Rezension

HERDERS BIBLIOTHEKSVERZEICHNIS VON 1776

Im traditionsreichen Universitätsverlag Winter gab im vergangenen Jahr Ralph Häfner ein Buch über des Bibliotheksverzeichnis von Johann Gottfried Herder (1744–1803) aus dem Jahre 1776 heraus. Die Publikation umfasst 252 Seiten. Der Herausgeber transkribierte die Handschrift Herders und nummerierte die Bücher fortlaufend. Damit gelang Häfner ein Standard-Quellenwerk für die Erforschung des Schaffens Johann Gottfried Herders.

1776 war das Jahr, in dem Herder als Generalsuperintendent nach Weimar berufen wurde. Das Verzeichnis ist eine Dokumentation der Ausgangsbedingungen Herders bei seiner Ankunft in Weimar. Er sammelte Bücher nicht nur aus Passion. Herders Lebensweise und Einkommensverhältnisse zwangen ihn zu konzentriertem Erwerb von Büchern, die seiner Forschungsrichtung entsprachen. In der Theologie konzentrierte sich diese Sammlung auf Luther, dessen Mitstreiter und Nachfolger. In der Literatur und Philosophie sind alle großen Autoren mit mehrbändigen Ausgaben vertreten: Plato, Aristoteles, Maimonides, Spinoza, Leibniz, Diderot, Lessing u.v.a. Bücher aus allen Wissensgebieten machen die enorme Breite der Herderschen Arbeitsbibliothek deutlich. Häfner betont, dass Herder 1803 über die größte Privatbibliothek Weimars verfügte. (S. X) Einigen Bücher von 1776 waren 1803 nicht mehr vorhanden, andere waren hinzugekommen.

Herders Handschrift in einer Abbildung aus dem besprochenen Band

Herder lieh sich zwischen 1776 und 1803 Bücher aus der Herzoglichen Bibliothek Weimars aus, deren Bibliothekar Goethe war. Gotthold Ephraim Lessing schickte Herder Bücher aus der Wolfenbüttler Bibliothek und Christian Gottlob Heyne aus Göttingen.

Damit wird deutlich, dass Herders Bibliothek nur die Basis einer weit umfassenderen Lektüre bildete und dass sich dieser Fundus mit den Forschungsergebnissen beständig veränderte. 

Mit seiner Publikation liefert Häfner die nachtägliche Grundlegung für die Erforschung Herders Weimarer Zeit. Aber Häfner macht auch Neuansätze in der Herder-Forschung möglich. So finden wir im Bücherverzeichnis auch Werke von Paracelsus (1493/94–1541), Valentin Weigel (1533–1588) und Jakob Böhme (1575–1624).

In der heute vielleicht wichtigsten Ausgabe von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, die Wolfgang Pross herausgab, finden wir diese Namen nicht im umfangreichen Personenregister. (Herder Werke in drei Bänden. München Wien 2002, Bd. III/1)

Günter Arnold führte Jakob Böhme in seinem Registerband zur Herder-Briefausgabe auf und belegt dies mit einer Nennung des Namens Böhme im Gesamtwerk Herders. (Johann Gottfried Herder Briefe, Gesamtausgabe, Verlag Hermann Böhlau Nachfolger Weimar 2001, Bd. 10, S. 86)

Die Nichtnennung des Namens wichtiger Autoren aus politischen Gründen war auch im 17./18. Jahrhundert gang und gäbe. Siegfried Wollgast fand in einem unveröffentlichten Leibniz-Manuskript den Hinweis, dass dieser Weigels Texte gelesen hat und ihn schätzte: „… ein Mann von großem, ja fast allzugroßem Verstand“. (Valentin Weigel: Ausgewählte Werke. Union Verlag Berlin 1977, S. 71) Ebenso können wir es uns bei Herder vorstellen. Er nannte bestimmte Namen nicht, um unnötige Probleme zu vermeiden.

Herders Handschrift in einer Abbildung aus dem besprochenen Band

In der Linie von Paracelsus, Weigel, Böhme, Spinoza, Leibniz auf Herder werden zwei miteinander zusammenhängende Aspekte deutlich:

1. Den Menschen als Teil des organischen Systems zu begreifen heißt zu begreifen, dass dem Menschen anorganische, pflanzliche und tierische Elemente, die auf unserer Erde vorkommen, immanent sind.

2. Organisches Systeme sind nur mit SprachVernunft (Logos) zu erfassen, diese ist der innere Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen.

Herder dokumentierte den neuen Forschungsstand in seinem Hauptwerk, das zwischen 1784 und 1791 erschien. Doch er musste die Nennung der Namen Paracelsus, Weigel und Böhme vermeiden, obwohl er besonders in den ersten fünf Büchern seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ inhaltlich, an manchen Stellen wörtlich, an diese Autoren anknüpfte, um unsere Erde als ein organisches System, das Universum als System organischer Kräfte und Gott als organische Kraft der Kräfte darzustellen. Deren Namen tauchen aber nicht auf, um nicht seinen Kritikern, von Immanuel Kant über rationalistische Theologen bis hin zu stereodoxen Kirchenbeamten, Vorschub zu leisten, die ihn auch so bereits in die Nähe der „Schwärmer“ und „Abweichler“ rückten. (Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn. Teil 1. Von den Minnesängern bis Herder. Mironde Verlag 2019, S. 139)

Zusammenfassen möchten wir Ralph Häfner und dem Universitätsverlag Winter danken. Das Bibliotheksverzeichnis ist unverzichtbar für jede künftige wissenschaftliche Beschäftigung mit Herders Werk und lässt zugleich eine Erneuerung des Forschungsstandes erhoffen, um noch stärker die Besonderheit Herders als Integrator verschiedenster wissenschaftlicher Strömungen seiner Zeit deutlich machen zu können.

Johannes Eichenthal

Information

Ralph Häfner (Hrsg.). Meine Bücher. Herders Bibliotheksverzeichnis von 1776. Universitätsverlag Winter. Heidelberg 2020. ISBN 978-3-8253-4775-8

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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