Essay

HEGEL UND DAS ENDE DER GESCHICHTE

Georg Friedrich Wilhelm Hegel wurde am 27. August 1770 als Sohn eines Beamten in Stuttgart geboren. Nach dem Gymnasium studierte er ab 1788 am Herzoglichen Tübinger Stift evangelische Theologie. 1790 verteidigte er seine philosophische Magisterarbeit und 1793 seine theologische Dissertation. Seine bedeutendsten Freunde wurden hier Friedrich Hölderlin (1770–1843) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Wie diese beiden schlug auch Hegel nach dem Studium nicht die Pfarrerlaufbahn ein. Auf die obligatorischen Tätigkeit als Hauslehrer in Bern, Genf und Frankfurt kam er 1801 nach Jena, wo Schelling eine Professur inne hatte, und reichte im gleichen Jahr seine Habilitationsschrift ein, hielt Vorlesungen als Privatdozent und wurde 1805 zum außerordentlichen Professor berufen. 1807 übersiedelte Hegel nach Bamberg und begann 1808 die Tätigkeit als Rektor des Ägidien-Gymnasiums in Nürnberg. 1816 übersiedelte er nach Heidelberg und hielt Vorlesungen. 1818 wurde er vom preußischen König als Professor an die neu gegründete Berliner Universität berufen.


Dort erlangten seine Vorlesungen große Anziehungskraft weit über die akademische Welt hinaus, besonders seine Weltgeschichtsvorlesungen, die er in den Jahren 1822, 1824, 1826, 1828 und 1830 hielt. Der Name Hegel steht insgesamt für eine nüchterne Inventur des europäischen Aufklärungsdenkens nach der französischen Revolution von 1789 und seiner Weiterführung nach dem Wiener Kongress von 1815. Hegel begrüßte sein Leben lang die Revolution als »Sonnenaufgang«, konstatierte aber, dass Maximilian Robespierre (1758–1794), der Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit reklamierte, nur einen Gesinnungsterror hervorbrachte. Er fasste diese Phase unter dem Ausdruck »Moralität des Herzens« zusammen. Das Credo der Moralisten laute: »Willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich Dir den Schädel ein!« In den Zeiten nach dem Wiener Kongress wagte Hegel in seinen Vorlesungen über demokratische Verfassungen und demokratische Republik zu sprechen. Insgesamt erlangte seine Philosophie einen gesellschaftlichen Einfluss, der bis in unsere Gegenwart reicht. Deshalb wollen wir heute an seinen 250. Geburtstag erinnern.

Hegels Berliner Weltgeschichtsvorlesungen liegen in soliden Publikationen vor (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Vernunft in der Geschichte 2 Bde. Berlin 1970 = VIG). Der Text wurde aus zahlreichen Hörermitschriften rekonstruiert. Hegel schickt der eigentlichen Darstellungen zunächst eine Einleitung voran, die allein 281 von 942 Seiten ausmacht (VIG, I, S. 1–281). Seit Immanuel Kant (1729–1804) ist es üblich geworden, dass jeder Professor eine eigene Terminologie entwickelt. Eine sektenartige Anhängerschaft pflegt damit eine Art von Eingeweihten-Jargon. Die Kant-Kritik war prägend für das Hegelsche Werk. Trotz oder gerade wegen dieser Auseinandersetzung übernahm Hegel von Kant die Annahme, dass das Ich-Bewusstsein die Quelle der theoretischen Vernunft sei (VIG, I, S. 922) und die Annahme, dass der »natürliche Mensch« erst durch den Staat, durch Umbildung zur Wahrheit gebracht werden müsse (VIG, I, S. 890). Gegen den schwer verständlichen Schreibstil Kants formulierte Hegel einst: »Begriffe, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft.« Ähnlich könnte man sich auch gegenüber Hegels Schreibstil äußern. Dessen Argumentation wirkt schwerfällig und umständlich. Sein mündlicher Vortrag soll jedoch weitaus schwerer verständlich gewesen sein.

(Anmerkung: Hegel setzt im Denken den Unterschied zwischen Mensch und Tier an, obwohl er den griechischen Begriff Logos kennt, der von der Bedingtheit von Sprache und Vernunft zeugt, und obwohl in der von der Berliner Akademie der Wissenschaften 1770, dem Geburtsjahr Hegels, prämierte Sprachursprungs-Schrift Johann Gottfried Herders (1744–1803) klargestellt wurde, dass der Mensch sich durch die bezeichnende Sprache vom Tier unterscheidet.)

Hegel trennt strikt Gesellschaft und Natur, weil der Geist seiner Meinung nach allein in der menschlichen Geschichte wirke. In seiner Einleitung kündigt er eine »denkende Betrachtung« der Weltgeschichte an und reklamierte die »philosophische Weltgeschichtsschreibung« für sich (VIG, I, S. 22), in einer Art und Weise, als ob es keine Vorgänger gegeben habe. In Abgrenzung zu Kant macht Hegel deutlich, dass er kein »Apriori« benötige. Das einzige, was die Philosophie mitbringe, sei die Vernunft, d.h. der Glaube, dass es in der Weltgeschichte »vernünftig« zugehe. An anderer Stelle verwendet er die Formulierung, dass man sich auf die Vernunft, d.h. »auf den Kopf« stellen müsse, um die Weltgeschichte zu begreifen. (VIG, II, S. 926) Die Vernunft der Weltgeschichte setzt Hegel mit einem göttlichen Plan gleich (VIG, I. S. 41). Hegel maßt sich an, über das konkrete Wissen vom Absoluten, vom Verlauf der Weltgeschichte, vom göttlichen Plan und von Gott zu verfügen. Aber er schwächt seine Anmaßung sofort wieder ab: wir können das Absolute, den »göttlichen Plan« nur im Nachhinein erfassen, wenn sich die Geschichte bereits ereignet hat, »die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst mit Eintritt der Dämmerung«. 

(Anmerkung: Herder hatte mit den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« 1784 einen Ansatz vorgelegt, mit dem er »organische Kräfte« des Universums und den Zusammenhang von Mensch und Natur in den Mittelpunkt stellte. Herder begann diese Menschheitsgeschichte mit dem Kosmos und der Entstehung der Erde. Der Mensch folgt Naturgesetzen, die im ganzen Universum gelten, gleichermaßen für Planeten, Menschen und Staubkörner.)

Hegel nimmt auch nicht die ganze Menschheitsgeschichte in seinen Blick, sondern nur die Völker mit »welthistorischer Bedeutung«, die den Kern der Weltgeschichte, den »göttlichen Plan« ausmachen. Dafür vermag Hegel selbst hinter menschlichen Leidenschaften, Kriegen und Gewalt noch das Wirken der Vernunft zu sehen. Konzentriert bringt er im Aperçu seinen Ansatz zum Ausdruck: »Die Menschen verfolgen ihre bewussten Zwecke und Absichten, doch darin vollbringen sie etwas, was nicht in ihren Absichten lag.« (VIG, I, S. 88) In der Hegelschen Diktion vollziehen die Menschen bewusst ihre Zwecke und »unbewusst« die Ziele des Weltgeistes. Einmal gebraucht er für diesen Zusammenhang den Ausdruck »List der Vernunft«. (VIG, Bd, I, S. 105)

Weiter proklamiert Hegel, dass der Geist nach Vervollkommnung hin zum »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« strebe. (VIG, I. S. 63) »Freiheit« ist in seiner Diktion die Einsicht in die Notwendigkeit des göttlichen Plans und dementsprechendes Handeln. Ein Schelm der hier an Spinozas Satz von der Einsicht in die Naturnotwendigkeit und entsprechendes Handeln denkt. 

(Anmerkung: Da aber der »Plan« erst im Nachhinein erkannt werden kann, Freiheit aber nur durch geistige Aktivität, durch bewusstes Handeln möglich ist, bleibt dem Menschen bei Hegel eigentlich keine Freiheit. In seinen Vorstellungen erinnert Freiheit eher an ein »Warten auf den Fortschritt«.)

Die wichtigste Voraussetzung des Menschen ist nach Hegel die Institution des Staates. Im Staat allein habe der Mensch eine vernünftige Existenz. Alles was der Mensch geworden sei verdanke er dem Staat. (VIG, I., S. 111) Im Rechtssystem und besonders in der Verfassung ist für Hegel die Wirklichkeit der konkreten Freiheit zu finden.

(Anmerkung: Johann Gottfried Herder hatte in den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« darauf verwiesen, dass die Menschheitsgeschichte nicht auf die Herausbildung von Staaten hinauslaufe, sondern auf die Bildung der verantwortungsbewussten Individualität. Der Staat könne weder dem Menschen Kultur bringen noch Probleme lösen sondern nur verwalten.

Nach 1945 versuchte der Soziologe Arnold Gehlen nocheinmal die Kant-Hegelschen Staatsfixierung als »Institutionenlehre« zu reaktivieren. Aber selbst die missbräuchliche Nutzung einzelner Herderscher Worte vermochte das Kant-Hegel-Dogma nicht zu retten.)

Im Detail durchläuft die Vernunft in der Weltgeschichte bei Hegel drei Stufen. (VIG, I., S. 74) 1. Die Orientalische Welt (VIG, I S. 283–520), 2. die griechische und die römische Welt (VIG, II, S. 527–753) und 3. Die germanische Welt (VIG, II, S. 755–942) 

Der größte Teil der wirklichen Weltgeschichte bleibt in Hegels Darstellung unberücksichtigt. Zudem presst Hegel die Details in sein Schema: es muss ein Fortschritt, ein Aufstieg vom Niederen zum Höheren herauskommen. Der Orient muss danach in allen Bereichen am rückständigsten sein usw.

Der dritte Abschnitt des vierten Teiles beginnt mit der Reformation – »die alles verklärende Sonne, die auf jene Morgenröte am Ende des Mittelalters folgt« (VIG, II, S. 877) Die Reformation ist für Hegel eher die Konsequenz des Katholizismus: »Die Lutherische Lehre ist … ganz katholisch; es ist nur alles weggeschnitten, was dem Verhältnis der Äußerlichkeit angehört und aus ihm fließt.« (VIG, II, S. 880) Hegel geht von einer Versöhnung zwischen Protestantismus und Staat und der Bildung eines neuen Staatstyps aus. (VIG II, S. 889) Die »alte Kirche« werde in Europa vom österreichischen Staat vertreten und die »neue Kirche« von Preußen. (VIG, II, S. 907) Die Forderung der Aufklärung nach Herrschaft der Vernunft sei von König Friedrich II. von Preußen verwirklicht worden. Er sei der »Held des Protestantismus« der als König und Staatsmann das Allgemeine repräsentierte. (VIG, II, S. 918) Der preußische Staat ist in der Hegelschen Darstellung das »neue Prinzip«, das Ziel der Weltgeschichte. 

(Anmerkung: 50 Jahren nach Hegel kam es zur Proklamation eines »deutschen evangelischen Kaisertums«, das aber bereits mit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs wieder verschwand. 

Herder hatte 1784 darauf verwiesen, dass Religiösität, im Unterschied zur Kirche, zur Existenz des individuellen Menschen gehört, wie Vernunft. Glaube ist die Hoffnung des Menschen, dass er die absolute Wahrheit des Universums in relativer Weise begreifen kann.)

Mit dem Erreichen des Zieles in der preußischen Staats-Kirchen-Versöhnung tritt aber bei Hegel auch ein Ende des Fortschritts, ein »Ende der Geschichte« ein. Er schwächt ab, dass es nicht zum Stillstand kommen werde und dass es weitere Ereignisse geben wird. Eine Weiterentwicklung der Menschheitsgeschichte wird es aber nach Hegel nicht mehr geben.

(Anmerkung: Insgesamt kommt aber die Hegelsche Darstellung über eine einfache Linearität der Weltgeschichts-Stufen nicht hinaus. Von seiner vielgerühmten dialektischen Logik ist hier nichts zu bemerken. Es wird damit deutlich, dass »Fortschritt« eben kein universales Entwicklungsprinzip ist, sondern nur ein Spezialisierungsprozess, der irgendwann ein Ende hat.)

Mit seinen klassizistischen Verweisen auf die Bedeutung der Vergangenheit vermochte Hegel vielleicht dem Bildungswesen seiner Zeit Impulse zu geben. Er betonte in seiner Darstellung, dass diese Stufen der Weltgeschichte auch Inhalt der Gegenwart seien. Er erklärt etwas umständlich, dass wir uns die Bildung der Jahrtausende aneignen müssen, um auf der Höhe unserer Zeit stehen zu können. Besonders die griechische Kultur hebt er heraus. Dabei gebraucht Hegel interessante Wendungen: Unsere Bildung ist bei ihm in platonischer Tradition Erinnerung. Bei Hegel wird daraus Er-Innerung. D.h. wir müssen ins Innere (unserer Geschichte) gehen, zum Wesen und zum Grund, um voran zu kommen. 

Vielleicht sind es zudem einige Aperçu, die den Reiz dieser Vorlesungen ausmachten? So z.B. dass uns die Geschichte lehre, dass Völker und Regierungen nichts aus der Geschichte lernen. (VIG,I, S. 19) Der Unterschied zwischen Glaube und Wissen gelte als Gemeinplatz. Doch in der Substanz gäbe es diesen Unterschied nicht: was ich glaube, das weiß ich auch. (VIG, I, S. 48) Der Kammerdiener kennt keine Helden, weil er ihnen die Stiefel ausziehen muss. (VIG; I. S. 103) Richelieu, der das Gegenteil von dem machte, was er sagte, hat das Schicksal vieler großer Staatsmänner gehabt, dass er von seinen Mitbürgern verwünscht wurde, während seine Feinde das Werk, mit denen er sie ruinierte, für eigene Wünsche, Recht und Freiheit hielten. (VIG, II, S. 899)

Zusammenfassung: Die Hegelsche Begründung des »Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit« erlangte im Industriezeitalter bei Bürgertum und Sozialdemokratie großen Einfluss. Die Hegelschen Begründungen gingen dabei verloren. Es blieb das Schlagwort. Mit dem Fortschritts-Staats-Glauben wurde das Wachstum der Industrie und die koloniale Expansion Europas »gerechtfertigt«. Im Namen des Fortschritts sollten »rückständige« Völker und Kulturen weichen. Im Namen des Fortschritts wurde die Wachstums-Ideologie und der Wegwerf-Konsum »begründet«.

Walter Benjamin bemühte sich in den 1920/30er Jahren vergeblich, die Linke zur Abkehr von diesem Fortschritts-Staats-Glauben zu bewegen. (Vgl. Walter Benjamin: Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts. In: Das Passagenwerk. Frankfurt/Main 1988, Bd. I, S. 598 f. )

Die Ironie der Geschichte bestand darin, dass etwa zur gleichen Zeit der spätere OECD-Beamte und EU-Stratege Alexandre Kojéve in seinen Pariser Hegel-Vorlesungen die »Aktualität« der Hegelschen Dogmen beschwor. In einem Zeitschriftenartikel bemühte mehr als ein halbes Jahrhundert später einer seiner Schüler, der Mitarbeiter des US-Außenministeriums Fukuyama, im Frühsommer 1989 nocheinmal die Hegelsche Denkfigur: Das US-Gesellschaftsmodell habe im Weltmaßstab gesiegt. Es werde noch Ereignisse geben, doch keine Entwicklung mehr. (Vgl. Francis Fukuyama: The End of History; in: The National Interest 16/ Sommer 1989, S. 4 ff.)

Der Sieg der USA im kalten Krieg schien diese Illusion für einen Augenblick zu bestätigen. Doch heute ist der globale Umbruch hin zu einer polyzentrischen und multikulturellen Welt nur noch mit größter Anstrengung zu übersehen. 

Herder sah in der vernünftigen Struktur des Universums die absolute Wahrheit außer uns und die Voraussetzung für die menschliche Vernunft. Wir müssen die vernünftige Struktur des Universums versuchen zu begreifen, um vernünftig denken und leben zu können. Wenn im Universum Gleichgewichte verletzt werden, dann setzen Gegenreaktionen ein. Wenn auf Erden Völker, Staaten oder Menschen Gewalt, ob militärisch, wirtschaftlich oder medial, anwenden, dann setzen Gegenreaktionen ein. Herder nennt es »das Gesetz der Vergeltung«. Die Gewalt fällt in gleicher Weise auf ihre Urheber zurück. Herder appellierte nach 1800 an europäische Staatschefs und Regierungen, auf eine Politik des Strebens nach Vorherrschaft und den Einsatz von Gewalt zu verzichten, da die eingesetzten Methoden auf sie zurückfielen. Bis heute hält sich in der Politik jedoch das Vorherrschafts-Streben, und es kommt immer wieder zur Gegenreaktion.

Für Herder ist es letztlich nicht »der Staat« und »die Politik«, sondern der verantwortungsbewusste individuelle Mensch, der die Zukunft der Menschheit entscheiden wird. Vernunft, der berechnende Verstand, reicht für Humanität aber nicht aus. Der Mensch bedarf für die Ausübung seiner Verantwortung auch des Glaubens, d.h. der Hoffnung, dass er die absolute, die göttliche Vernunft des Universums in relativer Weise begreifen kann.

Gerade anlässlich des 250. Geburtstages Hegels wird damit deutlich: Wir sollten erst einmal Herder neu lesen, bevor wir Hegel wieder zur Hand nehmen!

Johannes Eichenthal

(Copyrights Foto: Carolyn Eichler)

Leseempfehlung

Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«. In: Herder Werke in drei Bänden, Band 3 (2 Teile), München/Wien 2002, Hrsg. Wolfgang Proß.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.comund des Freundeskreises Gert Hofmann.

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