Reportagen

Volker Braun in Chemnitz

Elke Beer, die Leiterin der Stadtbibliothek Chemnitz, eröffnete am Abend des 25. Oktober vor Gästen einer Lesung die bundesweite Aktionswoche »Treffpunkt Bibliothek. Information hat viele Gesichter« in Chemnitz. Sie hob hervor, dass Bibliotheken zu den am meisten frequentierten öffentlichen Einrichtungen in den Stadtzentren gehören, dass aber bei Bibliotheken in Krisenzeiten häufig zuerst Mittelkürzungen erfolgten.

Mit Freude begrüßte Frau Beer den bekannten Autor Volker Braun. Dieser las aus seiner eben erschienenen Erzählung »Die hellen Haufen«. Im Mittelpunkt der 97-Seiten-Erzählung stehen »Privatisierungen«, die die »Treuhandanstalt« Anfang der 1990er Jahre im Thüringer Kali-Bergbau vornahm, sowie die Reaktion der betroffenen Bergleute.

Braun las in seiner stark reflexiven, lyrischen Sprache. Man muss ihn wenigstens ein Mal gehört haben, um seinen Sprachrhythmus aufnehmen zu können. Wie immer entwickelte Braun einprägsame Bilder. Die Arbeit im Berg war schon in seiner Schwarzenberg-Erzählung eine Metapher für unser Leben, in der Dunkelheit, in unseren Stollen, ohne zu wissen, was die anderen machen usw. Aber auch solche Formulierungen wie, die Treuhand verkaufe die Berge und lasse sie anschließend platt machen, bringen uns zum »Stolpern« und Nachdenken.

Das erfreulich zahlreiche Publikum lauschte der anspruchsvollen Sprache Brauns mit großer Aufmerksamkeit. Man konnte die Zitate und Andeutungen aus der mitteldeutschen Sprachlandschaft und Sprachgeschichte kaum fassen. Luther, Novalis und Goethe wurden ausgemacht. Der Bauernkrieg spielt eine Rolle. Braun las eigentlich aus einer Art (Text)-Gewebe mit unterschiedlichen Sprachschichten.

Das Handeln der Personen stellt Volker Braun in konzentrierter, dramatischer Form vor. Mit leicht abgewandelten Namen wirklicher Akteure und einigen unstrittigen Fakten versucht Braun den Anschein zu erwecken, dass alles so gewesen hätte sein können, als ob die Menschen ihr Schicksal wirklich selbst hätten bestimmen wollen.

Das Publikum folgt dem Erzähler, der die Situation in seiner Handlung immer mehr eskalieren lässt. Die anfänglich friedlichen Proteste gegen den Verkauf des früheren »Volkseigentums« schlagen in gewaltsame Auseinandersetzungen um. Noch vor dem Schluss seiner Erzählung bricht Volker Braun seine Lesung ab. Der Ausgang blieb dem Zuhörer also offen.

Schließlich werden Zuschauerfragen zugelassen. Braun verrät dann seine Pointe. Einerseits habe er darstellen wollen, dass 1990 das Volk ein Recht auf Anteil am »Volkseigentum« hätte anmelden können. Anderseits schilderte er, dass die neue Staatsmacht dies nicht hingenommen hätte. Aus diesem Widerspruch bezieht die Erzählung ihre Spannung, ihre Fiktion: »Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, dass sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte.«

Das steht noch einmal auf der Umschlagrückseite zu lesen. Damit demonstriert Braun, dass er dem großen Motto des Erzählens – es hätte so gewesen sein können – treu geblieben ist.

In unserer Zeit, in der die Sumpfgewächse schon für Rosen gehalten werden, wirkt eine solche Intention konservativ. Und es geht Braun dem Anschein nach auch um das Bewahren. Zugleich thematisiert er aber das Fragwürdige unserer Zeit. Zudem erfordert die Sprache Brauns, dass man die Anstrengung der Lektüre auf sich nimmt. Es gibt jedoch keinen Genuss ohne Anstrengung (Klaus Walther).

Kommentar

Ein Romancier muss selbstverständlich keine Begriffe definieren. Der Text Volker Brauns regt gerade mit seinen Ambivalenzen zum Nachdenken an.

War das »Volkseigentum« in der DDR nicht doch nur »Staatseigentum«?

Hat sich das »Volk« damit identifiziert oder nicht?

Hatte vielleicht Günter Reimann Recht, der 1946 an Herbert Wehner schrieb, dass das, was in der UdSSR herrsche, kein »Sozialismus«, sondern »Staatskapitalismus« sei?

Dominierten nicht in »Ost« und »West« die große Industrie und das industrielle Verhältnis zur Natur den gesamten Lebensprozess?

War nicht in »Ost« und »West« alles auf »Wachstum, Brutto, Masse und Umsatz« ausgerichtet?

Hätte nicht 1990 die Dominanz der großen Industrie überwunden werden müssen, um zukunftsfähig zu sein?

War die Antwort des Westens auf den Sieg im Kalten Krieg, der Neoliberalismus und der Neokonservatismus der 1990er Jahre mit der Fixierung auf kurzfristige maximale Gewinnen um jeden Preis, nicht das Gegenteil dessen, was notwendig gewesen wäre?

Wurde nicht von Rem Koolhaas und Jacques Derrida bereits in den 1980er Jahren das Konzept der Dekonstruktion vorgestellt, der Entflechtung des 300-jährigen Zentralisierungsprozesses im »Westen«?

Müsste dieses Konzept nicht heute mit Dezentralisierung, Selbstverwaltung und Selbständigkeit ergänzt werden?

Es gehört zu den Merkmalen großer Literatur, dass sie uns individuell zum Nachdenken anregt. Und, Braun bleibt sich auch in dieser Erzählung treu: Antworten können wir nicht vom Staat erwarten, auch nicht von einem Autor, wir werden uns selber helfen müssen.

Johannes Eichenthal

 

Information

Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung. Suhrkamp-Verlag.

ISBN 978-3-518-42239-7

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