Rezension

WIEDERGELESEN: BEKENNTNISSE FÜR MEINEN STIEFSOHN

Katharina Kammer veröffentlichte ihr Buch mit dem Titel »Bekenntnisse für meinen Stiefsohn« im Jahre 2005. Auf dem Titel steht die Genrebezeichnung »Roman«. Dem Text ist ein Petrarca-Zitat vorangestellt: »Auf dem Pferd des Todes reitet die Liebe.«

Der Plot ist schnell erzählt. Die Autorin lebt in der Nähe der großen Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt, im fiktiven Städtchen »Friedrichsburg«, in dem der ortskundige Leser unschwer Augustusburg erkennt. Fünfzehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes Karl Veken, sie nennt ihn hier »Franz Glaser«, der bis 1940 als Exilant in Paris lebte, meldet sich ein junger Mann, Victor Glaser, der sich als Sohn Franz Glasers zu erkennen gibt. Der entstehende Briefwechsel mit dem Stiefsohn und die gegenseitigen Besuche am Ende der 1980er Jahre lassen den Leser Schritt für Schritt die Familiengeschichte nachvollziehen. Dem Ehepaar Franz Glaser und Esther Fromm wurde 1940 in Paris der Sohn Victor geboren. Noch im gleichen Jahr verhaftete die Gestapo Franz Glaser und brachte ihn nach Deutschland. Seine jüdische Frau wurde von den französischen an deutsche Behörden ausgeliefert und gemeinsam mit dem Sohn in einem Lager inhaftiert. Französischen Bekannten gelang die Befreiung Victors durch den Nachweis, dass sein Vater »Arier« sei. Esther Fromm wurde 1942 nach Auschwitz verbracht und dort ermordet. Franz Glaser erhielt davon Kenntnis und glaubte bis an sein Lebensende, Frau und Kind verloren zu haben.

Foto: Katharina Kammer am 17. März 2015 in der Stadtbibliothek Annaberg-Buchholz, anlässlich der Auflösung des Schriftstellervereins Chemnitz-Erzgebirge

Die Form des Briefwechsels verschafft der Autorin, die vom Jahrgang 1920 ist, die Distanz, auf das eigene Leben nüchtern zurückzublicken. Zudem zeigt sich, dass die fiktionale Namensverfremdung, die die Autorin vornimmt, Moment der klassische Methode ist, um Distanz zur eigenen Lebensgeschichte zu gewinnen und um Gefühle an der Oberfläche »auszukälten«. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich für Katharina Kammer, wie für ihre Generation, die Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg verbunden. Ihre Erinnerungen machen das Selbstbewusstsein einer Frauengeneration deutlich, die während des Krieges die Hauptlast tragen musste. Der Selbstbewusstseinsschub ist in ihrem Erzählen unüberhörbar. Ähnlich der Schauspielerin Jutta Hoffmann, in dem legendären DEFA-Film »Der Dritte«, sucht sich Kammer ihren Mann selbst. Die Erinnerungen der Autorin erzählen von dieser Suche nach »dem Richtigen«. Das Schicksal wollte es, dass wir dabei einige Vertreter jener linken bürgerlichen Intellektuellen kennen lernen, die sich der Zukunft des vereinten Deutschlands als eines »Kulturstaates« verschrieben hatten, und die nach der Spaltung Deutschlands, und der Etablierung der Bundesrepublik als »Wirtschaftsstaat«, versuchten, die Orientierung an der Kultur, trotz aller Widrigkeiten, in der kleinen DDR doch zu verwirklichen. Im Roman heißen diese Intellektuellen »Robert Landberg«, »Alfred Breuer« und »Franz Glaser«.

 

Foto: Katharina Kammer zur Lesenacht in der Stadtbibliothek Chemnitz am 27. Oktober 2012

Die Erinnerungen Kammers berühren auch Ihre Kontakte mit der Führung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt, um 1986, nach dem Eintreffen des Briefes aus Paris, um eine Reise zu Ihrem Stiefsohn bewilligt zu bekommen. »Roland Reißner«, so nennt sie den 1. Bezirkssekretär der SED, wird sehr präzise und nuanciert dargestellt. Die Autorin hat einen Sinn für Atmosphäre und für Details. Aufmerksam konstatiert Kammer Veränderungen in der Büroeinrichtung und im Habitus des »Ersten«. Es fallen ihr zunehmende Kraft- und Mutlosigkeit jener Generation in den Vierzigern auf, von denen viele Menschen in der DDR einen Generationswechsel des Führungspersonals erhofften. Doch diese Generation vermochte es nicht, die senile und machtversessene Berliner Führungsschicht rechtzeitig abzulösen. Die Hoffnungen auf echte Reformen wurden enttäuscht.

 

Foto: Katharina Kammer am 22. Mai 2014 in der Stadtbibliothek Chemnitz

Zusammenfassend kann man sagen, dass Katharina Kammers Buch die Bezeichnung »Roman« verdient. Sie erzählt gekonnt und amüsant von der abgeschlossenen Epoche 1945–1990 ostdeutscher Geschichte. Mit ihrer Konzentration auf die »Kultursphäre« trifft sie die »Seele« des untergegangenen Staates. Die Erzählerstimme einer Frau verleiht der Geschichte besondere Authentizität. Jenseits von ideologischen Klischees und »holzschnittartigen Charakteren« liefert Kammers Erzählung interessante Innenansichten. Der Roman ist deshalb geeignet, um so reichere Assoziationen in unserem Kopf hervorzurufen, je weiter wir uns vom Jahr 1990 entfernen. Dabei ermöglicht der Text Horizonte, die wahrscheinlich sogar über die Intentionen der Autorin hinausgehen. Man wird den Roman deshalb wohl auch in 100 Jahren noch lesen.

Foto: Dank an Katharina Kammer nach der Lesung am 16. August 2013 in der Wetzelmühle Niederfrohna

Katharina Kammer verstarb am 28. September 2017, einen Tag vor ihrem 97. Geburtstag. Am 24. Oktober 2017 wurde sie auf dem Friedhof ihres geliebten Städtchens Augustusburg beigesetzt.

»Auf dem Pferd des Todes reitet die Liebe.«

Clara Schwarzenwald

 

Informationen

Katharina Kammer: Bekenntnisse für meinen Stiefsohn. Verlag am Park 2005. ISBN 3-89793-111-7

Nur noch antiquarisch erhältlich

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