweit gestärkt werden, weil sie eine Grundlage regionaler Wirtschaftskreisläufe und der Selbstversorgung ist.

Mishra kritisiert »Islam-Experten«, äußert sich aber kaum zur Religion in unserer Zeit. Die Religion stellte immer das Sinn-Potenzial der Menschheit dar. Einzelne Kirchen und Sekten versuchten den Glauben zu monopolisieren. Aber die Religion gehört der ganzen Menschheit, weil es keine Menschen ohne Hoffnung geben kann. Um die Feindschaft, Zersplitterung und den Missbrauch von Religion zu überwinden, sollten wir uns an Johann Gottfried Herder erinnern: Die wahre Kirche ist immer unsichtbar. Herder meint keine »geheime Kirche«, vielmehr geht es um den inneren Zusammenhang aller verschiedenen Glaubensformen. Dieser Zusammenhang ist unsichtbar, doch er existiert. In seinen Kommentaren zum Alten Testament sprach Herder frühzeitig von einem genetischen Zusammenhang aller Erzählungen von der Schöpfung und dem Anfang der Welt. Es gebe, so Herder, eine »Urerzählung der Schöpfung«, die von jedem Volk nur auf seine Weise »nationalisiert« weitererzählt wurde.

Dieser genetische Zusammenhang ist die Grundlage einer lange fälligen Annäherung aller Kirchen und Religionsgemeinschaften. »Es gibt nur einen Gott, aber viele Heilige Schriften« – wurde eine Ausstellung in Wien vor zwei Jahren benannt. Genau das ist der Punkt. Es gilt alle Eitelkeiten abzulegen und zu gemeinsamen Handeln für den Frieden der Menschheit zu finden. Der Maßstab und das Kriterium aller Kirchen und Religionsgemeinschaften ist die Humanität, stellte Herder klar.

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Alfred McCoy, Jahrgang 1945, Professor für Südostasiatische Geschichte an der Universität von Wisconsin-Madison überschreibt seinen Artikel mit »Das große Spiel. Geopolitik des Niedergangs – Washington vs. Peking im 21. Jahrhundert«. McCoy zitiert zunächst einen US-Mainstream-Ideologen, der die »Überlegenheit der US-Weltmacht« gegenüber China an der größeren Zahl von Verbündeten, Schiffen, Jägern, Raketen, Geld, Patenten und Holywood-Filmen festmachte.

McCoy geht dagegen auf die Anfänge geopolitischen Denkens zurück. Diese findet er in einem Vortrag von Sir Halford Mackinder, des damaligen Direktors der London School of Economics«, aus dem Januar 1904 mit dem Titel »Der geographische Drehpunkt der Geschichte«. Mackinder erklärte seinen Zuhörern aus dem Establishment, dass das größte Gewicht in der Geschichte die ungeheuren Landmasse Afrika/Asien/Europa, die er »Euro-Asien« oder die »Weltinsel« nannte, besitze. Ein allein auf Seemacht und Marinestützpunkte gestütztes Empire habe keine Chance auf längere Existenz. Auf Nachfragen des Militärhistorikers Spenser Wilkinson dehnte Mackinder diese Einschränkung auch auf eine künftige Luftmacht aus. Er wolle nicht diesem oder jenem Land eine Zukunft voraussagen, sondern deutlich machen, dass die Zukunft der Welt von einem Machtgleichgewicht zwischen den Kräften Euro-Asiens und den an den Rändern angesiedelten Seemächten abhänge.

Auf das strategische Denken Großbritannien hatten Vortrag und Veröffentlichungen Mackinders keinen Einfluss. Großbritannien beherrschte von 1815 bis 1914 mit Marinebündnissen mit den USA und Japan die Welt. Doch die Kosten dieser »Weltherrschaft« stiegen. Das 1906 vom Stapel gelaufene modernste Schlachtschiff der Welt »HMS Dreadnought« kostete bereits 1,8 Millionen Pfund (entspricht heutigen 300 Millionen Dollar). Damit wurde das Wettrüsten angeheizt. Andere Länder zogen nach. Großbritannien ging zwar als einer der Siegermächte aus dem Ersten Weltkrieg hervor, dieser Sieg beschleunigte aber den Niedergang des Empires eher noch. Den anschließenden Aufstieg der USA bezeichnet McCoy als »imperiale Erbfolge«. An dieser Stelle fügt er ein, dass Mackinder bereits 1943 in der renommierten US-Außenpolitik-Zeitschrift »Foreighn Affairs« schrieb, dass der amerikanische Traum von einer »globalen Luftmacht« nichts an den geopolitischen Grundlagen ändere. Wenn die UdSSR als Sieger und Eroberer Deutschlands aus dem Weltkrieg hervorgehe, dann müsse sie als die größte Landmacht des Globus gelten.

McCoy zitiert eine Äußerung von Mackinder, wonach die USA ihre Macht nach 1945 aufbauen konnten, weil sie die »beiden Enden der Weltinsel« in Bündnisse (mit ihren besiegten Gegnern des Zweiten Weltkriegs) gegen ihre ehemaligen Hauptverbündeten in diesem Krieg einbanden. Die USA »erbten« das britische Empire mit dem zwanghaften Aufbau eines Netzes von Marine- und Luftwaffenstützpunkten um die »Weltinsel« herum und bauten dieses Netz weiter aus. In den letzten Jahrzehnten habe Washington sein Stützpunktenetz mit modernster Technik ausgestattet. Aufklärungssateliten und Drohnen seien von modernster Bauart. Dennoch stehe die US-Strategie für etwas Altes: »Der unaufhaltsame Aufstieg Chinas zur größten Wirtschaft der Welt dagegen, noch vor einem Jahrhundert unvorstellbar, steht für etwas Neues und droht entsprechend, die maritime Geopolitik zum Kentern zu bringen, welche die globalen Machtverhältnisse seit 400 Jahren prägt.«

China betreibe eine Integration der »Weltinsel« von innen her. China habe sündhaft teure Projekte von Hochgeschwindigkeits-Eisenbahntrassen und spezieller Pipelines realisiert. Man arbeite an der Herstellung eines Wirtschaftsraumes von Schanghai bis Madrid. In den letzten zehn Jahren habe China über eine Billion Dollar in diese Infrastruktur investiert. Dies sei das weltweit größte Investitionsprogramm seit dem Aufbau des amerikanischen Highwaynetzes in den 1950er Jahren. Zwischen 2007 und 2014 habe man 15.000 km Hochgeschwindigkeitstrassen gebaut. Täglich würden auf diesen Linien 2,5 Millionen Menschen befördert. Gleichzeitig habe man auch in den Güterverkehr im Bau der Südroute der transsibirischen Trasse investiert. Deutsche, Russen und Chinesen hätten hier zusammengearbeitet. Von Leipzig bis Chongqing dauere der Eisenbahntransport nur 20 Tage. (Auf dem Sehweg dauere es 35 Tage) 2013 habe die Deutsche Bahn AG mit der Arbeit an einer dritten Route nach China begonnen. Im Oktober 2014 hab der Bau der mit 7000 km längsten Hochgeschwindigkeitstrasse der Welt, zwischen Peking und Moskau, begonnen. Mit weitere Nachbarländern seien gemeinsame Eisenbahntrassen-Projekte im Bau. Mit der russischen Firma Gazprom habe man einen 30-Jahres-Vertrag über jährlich 35 Mrd Kubikmeter Erdgas jährlich abgeschlossen. Eine neue Pipeline wird 2018 in Betrieb genommen. Im Oktober 2014 wurde die Asian Infrastructur Investment Bank gegründet. Trotz Vorbehalte der USA beteiligten sich auch Deutschland, Großbritannien, Australien und Südkorea an deren Gründung. Insgesamt unterzeichneten 57 Mitgliedsstaaten das Gründungsdokument.

McCoy schließt mit einem Vergleich zwischen dem Weitblick eines Sir Mackinder und der heutigen US-Führung: »In Ermangelung des geopolitischen Weitblicks eines Mackinder … hat die gegenwärtige amerikanische Führung noch immer die Bedeutung der jüngsten radikalen Veränderungen im Binnenraum der eurasischen Landmasse nicht erkannt.«

Alfred McCoy legt uns einen anregenden und informativen Text vor. Er stellt Zusammenhänge zwischen dem Britischen Empire, den USA nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart her. Er zitiert berühmte Kollegen, wie Paul Kennedy oder John Darwin, und verweist auf andere wissenschaftliche Ansätze. Aus den Informationen ergibt sich ein neues Bild der bereits stattfindenden Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Russland und China. Aber seinem am Ende zitierten Satz, wonach die gegenwärtige US-Führung die Bedeutung der Veränderung in Euro-Asien nicht erkannt habe, können wir nicht folgen. Man hat in Washington mit einiger Sicherheit die Veränderung in Euro-Asien registriert.

Doch wie müsste die USA-Administration auf die Investition von 1 Billion Dollar in die asiatisch-europäische Infrastruktur reagieren, wenn sie auf der Höhe unserer Zeit wäre? Müsste sie nicht in die Panamerikanische-Infrastruktur investieren, vielleicht sogar erst einmal in die Infrastruktur der USA selbst?

Tatsächlich reagierte die US-Administration mit den alten Handlungsmustern von »Kanonenbootpolitik«, militärischen Drohungen, Embargen, unerklärten Kriegen und immer höheren Rüstungsausgaben. Also mit einem Denken in der »ererbten« Tradition des britischen Empire. Selbst im Niedergang trägt man noch die Last der Tradition

Paul Kennedy hatte in seinem Buch über Aufstieg und Fall großer Mächte auf ein Muster verwiesen. Wirtschaftlich erfolgreiche Staaten legten sich eine Armee zu, um die Errungenschaften zu schützen. Die Armee wurde größer und teurer. Letztlich verschlang die Armee einen Großteil der Ressourcen des Landes, sie war reformunfähig geworden und militärisch zu nichts mehr nütze.

Samuel Huntington hatte in seiner Warnung vor einem »Zusammenprall der Kulturen« 1996 geschrieben, dass die Welt polyzentrisch und multikulturell geworden sei. Dies müsse verantwortungsbewusste Politik zur Kenntnis nehmen. Die Politik der »einzigen Weltmacht« müsse man deshalb durch eine »Politik der kulturellen Koexistenz« ersetzen. Die gewaltsame Verbreitung der eigenen Kultur sei obsolet geworden, mit militärischen Mitteln funktioniere dies erst recht nicht. Im Übrigen, fügte Huntington an, habe die USA weder das menschliche noch das industrielle Potenzial für solche Kriege.

Die Zukunft der Welt hängt heute um so mehr davon ab, ob sich die Menschheit auf ein neues Verhältnis zur Natur einstellen kann oder nicht. Voraussetzung dafür ist das Ende der Kriegführung und die Schaffung von menschenwürdigen Lebensverhältnissen auf der ganzen Erde. Den mächtigsten Staaten der Welt kommt die Rolle zu, auf diesem Weg voranzugehen und ein Beispiel zu geben. Krieg und militärische Gewalt sind keine akzeptablen Mittel auf diesem Weg ins 21. Jahrhundert.

Johann Gottfried Herder führte sein Projekt der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« unter veränderten Bedingungen als »Briefe zu Beförderung der Humanität« weiter. Um 1800 veränderte er seinen Ansatz nocheinmal. In einer eigens gegründeten Zeitschrift mit dem Titel »Adrastea« versuchte er das 18. Jahrhundert zusammenzufassen und einen Ausblick auf das 19. Jahrhundert zu geben. Die Göttinnen der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, so in Herders Erklärung, hätten in der Geschichte immer für eine Vergeltung gesorgt. Auf ein Extrem in der Behandlung der anderen Seite sei dieses Extrem nach einiger Zeit auf die Verursacher zurückgeschlagen. Herder hatte hier die Französische Revolution im Auge. Aus der Einsicht in das Gesetz der Vergeltung, so Herder, sollte man sich im Umgang mit den anderen Menschen, Völkern und Nationen vor solchen Extremen hüten. Diese kämen auf den Verursacher zurück. (Interessant ist dass Albert Camus, dem Anschein nach ohne Herder-Kenntnisse, in den 1960er Jahren auf eine ähnliche Sicht kam.) Diese Erkenntnis ist in vielen Religionen eine Grunderfahrung. Insofern ist es ermutigend, wenn man bei McCoy liest, wie China einer Konfrontation mit den USA ausweicht, eben kein Marine- und Luftwaffenstützpunktnetz um die USA herum installiert und auf sanftem Weg die wirtschaftliche Zusammenarbeit in Euro-Asien ausbaut.

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Zusammenfassung: Der Zeitschrift »Lettre international« ist zu danken. Eine solch informative Anregung zum eigenen Denken und zu einer offenen Debatte findet man leider selten. Der »normale« Mensch spürt selbstverständlich auch, dass unsere Welt aus den Fugen geraten ist. Die alten ideologischen Gewissheiten aus dem Kalten Krieg sind heute nur noch hohl und ohne Sinn. Daran ändert auch deren permanente mediale Wiederholung nichts. Es ist Zeit für einen Wechsel. Ein europäisches Selbstverständnis existiert noch nicht. Das klassische Weimar nahm diese Aufgabe einst genial vorweg. Neben der griechischen und römischen Antike wurde der Orient zum Quell des europäischen Denkens. Vor allem über Johann Christian Heyne, den Chef der Göttinger Universitätsbibliothek, wurden die Werke der Göttinger Orientalisten für Weimar erschlossen. Johann Gottfried Herder entdeckte 1771 die Publikation von persischen »Zaratustra-Texten« durch den französischen Orientalisten Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron. Begeistert berichtete er in Briefen von zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen mit der Genesis und dem Johannis-Evangelium. An diesen Errungenschaften des klassischen Weimar muss man anknüpfen, wenn es um europäisches Denken und europäische Kultur geht. Wir brauchen dazu öffentliche Debatten, die auch Vorbild für die privaten Debatten sein können. Nochmals vielen Dank »Lettre«.

Johannes Eichenthal

Information

www.lettre.de

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