Rezension

SPRACHE UND EIGENSINN – VON DEN MINNESÄNGERN BIS HERDER

Sehr geehrte Damen und Herren, wir freuen uns, Ihnen einen Gastbeitrag Prof. Dr. habil Volkmar Kreissigs vorstellen zu dürfen.

Johannes Eichenthal

Der Autor entdeckt und praktiziert während der Zeit der Corona Virus Pandemie und der damit verbundenen Reglementierungen sozialer Beziehungen und sozialen Abstands eine Idee von Theodor Fontane wieder – Wanderungen durch die nähere Heimat. Das macht vertraut mit ihrer Geschichte, den historisch bedeutsamen Orten, Schlössern, Klöstern und Universitäten, den Landschaften und bekannten aber auch z.T. vergessenen oder weniger bekannten Denkern, Wissenschaftlern, Technikern Mitteldeutschlands. Sicherlich will der Verfasser auch einen Beitrag leisten zum Wiedererstehen mitteldeutscher Identität durch Demonstration der Genese der Sprache, der Akteure und ihres »mitteldeutschen Eigensinns«.

Schlosspark Herrenhausen bei Hannover. Hier wanderte Gottfried Wilhelm Leibniz

Gleichzeitig macht er aufmerksam auf die historische Bedeutung Mitteldeutschlands für die Entstehung und Ausprägung der deutschen National- und Schriftsprache als gesamtdeutsches und europäisches Kommunikationsmittel, auf das wir stolz sein können. Mehr als 100 Millionen Europäer sprechen deutsch als Muttersprache. Bedeutende künstlerische, wissenschaftliche und populäre Werke sind mit der deutschen Sprache verbunden, wenngleich sich Englisch aus verschiedenen Gründen als dominante Sprache in der Kommunikation in Europa durchgesetzt hat, obwohl als Muttersprache von einer Minderheit gesprochen. Mehr und mehr Europäer und sonstige Zuwanderer lernen deutsch, um im deutschen Sprachraum zu studieren, arbeiten und zu leben. 

In der sogenannten Venusbastei, einem Teil der Dresdner Festungsanlagen, war ein Porzellan-Laboratorium Ehrenfried Walther von Tschirnhausens eingerichtet

Der Autor geht in diesem Zusammenhang auch implizit der Frage nach, welchen wichtigen Beitrag zur Ausprägung deutscher Tradition, Wissenschaft und Dichtung in der Mitte Deutschlands durch Theologen, Sänger, Denker, Pädagogen etc. geleistet wurde. Letztendlich übersetzte Martin Luther hier auf der Wartburg die Bibel vom volksfernen Latein in die Sprache des Volkes, dem er »auf das Maul schaute«. 

Die Wartburg bei Eisenach, neben Wien das literarische Zentrum um 1200

Inwieweit der Autor sich bei seinen Wanderungen an Fontane angelehnt oder ihn als Vorbild gewählt hat, soll hier nicht erörtert werden. Fontane porträtiert wandernd auch Frauenfiguren wie Rachel Felix, Charlotte von Friedland und Julie von Voß, die Mätresse Friedrich Wilhelms des II. 

Frauen spielen auch im Buch über Mitteldeutschland vor allem bei der Herausbildung von Sprache und Kultur eine wichtige Rolle obwohl eben die damalige bis in die Neuzeit dominante Männergesellschaft auch in Mitteldeutschland ihre Spuren hinterließ. Wobei interessant ist, dass die beiden, die Reformation und den Bauernkrieg prägenden Figuren, Martin Luther und Thomas Müntzer, sich jeweils mit ehemaligen Nonnen verheirateten. Allerdings sind deren Figuren nur erwähnt. Über den Einfluss auf ihrer Männer sollte nicht spekuliert werden. In der deutschen Fernseh-Verfilmung sind aber die Rolle zumindest von Katherina von Bora und ihr Wirken an der Seite Luthers sowie bei der Durchsetzung einer neuen Dominanz von Frauen hinreichend dargestellt. Über das Wirken von Ottilie von Gersten, der Frau Müntzer̓s, ist weniger bekannt. Aus der damaligen Männergesellschaft schon feministische Tendenzen und bedeutende Einflüsse von Frauen im politischen Geschehen herauslesen zu wollen, ist dem Schreiber dieser Zeilen fern. Interessant ist aber auch die Bedeutung von Mechthild von Magdeburg und ihrer Geistesverwandten Frauen des Konvents von Helfta für die deutsche Sprache. Elisabeth von Thüringen wird erwähnt.

Wittenberger Marktplatz, in der Bildmitte die Stadtkirche St. Marien, in der Martin Luther predigte

Ziel des Buches ist: Wanderungen im historischen mitteldeutschen aber für Gesamtdeutschland bedeutsamen Kontexts zu beschreiben, Eindrücke der Landschaften und der wichtigen Akteure zu vermitteln und vor allem keine Enzyklopädie vorzulegen. Dr. Eichler erhebt auch ebenso wie Fontane nicht den Anspruch einen historischen Entwurf zu liefern, sondern beschreibt die Figuren im historisch-politischen Zusammenhang. Dass er als promovierter Philosoph gerade Philosophen und Theologen in den großen Spannungsbogen Mitteldeutscher Tausendjähriger Geschichte stellt, entspricht seinem intellektuellen Faible. Der von ihm »geliebte« Herder, über den er wissenschaftlich arbeitete, bekommt einen wichtigen Platz. Zu hoffen ist, dass wie beabsichtigt, ein oder mehrere weitere Bände folgen. 

Die Albrechtsburg in Meißen. Hierher ging das literarische Erbe der Thüringer Landgrafen Mitte des 13. Jahrhunderts

Das vorliegende Exemplar geht in seiner exzellent kombinierten Gestaltung vom Design und Inhalt weit über einen einfachen Wanderführer hinaus. Für den an deutscher Sprache, Baukunst, Wissenschaft und Geschichte sowie an unserem mitteldeutschen Bildungssystem interessierten Leser – namhafte Universitäten wie Leipzig, Jena und Frankfurt- und mitteldeutsche Eliteschulen – wie z.B. St. Afra in Meißen und Schulpforta – spielen eine wichtige Rolle – ist die Beschreibung Eichler‘scher Wanderungen sinnstiftend.

An der Arnstädter Kirche fand Johann Sebastian Bach seine erste Anstellung als Organist

Orte von A bis Z – Allstedt bis Zwickau – werden durch- und erwandert. Das Kreuz der Wanderungen und der intellektuellen Beziehungsgeflechte, die sich aus den Begegnungen mit den beschriebenen Figuren, Orten und Zusammenhängen bilden, generiert sich in Mitteldeutschland. Es reicht im Eichler’schen Verständnis von Bremen bis nach Prag und von Frankfurt bis Königsberg. Letzterer Ort ist schlechthin zu erwandern ebenso wie die, in diesem Zusammenhang erwähnten Universitätsstädte Dorpat und Reval. Auch das von Eichlers privilegiertem Herder frequentierte Riga dürfte schwer auf »Schusters Rappen« von Mitteldeutschland aus erreichbar sein. Aber vielleicht stehen diese Reisen ins Baltikum und nach den Niederlanden Spinozas und dem intellektuell beeinflussenden Frankreich später einmal auf dem Wander-Programm von Dr. Eichler und seiner Frau Birgit, wenn die Corona Regelungen das wieder zulassen. Die Bezüge anderer bedeutender Publikationen des Eichlerʾschen Mironde-Verlags zur mitteldeutschen Automobilgeschichte laden ja auch zu kombinierten, historischen Automobilfahrt-Wanderungen ein. Vielleicht stellen die Auto-Union oder die Verlags-Fans solcher Literatur mal einen Oldtimer zur literarisch philosophischen Baltikum-, bzw. Frankreich-Holland-Rallye Erkundung aus dem mitteldeutschen Raum heraus zur Verfügung? 

In Wechselburg an der Zwickauer Mulde lebte der Dichter Paul Fleming mit seinen Eltern

Das Büchlein lädt namentlich ein zum Wandern auf den fast ein Jahrtausend alten Pfaden Mitteldeutschlands. Es führt uns zu bedeutenden Orten deutscher Geschichte, die eng verbunden sind mit dem Entstehen deutscher Sprache, Literatur, der Baukunst dieser Jahrhunderte, mit den Akteuren deutscher Vergangenheit und mit der Herausbildung unserer mitteldeutschen Tradition. In einer Zeit, in der Wanderungen – nicht nur aus Covit-19 Gründen – wieder attraktiv sind, wird uns die Herkunft unseres Volkes, seiner Literatur und Denker bewusst. »Von den Minnesängern bis Herder« erinnert, ohne irgendwelchen aus dem rechtsnationalen politischen Spektrum verbreiteten volkstümelnden propagandistischen Halbwahrheiten zu folgen, an Wurzeln unserer Herkunft als Volk der Dichter und Denker. Es zeigt unsere Spaltungen und Einigungen, unsere Konflikte und Gemeinsamkeiten. Besonders Sachsen, Anhalt und Thüringen sind durch die »Sekundogenitur«-Nebenlinien und Erbteilungen typisch für Spaltung ebenso wie für folgende Vereinigungen. Sprache und Kultur bildeten immer den einigenden deutschen Rahmen, der nicht nur von Weimar ausgehend gesetzt wird.

Auf der Neuenburg bei Freyburg schrieb Heinrich von Veldeke am Ende des 12. Jahrhunderts den ersten Roman in mittelhochdeutscher Sprache

Der »deutschen Einheit« und der »deutschen Zwietracht« mitten ins Herz, ist das Wanderbuch auch gewidmet und dem Willen als Kulturvolk zusammenzuwachsen, in der Sicht auf den europäischen Rahmen und Verbund. Die Strahlen des Wirkens unserer Denker – Literaten, Philosophen und Theologen, Naturwissenschaftler, Künstler und Techniker führen uns zu den Grundlinien unserer deutschen Herkunft und zeigen uns Wege, die unsere Vorfahren gegangen sind zum Kulturvolk in der Mitte Europas. Das deutsche Volk, dessen kulturelles Erbe gerade in der Gegenwart wichtig und hervorzuheben ist. 

Paul-Fleming-Denkmal in Hartenstein an der Zwickauer Mulde. Hier wurde der Dichter geboren

Das Wanderbuch steht im Widerstreit der Darstellungsweisen jener, die heute Geschichte und Inhalt der Betrachtung unseres kulturellen Erbes verdrehen wollen und es im Sinne »völkischer Traditionen« missbrauchen möchten. Solche Bestrebungen, die im Zusammenhang mit Kyffhäusertreffen und ähnlichen symbolischen Aktionen stehen, haben unser Volk nicht nur im sogenannten »Tausendjährigen Reich« in den Abgrund und im letzten Jahrhundert in zwei verheerende Weltkriege geführt. Nach nunmehr 30 Jahren friedlicher deutscher und europäischer Vereinigung versuchen jene Kräfte wieder politische Führung zu erlangen, die eben dafür stehen, dass deutsche Kultur und Geschichte oftmals umgedeutet und im Sinne aggressiver deutscher Erhebung über sogenannte andere »niedrige Völker« benutzt wurden.

In der Leipziger Thomaskirche führte Johann Sebastian Bach auch sein Weihnachtsoratorium auf, in dem er die Jesus-Erzählung wieder in die Form des Epos brachte

Stolz auf historische Leistungen zu sein, der geschöpft ist aus dem Rahmen mitteldeutscher Figuren, Geschichten, Lebenswegen, ist angebracht. Dies hat nichts mit »dumpfen« Nationalismus oder Chauvinismus zu tun. Auch die Grundidee der Völkerverbindung wird nach Ansicht des Lesers vom Buch, das eine ausgezeichnete Gestaltung und Wortführung aufweist, vermittelt. Die Auswahl der Figuren und ihrer Wander- und Erkenntniswege sowie Herkunftsdarstellungen ist interessant. Es erhebt sich oftmals die Frage, warum wurde denn nicht dieser und jener unserer bekannten mitteldeutschen Vorfahren mit ausgewählt? Die Wahl liegt beim Verfasser und ist vom Leser zu bewerten.

Stendaler Marktplatz. In der Stadt wurde Johann Joachim Winckelmann geboren

Es soll jedoch noch mindestens ein weiterer Band folgen, auf den wir mit Spannung warten dürfen. Der Personen- und Ortsrahmen wird dann erweitert und vervollständigt. Aber Wanderungen sind eben auch Wahlen und Entscheidungen an Kreuzwegen. Das wir wandernd Erinnerungen an unsere Geschichte auffrischen und uns andere oft vergessene Akteure und Plätze einfallen, ist dabei eine positive Nebenwirkung. Wir sind auch an Plätze unserer Jugend erinnert, die wir im Rahmen von Aufenthalten in Klassenverbänden anlässlich von Jugenherbergs-Besuchen in unserer engeren Heimat, vielleicht schon oder noch nicht kennen gelernt haben. Heute führen unsere Schüler solche Ausflüge meistens in europäische Metropolen, auch jene der deutschen Kultur – wie Frankfurt, Dresden und Leipzig. Leider ist das ehemalige Schulfach »Heimatkunde«, das nahräumlich geografische, biologische und historische Bildungsinhalte in Form von Allgemeinbildung vermittelte, durch Sachkundeunterricht abgelöst worden. Das geschah in der alten Bundesrepublik in den 60-er Jahren während es dieses Fach in der DDR noch bis 1989 gab. Die Kenntnis der engeren Heimat kommt deshalb heute manchmal ein wenig zu kurz. Vor allem weil auch Orte wie Schulpforta, Mühlhausen, Meißen, Naumburg, Zwickau, Zschopau, Görlitz, Kamenz, Erfurt, Weimar und Halle etc. nicht für das »allgegenwärtige« Partygeschehen, das z.T. unsere Jugend begeistert, so vordergründig geeignet sind. Diese Orte regen eher zum Verweilen und Nachdenken an. Das heißt nicht, dass Jugend nur Nachdenken sondern auch feiern und ihre jungen, friedlichen Jahre genießen soll. 

In Görlitz lebte und arbeitete der Liebhaber der Weisheit Jakob Böhme

Durch Thüringen, Sachsen und Anhalt sind oft genug Truppen europäischer Nationen plündernd und brandschatzend gezogen. Heute herrscht Friede, an den erinnert vor allem Herder am Ende der »Wanderungen«. Davon spricht das Buch nicht explizit, das ist nicht das Anliegen. Es vermittelt aber in allem diesen Eindruck – tiefen Friedens. Dennoch sei eine kurze Bemerkung dazu angebracht. Kulturelle Werte wurden bei kriegerischen Auseinandersetzungen auch in Mitteldeutschland oft genug zerstört. Das vom Verfasser bezweckte Völker Verbindende der literarischen, architektonischen mitteldeutschen Entwicklung darzustellen wurde oft ins Abseits gestellt. 

Büste Johann Gottfried Herders im Seifersdorfer Tal

Der Spannungsbogen der Figuren, der kurzen beschreibenden Handlungen der historischen Akteure und Orte reicht vom frühen Mittelalter im ABC von Heinrich von Veldeke – V – und den uns bekannten Minnesängern über Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhardt, den Frankfurter, Martin Luther und Thomas Müntzer bis zu Paul Fleming und Gottfried Wilhelm Leibnitz, Johann Sebastian Bach – B-, über die Neuberin, Winckelmann und Lessing zu Herder. 

Im preußischen Halle gründete der aus Sachsen vertriebene Christian Thomasius die Universität

Gespannt bin ich persönlich, welchen Personen und welchen Orten das Ehepaar Eichler im nächsten Bande zuläuft oder -wandert. 

Mir hat das Buch sehr viel Freude bereitet und ich werde einige Exemplare erwerben. Ich will sie sie meinen, interessierten Freunden als inhaltsvolles und gut inhaltlich und gestalterisch verarbeitetes Kleinod überreichen. Sie können sich am Inhalt, den Schilderungen der in die Entstehung des Protestantismus eingebetteten Geschichte und Sprache sowie an der Schilderung und bildlichen Darstellung der Natur- und architektonischen Schönheiten erfreuen. Ich würde mir die Herausgabe eines oder mehrerer weiterer Bände diesen Sujets vom Mironde-Verlag erhoffen und diesen Erfolg sowie vielleicht auch weitere Auflagen wünschen. 

Denkmal für Herzog Ernst von Sachsen-Gotha und Altenburg, dem Bewahrer des Erbes Wolfgang Ratkes, vor Schloss Friedenstein in Gotha

Prof. Dr. habil. Volkmar Kreissig

DAAD Senior-Professor an der staatlichen landwirtschaftlichen Universität Chisinau/Moldawien 

Information

Andreas Eichler: Von den Minnesängern bis Herder. 

Sprache und Eigensinn. Teil 1.

23,0 × 23,0 cm, 320 Seiten, fester Einband, 203 farbige Abbildungen, 22 Karten Bis 31.12.2020 nur 29,34 €

ISBN 978-3-96063-025-8

In allen Buchhandlungen oder direkt beim Verlag erhältlich: http://buchversand.mironde.com/epages/es919510.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/es919510/Products/9783960630258

Der zweite Teil soll die Zeit von Herder bis zum Ende des 20. Jahrhunderts umfassen.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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