Essay

VON GOETHE ZU RATHENAU

Am Abend des 17. August hatten Heimatverein Niederfrohna, Goethegesellschaft Chemnitz und Mironde Verlag zur Vorpremiere des „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2“ in die Niederfrohnaer Begegnungsstätte LINDENHOF eingeladen.

Dr. Andreas Eichler vom Mironde Verlag stellte in Vertretung des Autors Johannes Eichenthal den etwa 50 Gästen das Buch vor. Über eine große Landkarte verdeutlichte er, dass Mitteldeutschland, die Region zwischen Braunschweig und Görlitz, im Schnittpunkt zweier jahrtausendealter Kommunikationslinien liegt: von Königsberg über Basel nach Südfrankreich und von der Wesermündung über Wien nach Konstantinopel. 

In diesem Schnittpunkt, in Mitteldeutschland, entstand zwischen dem 11.und 13. Jahrhundert die mittelhochdeutsche Sprache. Mit der erneuerten Sprache trat zugleich ein neues Denken in die Existenz. Seither entstanden fast alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte in dieser Region.

Eichler, wir hatten die Erwähnung seines Lieblingsphilosophen bereits erwartet, begründete mit dem Rückgriff auf Johann Gottfried Herder, dass sich der Mensch nicht im Denken oder im Bewusstsein konstituiert, sondern in Sprache. Deshalb sei die Buchdarstellung auf den sprachlichen und literarischen Überlieferungsprozess konzentriert. Am Beispiel von 20 Literatinnen und Literaten versuchte er dem Publikum den Prozess anschaulich zu machen.

Die Gäste sahen auf der Kinoleinwand die Porträts der Personen, die im Buch mit einer kurzen Biographie vorgestellt, deren Wirkungsort dokumentiert, in deren Originaltexte eingeführt, und deren Schaffen unter der Rubrik „Was bleibt?“ zusammengefasst wird. Eichler legte an diesem Abend besonderen Wert auf die Darstellung der Lokalmatadoren Karl Stülpner aus Scharfenstein, Karl May aus Hohenstein-Ernstthal, Wilhelm Ostwald aus Großbothen und Clara Zetkin aus Wiederau.

Nach dem Vortrag führte eine Journalistin des Kabeljournals Chemnitzer Land ein mustergültiges Interview mit dem Referenten. Sie ermöglichte durch ihre Interviewführung, dass Eichler auf verständliche Weise komplizierte Zusammenhänge des sprachlichen und literarischen Überlieferungsprozesses darstellen konnte. (Hier der Link zum Interview: https://www.kabeljournal-chemnitzer-land.de/index.php?option=com_content&task=view&id=4934&Itemid=1)

Bei einem kleinen Imbiss, diskutierte das Publikum an diesem Abend noch lange. Der Niederfrohnaer Bürgermeister Klaus Kertzscher (re.) gratulierte Birgit Eichler (2. v. re.) vom Mironde Verlag zur prägnanten, konstruktiven Gestaltung des Buchtitels.

Am folgenden 18. August hatten die Walther-Rathenau-Stift gGmbH und der Mironde Verlag zur eigentlichen Premiere des „Literarische Wanderung. Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2“ ins Schloss Freienwalde in Bad Freienwalde eingeladen. Das Schloss war einst das Refugium Rathenaus gewesen. Hier entstanden einige seiner wichtigsten Buchmanuskripte.

Dr. Reinhard Schmook, der Vorsitzende der Rathenau-Gesellschaft, begrüßte die Gäste mit einer Beschreibung des Lebens Walther Rathenaus und Prof. Eberhard Görner (im Bild) stellte den Gästen sein Geleitwort für das vorliegende Buch vor.

Eichler, der Johannes Eichenthal noch einmal vertreten musste, konzentrierte seine Darstellung an diesem Abend auf die Verbindung zwischen Goethe und Rathenau. Die Vermittlung tätigte Bettina von Arnim. Sie schuf mit ihrem Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ und ihrem Goethe-Denkmalsentwurf die Grundlagen des Goethe-Weimar-Mythos. Dieser verband sich in den Salons Bettina von Arnims und Rahel Varnhagens mit dem Mythos um den Reformer Reichsfreiherrn Karl von und zum Stein zum Kulturstaatsmythos. Rathenaus Großeltern besuchten diese Salons und überlieferten den Mythos ihrem Enkel.

Das fachkundige Publikum folgte der Darstellung sehr aufmerksam. Eichler nutzte diese Atmosphäre um die Sonderstellung Walther Rathenaus herauszuarbeiten. Die Philosophie seiner Zeit, Rathenau nannte sie aufgrund ihrer Selbstreduktion auf berechnenden Verstand/Vernunft – Intellektualphilosophie – , vermochte ihn nicht zu begeistern. Er nahm statt dessen über den Goethe-Weimar-Mythos die Konzeption von Philosophie als „Liebe zur Weisheit“ wieder auf. Das war in dieser Zeit ein singuläres Unterfangen und begründete die Sonderstellung Rathenaus im geistigen Leben. Liebe zur Weisheit heißt, dass weder „Vernunft“ noch „Glauben“ isoliert erfasst werden können. Weisheit ist die Einheit der Gegensätze von Vernunft und Glauben. Walther Rathenau vermochte, wie Johann Gottfried Herder, Gegensätze und gegensätzliche Denkströmungen zu vereinigen. Wer das nicht bedenkt, der erlangt keinen Zugang zum Werk.

Am 31. Juli 1916, also vor 105 Jahren, stellte Rathenau auf Schloss Freienwalde das Manuskript des Buches „Von kommenden Dingen“ fertig. Samuel Fischer veröffentlichte das Buch 1917 in seinem renommierten Verlag. Rathenau wies in diesem Buch nach, dass die notwendige Verbindung von Industrie und Vernunft ungewollt einen Prozess hervorbringt, den er „Mechanisierung“ nannte. (Wir würden heute „Globalisierung“ sagen) In der Folge der Mechanisierung wird das gesamte menschliche Leben mit dem Streben nach finanzieller Effizienz durchdrungen. Die Intellektualphilosophie hilft den Menschen nicht nur nicht, sich gegen die Mechanisierung zu behaupten, sondern sie beschleunigt die Mechanisierung sogar. Die Intellektualphilosophie ist Verrat an der Humanität. 

Rathenau merkt an, dass die Menschen unter dem Deckmantel äußerlicher Freiheiten von der Mechanisierung versklavt werden, wenn sie nichts dagegen setzen. Als Gegenkraft setzt Rathenau auf die Stärkung der Seelenkräfte und des Glaubens zur Humanisierung der „Mechanisierung“. Nicht das Wachstum des Verbrauchs ist der Sinn des menschlichen Lebens, sondern die Schaffung ewiger Werte. Die „Jakobsleiter“ ist für Rathenau das biblische Bild für die menschliche Zielstellung.

Hier wurde uns blitzartig deutlich, dass Rathenau die gesamte Philosophie und Theologie seiner Zeit „matt“ setzte. Aber der Wissenschaftsbetrieb machte weiter, als sei nichts geschehen. Das ist vergleichbar mit der fehlenden Resonanz auf die Diskussion des damaligen Kardinals Joseph Ratzinger mit dem Intellektualphilosophen Jürgen Habermas im Jahre 2004 oder mit der fehlenden Resonanz auf die Umweltenzyklika „Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus.“ von Papst Franziskus im Jahre 2015.

Doch wir hatten an jenem Abend den unmittelbaren Eindruck, dass aus Rathenaus Werk nichtsdestotrotz immer noch eine gewaltige Kraft strömt: Es gibt keine „rechte“ und keine „linke“, keine „moderne“ und keine „vormoderne“, erst recht keine „postmoderne“, keine „kritische“ und keine „vorkritische“, keine „liberale“ und keine „illiberale“, es gibt auch keine „Bindestrich-Philosophie“. Es gibt nur das menschliche Streben nach Teilhabe an der ewigen, kosmischen, göttlichen Weisheit. Das ist Rathenaus Prophetie. Schloss Freienwalde ist der Ort, an dem man diese Kraft empfinden kann.

Zu später Stunde setzte sich Christian Steyer an den Flügel und improvisierte. Damit erfuhr die Veranstaltung an diesem Augustabend einen unvergesslichen Ausklang.

Clara Schwarzenwald

Leserstimmen

Eine literarische Wanderung durch Mitteldeutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert

Nachdem der in Niederfrohna ansässige Mironde Verlag bereit 2019 den gemeinsam von Dr. Andreas und Birgit Eichler erstellten Text- und Bildband aus der Reihe „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ mit dem Titel „Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn 1“ erscheinen ließ, hat er in diesem Sommer einen Fortsetzungsband unter dem Titel „Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2“ herausgebracht.

Schloss der 1. Band mit dem „Johann Gottfried Herder: Der Weise von Weimar“ überschriebenen Kapitel, so knüpfte der Folgeband mit dem Eingangskapitel „Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ an jenes an, um anschließend auf den im Buchtitel genannten jüngeren Weimarer Geistesheros „Johann Wolfgang von Goethe. Der Stürmer und Dränger“ (so die betreffende Kapitelüberschrift) einzugehen. Herder bildet also gewissermaßen den Angelpunkt bzw. die Klammer des Gesamtwerkes, was nicht zuletzt auch in den vielfältigen Bezugnahmen auf den älteren Weimarer Klassiker zum Ausdruck kommt.

Der neuerschienene Band konzentriert sich, wie es in der Einführung heißt, „in der Darstellung auf den literarischen Überlieferungszusammenhang, ‚die Kette der Individuen und Generationen‘ (Herder)“ und folgt „dabei Herders weiter Literaturauffassung“, indem neben Literatur im engeren Sinne (Schöngeistige Literatur) „auch Publikationen in Medizin, Naturwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft, Technik, Technologie, Theologie, Philosophie“ einbezogen werden. Obgleich die vorliegenden beiden Bände von „Sprache und Eigensinn“ einen Interessanten Querschnitt bieten, ist „eine vollständige Darstellung der mehrhundertjährigen, vielstimmigen literarischen Überlieferung nicht beabsichtigt“. Stattlich jedenfalls ist die Reihe der prominenten Gestalten, zu denen wir mittels originaler (Quellen-) und kommentierender Texte sowie erstklassigen historischen und aktuellen Bildmaterials hingeführt, ja sogar zu eigenen Exkursionen angeregt werden. (Einige dieser Persönlichkeiten dürften zwar nur noch Fachkreisen bekannt sein, verdienen es aber, wieder allgemeine Beachtung zu finden). Außer den schon erwähnten beiden Weimarer Klassikern sind dies Karl Stülpner (dessen mündlich übermittelte Lebenserinnerungen Carl Heinrich Wilhelm Schönberg in Buchform gebracht hat), Jean Paul, Caroline Schelling (die Gemahlin des Philosophen), Johann Gottlob Heynig (ein Philosoph aus dem Vogtland), Gotthilf Heinrich Schubert (ein vielseitiger Gelehrter aus Hohenstein-Ernstthal), Bettina von Arnim (Schwester Clemens Brentanos), die Brüder Grimm, Robert Schumann (nicht nur Komponist, sondern auch Musikschriftsteller), Karl May, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Ostwald, Clara Zetkin (sozialdemokratische bzw. kommunistische Frauenrechtlerin), Franz Boas (Kulturanthropologe, dessen Hauptwerk „Kultur und Rasse“ die Nazis öffentlich verbrannten), Samuel Fischer (Verleger), Hermann Gunkel (Alttestamentlicher Wissenschaftler), Ricarda Huch, Walther Rathenau (nicht nur Politiker sondern auch Kulturphilosoph).

„Von Goethe bis Rathenau“ ist, wie schon dem Vorgängerband, eine weite Verbreitung zu wünschen! Laut Klappentext soll übrigens 2023 noch ein dritter, abschließender Band von „Sprache und Eigensinn“ erscheinen, der die Zeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erfasst und auf den wir schon neugierig sein können.

Wolfgang Möhrig-Marothi

Pflichtlektüre! Wunderbare Auswahl, anspruchsvoll und trotzdem schön zu lesen.
Wenn ich die beiden Bände in die Hand nehme, erfüllt mich Ehrfurcht und Dankbarkeit. Ehrfurcht vor den Lebensleistungen der beschriebenen Persönlichkeiten, Ehrfurcht und Dankbarkeit gegenüber allen an der Entstehung der beiden Bände Beteiligten. Hier wird Lesestoff von einer Qualität, Intensität und Dichte geboten, die man heute mitunter schmerzlich vermisst. Nachdem der erste Band zu meinem treuen Begleiter in den Abendstunden geworden war, konnte ich das Erscheinen des zweiten Bandes kaum erwarten – und wurde nicht enttäuscht. Es ist ein frommer Wunsch, der wohl kaum in Erfüllung gehen dürfte, aber beide Bände sowie der in Aussicht gestellte dritte Band gehören im Grunde in jeden Haushalt. Gerade jetzt, wo wir uns mit dem Aufeinandertreffen gegensätzlicher Kulturen zurecht finden müssen, kommt dem Verständnis unserer intellektuellen Wurzeln eine enorme Bedeutung zu. Die Ursprünge der eigenen Sprache und Kultur zu kennen und zu verstehen, verleiht uns Halt und Identität in einer immer komplexer werdenden Welt, macht uns stolz auf den ererbten ideellen Reichtum, den wir auch gerne mit Menschen teilen möchten, die bei uns Zuflucht und eine neue Heimat in Sicherheit und Frieden suchen. Es ist eine wunderbare Auswahl, die getroffen wurde. Die gewählte Struktur, die Bände sozusagen in „Kurzgeschichten“ zu gliedern, erleichtert den Zugang. Man kann sich in aller Ruhe genussvoll Kapitel für Kapitel erschließen und im Geiste erwandern. Die Versuchung, die beschriebenen Orte tatsächlich aufzusuchen, steigt von Zeile zu Zeile. Von Demut und Hochachtung gegenüber den Lebensleistungen der ausgewählten Persönlichkeiten erfüllt, erkennen wir einen tiefgreifenden Wandel. Das Wissen der Welt hat sich derart vervielfacht, dass eine breit aufgestellte Bildung, wie vor langen Zeiten noch üblich, heute eher die Ausnahme darstellt. Die Vielfalt, Umfang und Komplexität alleine auf dem Gebiet der Theoretischen Physik erschwert es heute, sich zugleich den Geisteswissenschaften zuzuwenden, um nur ein Beispiel von vielen aufzugreifen. Die in einiger Zeit mit erscheinen des dritten Bandes vervollständigte Trilogie „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ ist viel mehr als eine Wanderung durch die Jahrhunderte. Es ist auch eine Einladung, die gebotenen Inhalte und Gedanken zu hinterfragen und mit „Sprache und Eigensinn“ in die Gegenwart und in die Zukunft zu projizieren. Ob es diese Zukunft geben wird? Vernunft im Sinne von Vernünftigkeit ist keine Stärke der Spezies Mensch. Stattdessen greift ein lebensbedrohender Egozentrismus Raum, verbunden mit einem krankhaften Überbewerten der Ratio und einem zerstörerischen Narzissmus. Mögen die wunderbaren Bände der Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland nicht nur ein ebenso vergnügliches wie anspruchsvolles Lesevergnügen bereiten sondern vielmehr dazu einladen, den Faden aufzunehmen und weiterzuspinnen. Jedes Kapitel bietet dazu eine vielfältige Auswahl. Von hunderten dieser Möglichkeiten möchte ich bei Herder anknüpfen – mit nur zwei Begriffen: Vernunft und Glaube. Trotz dieser Beschränkung auf lediglich zwei Begriffe ist mein Text etwas aus den Fugen geraten, aber es besteht ja die Freiheit, an dieser Stelle mit dem Lesen aufzuhören. Bei aller Begeisterung für das Schwelgen in der Geschichte stellt sich die bange Frage, was von alledem geblieben, was aus alledem geworden ist. Das literarische Erbe bleibt, das philosophische bleibt Theorie. Die Ideale des Humanismus sind Utopien. Die Unvollkommenheit und Unreife der Gattung Mensch ist zu offensichtlich, aber zugleich auch logisch, denn der Homo Sapiens hatte bisher kaum die Möglichkeit, sich zu einem ethisch orientierten Wesen zu entwickeln. Wenn wir die Erdgeschichte betrachten, so ist der Mensch mit Abstand das Lebewesen mit der kürzesten Evolution. Während sich der Intellekt entwickeln konnte, erkennen wir bei der Vernunft enorme Defizite. Die Bedeutung des Begriffs Vernunft hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Wenn wir bei Herder und seinen Gedanken zu Vernunft und Glauben ansetzen, müssen wir berücksichtigen, dass Herder Vernunft mit Verstand gleichsetzte, als Fähigkeit des Erkenntnisgewinns durch Denken. Interpretiert man Vernunft hingegen als vernünftiges Handeln, erkennen wir, dass Verstand bzw. Ratio, Logik und Intelligenz mit Vernunft wenig oder nichts zu tun haben. Die Erklärung finden wir in den Neurowissenschaften: Die für die Intelligenz zuständigen neuronalen Strukturen befinden sich in einem anderen Hirnteil als die für Vernunft zuständigen. Ein Beispiel für das Auseinanderklaffen von Intelligenz und Vernunft liefert aktuell der als bekennender Impfgegner schwer an Corona erkrankte Mainzer Wirtschaftsprofessor Dr. Werner Müller. In „Spiegel TV“ fordert der auf der Corona-Station des Klinikums Darmstadt liegende alle Impfgegner mit brüchiger Stimme auf: „Macht weiter!“ Nur so lässt sich erklären, dass entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und entgegen allen geisteswissenschaftlichen Idealen der Mensch dabei ist, sich seiner Lebensgrundlagen zu entledigen. Es ließen sich tausende Beispiele für das Versagen der Vernunft und den Trend zur Eskalation aufführen. Ein existenzielles Thema ist die Erderwärmung. Statt weltweit umgehend gegenzusteuern, einigt man sich auf vage Ziele in ferner Zukunft. Bis dahin könnte es zu spät sein und New York unter einem dicken Eispanzer erstarren, so ein mögliches Szenario. Unser Meerwasser-Umwälzsystem ist so schwach wie nie zuvor in den vergangenen 1000 Jahren – mit dramatischen Auswirkungen auf das Klima. Das schreibt Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) im Fachmagazin „Nature Climate Change“. Ist etwa das Wirtschaftswesen, das zu einer Spaltung von Arm und Reich geführt hat, vernünftig? Es fehlt nicht an Analysen und Vorschlägen für eine bessere Welt. Aber was ist Realität? Lesenswert: Tomas Sedlacek, „Die Ökonomie von Gut und Böse“ (Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-42823-2). Sein Buch ist ein faszinierender Gang durch die Welt der Ökonomie – vom Gilgamesch-Epos über das Alte Testament und Adam Smith bis zur Wall Street und zur Wirtschaftskrise. Hier erfahren wir, warum und wie Geld die Welt regiert. Wir schauen weg, wie China sich die ergiebigsten Rohstoffvorkommen der Welt sichert und mit Dumpingpreisen ganze Wirtschaftszweige ruiniert. In zehn Jahren werden wir den Preis dafür zahlen. Ist es etwa vernünftig, Fortschritte hauptsächlich an der Digitalisierung festzumachen? Wir haben mit der Informatik ein mächtiges Werkzeug in der Hand. Die Entdeckung des Atoms brachte Fluch und Segen zugleich – wie nahezu alle Entdeckungen und Erfindungen. Nie war es leichter, ganze Infrastrukturen durch Cyberattacken lahmzulegen. Bisher traf es hauptsächlich Firmen. Bald werden es Regierungen, Länder, Staaten sein. Kein Strom, kein Wasser, keine Kommunikation, kein Transportwesen. Utopie? Nein! Heraufziehende Realität. Die Verletzlichkeit der Informationsgesellschaft ist Thema von Marc Elsberg: „Blackout – Morgen ist es zu spät“, Pflichtlektüre in der Energiewirtschaft ( ISBN 978-3-442-38029-9). Ist es etwa vernünftig, wenn Religionen sich zu Gift für die Menschheit entwickeln? Der Islam ist mittlerweile hierzulande Realität. Wir erleben einen Kulturwandel durch Migration, angestachelt von Despoten wie Erdogan, der seine Landsleute auffordert, viele Kinder zu produzieren, um den türkischen Einfluss zu stärken und seine Botschaften über die Freitagsgebete in den Moscheen überbringen lässt. Lesenswert: Constatin Schreiber, „Inside Islam, Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird“ ( Ullstein Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-548-37766-7). Wenn ich den Islam als radikal-rückwärtsgewandten Religion betrachte, darf auch die katholische Kirche nicht fehlen. Während der Islam sich ausbreitet, sieht sich die katholische Kirche mit ihren Skandalen mit einem dramatischen Mitgliederschwund konfrontiert, zunehmend auch durch die Konkurrenz von an die dreißig nennenswerten Religionen und Psychosekten in Deutschland. Für die überlieferte Leibfeindlichkeit und Sexualitätsfeindlichkeit des klassisch Katholischen ist in unserer Welt kein Platz mehr. Haben Kondomverbot (jede Stunde stecken sich laut Unicef weltweit 26 Menschen mit dem HI-Virus an), Zölibat (auch Priester und Nonnen werden mit ihrem Gelübte nicht zu geschlechtslosen Wesen), Frauenfeindlichkeit und Dogmen hinsichtlich Ehesakrament, Sexualmoral, Sexualethik und Homosexualität etwas mit Vernunft zu tun? In all diesen Fragen muss eine Balance zwischen den Grundsätzen der Glaubenslehre und naturgewollten menschlichen Bestimmungen gefunden werden. Ist es etwa vernünftig, wenn die Menschen an ihrem Wohlstand ersticken, weil sie zunehmend Substanzen in sich hineinstopfen, die das Gegenteil von Lebensmitteln – Mittel zum Leben – sind. Die Regierungen sind gegenüber den Lobbyisten mit ihren Totschlagargumenten Arbeitsplätze etc. offenbar machtlos. Die Welt funktioniert nun mal nicht nach humanistischen Idealen. Diese Illusion hat uns der Lauf der Geschichte geraubt, und die Gegenwart lässt uns nachgerade verzweifeln. Wir können den Niedergang der Geisteswissenschaften beklagen. Doch ungleich verheerender in den Auswirkungen ist die Tatsache, dass selbst ein so reiches Land wie die U.S.A. nicht in der Lage ist, allen Bevölkerungsschichten eine solide Bildungsgrundlage einschließlich ethischer Grundwerte zu vermitteln, mit dem Erfolg, dass über die Hälfte der Stimmberechtigen einen Donald Trump zum Präsidenten wählte. Auch hierzulande öffnet sich nicht nur die Schere zwischen materiell arm und reich, auch auf dem Gebiet der Bildung müssen wir ein Auseinanderdriften der Gesellschaft beklagen. Gelingt es uns nicht, allen Bildbaren eine solide Bildung – auch Herzensbildung – angedeihen zu lassen, gerät unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung in Gefahr. Eine Rückbesinnung auf unser reiches kulturelles literarisches Erbe könnte eine Initialzündung sein. Wäre Bildung alleine tatsächlich ein Lösungsansatz? Vergessen wir nicht den steigenden Prozentsatz schwer- oder gar unbeschulbarer Kinder und den nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil an bildungsunwilligen, bildungsunfähigen bzw. nur eingeschränkt bildbaren Menschen. Nicht zu vergessen, archaische, männerdominierte Sozialstrukturen, die Bildung für Mädchen und Frauen nach wie vor mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Hier haben wir es mit Menschen zu tun, die sich noch am besten über den Glauben erreichen ließen. Das war sicher nicht Herders Idee bei seinen Ausführungen über Vernunft und Glauben, aber vielleicht ein vernünftiger Weg. Am Ende des Tages müssen wir mit der Erkenntnis leben, dass wir Leute, die gegen alles sind, nicht bekehren können. Bleibt uns die Chance, mit Hilfe Gleichgesinnter Einfluss auf die große Zahl Unentschlossener zu nehmen, um sowohl bei der Vernunft als auch bei der Bildung etwas zu bewegen. Wir müssen damit aufhören, dass es klüger ist, nachzugeben. Genau das Gegenteil brauchen wir! Zum Schluss eine Bitte, beim dritten Band eine kurze Vorstellung des Autors einzuflechten. 

Heinrich L. Jakob

Buchbesprechung: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 1 + 2

Band 1: Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn 1, von Andreas Eichler, Mironde Verlag 2019

ISBN: 978-3-96063-025-8

Band 2: Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2, von Johannes Eichenthal, Mironde Verlag 2021

ISBN: 978-3-96063-026-5

Vorab: Dies ist ein wunderbar zu lesendes, literarisch anspruchsvolles und formal hervorragend gestaltetes zwei-Bände Werk, das allen literarischen Ansprüchen modernen Wissens und grundsätzlichem Verstehens gerecht wird.

Für wen und warum?

Hierzu eine kurze Vorbemerkung: Unsere Kultur beruht auf zwei grundsätzlichen Säulen, der Zeitüberbrückung visueller und akustischer Informationen; visuell durch Gemälde, Bilder, Zeichnungen, etc. und akustisch zunächst durch schriftliche Aufzeichnungen (Sprachübertragung in die visuelle Welt der Schrift, Gedichte, Romane, Schriften, etc.). Beide sind heute durch elektronische Speichermedien ergänzt und teilweise ersetzt.

Das von Andreas Eichler und Johannes Eichenthal verfasste Werk bedient sich beider Informationswelten in einer einzigartigen kombinierten und fachlich ausgereiften Form.

Formal zeigt es auszugweise Texte im Original, Abbildungen zugeordneter Gemälde und Fotografien, sowie in Blockdarstellung zusammen gefasster Inhalte unter der Überschrift ‚Was bleibt?‘ und die ‚Klipp-Reiterdarstellung‘ der erwähnten Verfassernamen im unteren rechtsbündigen Seitenrand. 

Diese teilweise der Gestaltung moderner Lehrbücher nachempfundene Darstellung von Informations- Gehalt, – Gewicht und – Deutung ist für den Leser ein klar lesbares Navigationsinstrument, wie Wissen in den wirren Zeiten der Reformation in die Ära der Aufklärung und danach in die Ursprünge unserer modernen Kommunikationswelt übertragen wurde. 

Der Umfang des Informationsinhaltes ist überwältigend und in der heutigen Literatur einzigartig. Längst vergessene, aber zu ihren Lebzeiten prägende Persönlichkeiten (zum Beispiel Johannes Tauler und Heinrich Seuse, die des ‚Frankfurter‘) werden ebenso ausführlich beschrieben wie die durch den dunklen Nachthimmel auch heute noch strahlenden Leuchtturmgiganten (zum Beispiel Wolfgang von Goethe oder ‚der Alte aus Weimar‘). 

Die Deutung oder das dem Leser zugetragene Verstehen richtet sich aus an der Zeitachse. Es folgt der natürlichen Vorgabe: nach vorgestern folgt gestern und nach gestern ist das Heute. Hierbei ordnen Andreas Eichler und Johannes Eichenthal die Träger dieser Zeitachse durchaus parallel und strukturell regional an; eine Vorgehensweise, die den örtlichen Bezug auf Kultur, Wissen und Verstand offen legt. Hier findet sich der inhaltliche Wert des Werkes: Regionale Besonderheiten sind eine bedeutende Urkraft des menschlichen Verstandes und sollten als wichtige Grenze des sogenannten, oft geforderten ‚möglichst alles und jeden Gleichmachen‘ verstanden werden. 

Wir stimmen zu: Regionale und kulturelle Grenzen sind ein notwendiges Werkzeug, um neue, über den individuellen Tagesbereich wirkende Erkenntnisse zu erarbeiten und höhere ‚Verstandesebenen‘ zu besetzen. Nur über das Hindernis von räumlichen und auch zeitlichen Grenzen und dessen Überwindung konnten die kulturellen und wissenschaftlichen Kenntnisse erreicht werden, die der Menschheit Reisen zum Mond und Mars, Überlegungen über mögliche Unsterblichkeit und über die Ursprünge des Weltalls ermöglichen, wie in den entsprechenden Wikipedia Seiten nachzulesen ist.

Dieses Werk ist weit mehr als eine zu Papier gebrachte Wikipedia Ausgabe über die Entwicklung regionaler Kultur und ‚Kulturschaffender‘ in Deutschland. Es weist auf die Werte und deren Voraussetzung für unsere freiheitlich demokratische Republik hin, deren Ziele an den Begriffen der französischen Revolution einst blutig erarbeitet wurden. Es verschweigt dem nachdenklichen Leser aber auch nicht die an unserer Geschichte ablesbaren und eindringlich warnenden Signale einer unabwendbaren Selbstzerstörung, wenn ‚kultureller Übermut‘ die Grenzen zerbricht, die für die Aufrechterhaltung der Strukturen von Freiheit und Gerechtigkeit unabdingbar sind.

Insofern sind die sorgsam aufeinander abgestimmten Bände vorbehaltlos jedem Leser zu empfehlen, der Aufregung, Freude und Entspannung an einer detailliert erarbeiteten geschichtlichen Darstellung unserer kulturellen Entwicklung empfindet. Es vermittelt Wissen, Verstehen und Nachdenken über Geschehenes, über Ausbreitung und Grenzen, über Folgen und Einwirken auf die Zukunft. In diesem Sinn ist es ein wertvolles Werkzeug für Auszubildende und Interessierte und auch diesem Leserkreis in vollem Umfang zu empfehlen.

Klaus Kayser, Heidelberg, 25. Oktober 2021 (www.ki-universum.de)

Information

Johannes Eichenthal: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Von Goethe bis Rathenau. Sprache und Eigensinn 2. Mit einem Geleitwort von Prof. Eberhard Görner. 23 x 23 cm, fester Einband, 320 Seiten, Lesebändchen, zahlreiche farbige Abbildungen und Fotos, 22 Karten. 

Mironde Verlag 2021. ISBN 978-3-96063-026-5 VP 29,90 Euro

Noch lieferbar

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Von den Minnesängern bis Herder. Sprache und Eigensinn 1. Mit einem Geleitwort von Dr. Klaus Walther, 23 x 23 cm, fester Einband, 320 Seiten, Lesebändchen, zahlreiche farbige Abbildungen und Fotos, 22 Karten. Mironde Verlag 2019. ISBN 978-3-96063-025-8 VP 29,90 Euro

Vorankündigung

Teil 3 dieser Reihe, der bis zum Ende des 20. Jahrhunderts reicht, soll 2023 erscheinen.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “VON GOETHE ZU RATHENAU

  1. LiebeEichlers, schade, daß ich nicht dabei sein konnte. Große Gratulation zu diesen Leistungen. Im Gegenwarts-Deutschland ist noch nicht alles verloren. Herzliche Grüße Heinz und Regina Neef

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