Die Friedrich-Nietzsche-Stiftung und die Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft e.V. luden zu einer Tagung über »Nietzsches Philosophie des Unbewussten« nach Naumburg ein. Die Eröffnung der Tagung war für den Nachmittag des 30. Juni angesetzt. In den letzten Jahren machten Gesellschaft und Stiftung durch jährliche internationale Tagungen zu Nietzsches Verhältnis zur Vernunft, zur Romantik u. a. bereits von sich reden. Auch in diesem Jahr standen wieder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa, den USA, Japan, Korea und Vietnam auf der Rednerliste.
Wir fuhren am 30. Juni gegen den Westwind durch dichte Regenwolken. In Naumburg schien aber bereits wieder die Sonne. Es ist eine besucherfreundliche Stadt mit vielen Parkplätzen außerhalb der Stadtmauer, selbst die Parkgebühren sind angenehm niedrig. Vom Parkplatz an der Vogelwiese überschreiten wir den Jakobsring und stehen schon vor dem Nietzsche-Haus an der Jakobsmauer.
Gleich hinter dem Nietzsche-Haus, in dem heute ein Museum an die Zeit erinnert, da hier die Familie Nietzsche nach ihrem Wegzug aus Röcken in einer kleinen Wohnung lebte, erhebt sich der Neubau des Nietzsche-Dokumentationszentrums. Im vergangenen Jahr wurde dieses Gebäude eingeweiht: die »Kaaba« im »Mekka« der Nietzscheaner.
Im Gebäude geht es hinauf in das obere Stockwerk. Man befindet sich praktisch über den Dächern der alten Stadt. Bernward Küper, der Naumburger Oberbürgermeister, ließ es sich wieder nicht nehmen, die internationalen Gäste persönlich zu begrüßen. Prof. Renate Reschke stellvertretende Direktorin der Nietzsche-Stiftung), Prof. Beatrix Himmelmann (Vorstandsvorsitzende der Nietzsche-Gesellschaft e.V.) und Prof. Jutta Georg (wissenschaftliche Tagungsleitung gemeinsam Prof. Claus Zittel) traten mit kurzen Begrüßungsbeiträgen auf.
Schon trat Prof. Jean-Claude Wolf von der Universität Fribourg in der Schweiz ans Mikrophon. Dr. Ralph Eichberg, der »Stellvertreter Nietzsches« in Naumburg, half ihm noch beim Einstellen der Technik, und schon referierte Wolf zur Einführung in die Tagung über »Der unbewusste Gott – Wandlungen des Unbewussten im 19. Jahrhundert«. Recht schnell wurde dem Zuhörer klar, dass der Vortrag sich auf die »Philosophie des Unbewussten« von Eduard von Hartmann, einem Zeitgenossen und Kritiker Nietzsches bezog. Wolf hob hervor, dass Hartmann mit diesem Werk, dass von seiner Erstauflage 1869 bis 1923 elf weitere Auflagen erlebte, großen Einfluss auf den Zeitgeist hatte. Hartmann (1842–1906) war der Sohn eines preußischen Generals, der zunächst die Offizierslaufbahn einschlug, diese aus gesundheitlichen Gründen jedoch abbrach, und Philosophie sowie Naturwissenschaften studierte.
Hartmann habe sich stark an Schopenhauer orientiert, seine »Philosophie des Unbewussten« sei deshalb auch als Teil einer Schopenhauer-Schule missverstanden worden. Zudem habe Hartmann aber eine große Affinität zu Kant, Hegel und Schelling gezeigt.
Schelling sei es auch gewesen, der in seinen romantischen Jugendjahren das Wort »Unbewusstes« in die Diskussion brachte. In der »Philosophie des Unbewussten« habe sich Hartmann außer auf zahlreiche Vorgänger zudem auf eine große Zahl von Zeitgenossen bezogen.
Trotz des großen Verkaufserfolges der »Philosophie des Unbewussten« habe Hartmann eine kritische Distanz entwickelt, und dem Werk lediglich propädeutische Bedeutung beigemessen. Mitunter erwecke er sogar den Anschein, so Wolf, als ob es sich um eine Jugendsünde handle.
Der Referent folgte Hartmann in seiner Gliederung vom physiologischen, psychischen (relativen) und metaphysischem Unbewussten. Schon am Ende seines ersten von elf angekündigten Gliederungspunkten fasste Wolf zusammen, dass Hartmanns »Philosophie des Unbewussten« eigentlich weniger über Unbewusstes handelt als von einer Kritik des Bewusstseins und der Bewusstseinsphilosophie. Bewusstsein sei nicht das dominierende Moment unserer Psyche und unseres Körpers.
Diese Feststellung wirkte auf einige Zuhörer etwas irritierend.
Wolf fügt an, dass Hartmann unter Bezug auf David Strauss das Unbewusste mit Gott identifizierte. Mit Schopenhauer und Anleihen aus der buddhistischen chinesischen Philosophie habe Hartmann eine radikale Kritik des institutionalisierten Christentums formuliert. Es gebe keine Rückkehr zu einem personalen Gott. Es gibt nur den Gott in uns, mit uns.
Hartmann, so Wolf, gehe in der Begründungen seiner Auffassung bis Leibniz zurück. In seinen Erklärungen habe Hartmann formuliert, dass die Formulierung vom »unbewussten Gott« keine Herabsetzung Gottes, sondern eine Heraufsetzung zu einer Art »überbewusstem Gott« sei.
Wolf brachte mannigfache Querverbindungen Hartmanns mit anderen Gelehrten ins Spiel. Er formulierte an zwei Stellen, dass es sich bei Hartmann vielleicht gar nicht um einen »Wissenschaftler«, sondern einen »Künstler« gehandelt habe.
Jean-Claude Wolf hielt die ihm zugemessene Zeit ein. So war erfreulicherweise auch eine Diskussion möglich. Eine erste Frage war die, ob Hartmanns Buch ein Buch vom Unbewussten oder über das Unbewusste sei.
Wolf wiederholte noch einmal, dass im Buch das Unbewusst thematisiert werde, also über das Unbewusste geschrieben werde.
Ein Fragesteller wollte wissen, ob Nietzsches Willen zur Macht nicht dessen »Unbewusstes« gewesen sei.
Wolf wies milde darauf hin, dass sich die Fragmentsammlung, die sich hinter dem Titel »Willen zur Macht« verbirgt, mit dem Wesen der Welt befasse.
Frau Professor Reschke fragte, wie es käme, dass man nach der Lektüre des Buches »Philosophie des Unbewussten« über das Unbewusste kaum mehr wisse als zuvor?
Wolf wiederholte nocheinmal, dass der Buchtitel eigentliche eine Irreführung sei.
Der Moderator wollte wissen, ob Nietzsches Kritik an Hartmann ungerecht gewesen sei. Wolf antwortet, dass auch Hartmann nicht zimperlich war. Beide seien zueinander gleichermaßen unfair gewesen.
Ein Zuhörer hatte gefragt, ob man, nachdem das Wort »Unbewusstes« an diesem Abend so oft gefallen sei, nicht mit Freud sagen könne: Dann muss es das auch wirklich geben. Doch was sei eigentlich das Wesen des Unbewussten? Stehe die Vorsilbe »Un-« für eine Negation oder sei das »Unbewusste« etwas ganz anderes?
Wolf antwortete, dass für Hartmann das Unbewusste« etwas ganz anderes gewesen sei: soetwas, wie das Wesen der Welt.
Hier endete die Veranstaltung in der Abendsonne, im oberen Stockwerk des neuen Nietzsche-Dokumentationszentrums. An den nächsten Tagen werden Vorträge und Diskussionen stattfinden, bis die Veranstaltung am Sonntag mit einer Laudatio auf den in diesem Jahr verstorbenen Hans-Martin Gerlach, ein Gründungsmitglied der Nietzsche-Gesellschaft, zu Ende gehen wird.
Der Stiftung, dem Verein und der Stadt ist dafür zu danken, dass sie mitteldeutsche Geistesgeschichte immer wieder in den öffentlichen Diskurs einbringt.
Kommentar
Das Tagungsthema »Nietzsches Philosophie des Unbewussten« berührt wichtige Debatten unserer Gegenwart. Das ist keine Frage.
Das »Unbewusste« lässt selbstverständlich schon Sigmund Freud ahnen.
Doch in der Gegenwart fällt ins Gewicht, dass in der Neurophysiologie empirische Untersuchungen zu Gehirnvorgängen vorliegen und dass einige Vertreter der Disziplin an der Dominanz oder gar der Existenz eines »Ich-Bewusstseins« zweifeln.
Die Paradoxie der Situation besteht darin, dass die Vertreter des philosophischen Establishments, die sich der Tradition »der« Aufklärung verpflichtet fühlen, gerade in der Konstituierung eines »Ich-Bewusstseins« die größte Leistung der klassischen deutschen Philosophie sehen. Kritik am »Ich-Bewusstsein« versteht man hier als Bedrohung »der« Aufklärung, als Versuch des »Irrationalismus«.
Es wäre deshalb vielleicht nicht unangebracht gewesen, wenn der Eröffnungsvortrag einige Bezüge zur heutigen Situation aufgenommen hätte. Zudem wäre es hilfreich für uns Laien gewesen, wenn der Fachmann vielleicht auf die Genesis des Wortes »Unbewusstes« in Schellings romantischer Zeit eingegangen wäre.
Dann hätte auch einem breiteren Publikum klar werden können, dass die Vorsilbe »Un-« in der Romantik tatsächlich eine Gegenposition zu einer Reduzierung von Denken auf Vernunft und Vernunft auf mathematische Logik intendierte.
Aber wie das mit solchen negativen Denkbewegungen ist, die »reine Vernunft« blieb auch für das »Unbewusste« prägend, nur von der Rückseite her. Nicht zufällig hielt Gotthilf Heinrich Schubert 1807 im Dresdner Palais Carlowitz Vorträge unter dem Titel »Die Nachtseiten der Naturwissenschaften«.
Bei dem promovierten Mediziner, und in mehreren Disziplinen studiertem Naturwissenschaftler Schubert, kann man auch beobachten, dass der abstrakte Ausdruck »Unbewusstes« kaum eine Rolle spielte. Vielmehr legte er seiner Kritik der eng gefassten Vernunft empirische Untersuchungen von Traumphänomene zu Grunde. 1814 erschien in Bamberg eine »Symbolik des Traumes«. Gerhard Sauder kommt das Verdienst zu, die erste Auflage der Symbolik des Traumes 1968 in einem umfangreich kommentierten Reprint vorgelegt zu haben. Sauder sieht das Hauptverdienst des Herder-Schülers Schubert innerhalb des Kreises der Romantiker darin, nicht der Methode des transzendentalen Idealismus gefolgt zu sein.
Halten wir zunächst fest, dass das Thema Traum für die Untersuchung dessen eine große Rolle spielt, was wir unter »Unbewusstes« subsumieren.
Schubert, der in romantischer Art und Weise »Ur-Traumbilder« fixierte, übte mit seiner Untersuchung einen großen Einfluss auf Wissenschaftler und Künstler seiner Zeit aus. Selbst Sigmund Freud zitierte ihn mehrfach.
Eigenartigerweise fehlt bei Carl Gustav Jung jeder Hinweis auf Schubert, obwohl Jung eine Modifikation der Schubertschen Traum-Symbolik vorlegte.
Eine andere Sache ist es, dass der Herder-Schüler Schubert nur Bruchstücke der Herderschen Sprach-Auffassung weiterführte. So kam es zwar, dass Schubert feststellte, dass es Träume gibt, die uns das Gegenteil dessen zeigen, was wir am Tage wissen und wollen, er konnte aus dieser Beobachtung aber leider keine weiterführenden Schlussfolgerungen ziehen. Hätte Schubert noch einmal seine Aufzeichnungen angesehen, die er im Frühjahr 1799 von Abendvorträgen Johann Gottfried Herders gemacht hatte, dann wäre er auf solche Formulierungen gestoßen, wie: wir erkennen die Wirklichkeit mit allen Sinnen, mit dem ganzen Körper; Verstand und Sprache stellen den inneren Zusammenhang unserer Sinneswahrnehmungen dar; mit der Sprache können wir Sinneseindrücke festhalten und wieder aufrufen, hätten wir die Sprache nicht, zögen die Sinneseindrücke an uns vorüber wie ein Traum.
Hier sind wir beim Kernproblem. Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann führten Philosophie in der Tradition von Plato bis Leibniz weiter. Gleichzeitig nahm Herder die empirischen Untersuchungen von Samuel Heinicke und anderen Ärzten zur Kenntnis.
Für Herder gab es das Problem »Unbewusstes« nicht. Die Romantiker führten das Wort »Unbewusstes« ein, weil sie sich in ihrer Kritik des eng gefasten Rationalismus auf die Methodologie Kants und des jungen Fichtes stützten, die für diesen Zweck jedoch nicht tragfähig war. Für Herder war die Frage, in welchem Maße wir unsere Sinneswahrnehmungen in Sprache (Bild-, Laut-, Schriftsprache) umsetzen können. Wenn Sprache Bestimmung der Sinneseindrücke ist, dann ist jede Bestimmung auch eine Verneinung. Diese Verneinung begegnet uns auch in Träumen wieder. Darüber war sich Herder klar.
Bewusstsein und Vernunft allein sah Herder nicht als ausreichend für das Verständnis der Wirklichkeit an. Neben Vernunft war für Herder deren Gegensatz, die Existenz/Religiosität Voraussetzung der menschlichen Humanität, der menschlichen Natur, der Kultur.
Mit Vernunft allein ist keine Sinnstiftung möglich.
Praktisch fallen die Gegensätze Vernunft und Religiosität für Herder in der Poesie zusammen. Hier geht es um das Sagen des Unsagbaren, um das Sichtbarmachen des nicht Sichtbaren. Philosophie ist für Herder soetwas, wie der Geist von Poesie, Weisheit.
Aus diesem Wissen heraus polemisierte Herder gegen die einseitige und nicht tragfähige Vorstellung eines »reinen Denkens«, einer »reinen Vernunft« und eines »Ich-Bewusstseins« beim jungen Fichte und beim alten Kant.
Weil Herder keine »Philosophie der reinen Vernunft« entwickelte, brauchte er auch keine »Philosophie des Leibes« (und damit keine »Philosophie des Unbewussten«).
Das philosophische Establishment hat noch heute, bis auf wenige Ausnahmen, keinen konstruktiven Zugang zur Herderschen Kant/Fichte-Kritik gefunden.
Das ist ein Grund dafür, warum die Mainstreamphilosophie angesichts des Forschungsstandes der Medizin und Naturwissenschaften heute zunehmend sprachlos bleibt.
Herders Position lässt uns aber auch verstehen, dass der »Künstler« dem »Wissenschaftler« nicht nur nicht nachstehen muss, sondern dass er, wenn er ein Poet ist, wenn er Unsagbares sagbar machen kann, jenem sogar voraus ist. Friedrich Nietzsche war, davon kann man ausgehen, in seinen stärksten Passagen ein Poet.
Sigmund Freud beschäftigte sich mit dem Zusammenhang von Traum und Sprache. Neben seinen Arbeiten zum Traum sei hier eine kleinere Arbeit über den »Sinn der Ur-Worte« erwähnt. Mit Freud könnte man sagen: »Ja, wenn er das weiß, warum sagt er das nie?«.
In diesem Punkt ist die Freud-Kritik des Psychoanalytikers Jacques Lacan von Wert und Bedeutung, auch wenn er im Unbewussten nur das Gegenstück zur »Struktur« unserer Sprache sieht.
Am Ende steht wieder die Herdersche Hypothese, dass wir uns nicht in einem »Ich-Bewusstsein« konstituieren, sondern in Sprache, in Poesie.
Damit wären wir wieder bei Nietzsche.
Johannes Eichenthal