2024 veröffentlichte Emmanuel Todd seine Arbeit „La Défaite de l‘Occident“ im Verlag „Éditions Gallimards“. Im gleichen Jahr erschien die deutsche Ausgabe im „Westend Verlag“. Todd (Jg. 1951) ist Historiker und Anthropologe. Er studierte am Institut d‘études politiques in Paris und wurde an der Universität Cambridge promoviert. Seit 1984 forscht er am Institut national d‘études demographiques (INED) in Paris zu Fragen der Familienstruktur und deren Einfluss auf Religion und Bildung. 1976 sagte er auf Grundlage bestimmter Indikatoren den baldigen Zusammenbruch der UdSSR voraus. Mit einer ähnlichen Methode prognostiziert er nun den Niedergang des Westens. Von der Flut an alarmistischer Literatur zu diesem Thema unterscheidet er sich durch eine vorbildliche Sachlichkeit und Nüchternheit.

Bereits in der Einleitung formuliert Todd eine Hypothese: Der Niedergang des Westens ist eine Gewissheit, weil dieser sich selbst zerstört. Es ist die westliche Krise, genauer die amerikanische in der Endphase, die das Gleichgewicht des Planeten in Gefahr bringt (S. 21). Mit Verweis auf John Mearsheimers Buch „The Great Delusion“ (2018) geht Todd von der Verbindung des Nationalstaates mit Souveränität und einer Kultur mit gemeinsamen Werten aus (S. 24). Das Konzept des Nationalstaates macht Todd an Kriterien fest: Verschiedene Bevölkerungsschichten eines Territoriums partizipieren an einer gemeinsamen Kultur innerhalb eines politischen Systems und verfügen über eine wenigstens minimale wirtschaftliche Autonomie. Seine Hypothese lautet: Im Westen existiert der Nationalstaat nicht mehr (S. 25). Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA seien von Außenhandelsdefiziten betroffen, lebten von Pfründen und Tributen anderer Staaten, die ohne Gegenleistung erbracht werden. Deshalb seien diese Länder keine eigentlichen Nationalstaaten mehr (S. 26). Die USA leiden zudem am Verschwinden einer nationalen Kultur, die von den Massen, wie den führenden Schichten geteilt wird. Die Implosion der auf dem Protestantismus basierenden US-Kultur habe ein Imperium ohne Zentrum entstehen lassen, einem im Wesentlichen militärischen Organismus, der von den „Neocons“ geführt wird (S. 28). Bei der Suche nach einem historischen Vergleich landet Todd schließlich beim Untergang Roms, aber die USA seien kein mit Rom vergleichbares Imperium, sondern befänden sich in der „postimperialen“ Phase (S. 30).

Todd gliedert seine Untersuchung in elf Kapitel, in denen er einzelne Aspekte der Thematik darstellt. Das zwölfte Kapitel ist als Zusammenfassung angelegt. Wir wollen uns auf den Kern seiner Argumentation konzentrieren. Kapitel IV überschreibt Todd mit „Was ist der Westen?“ (S. 121 ff.) Als Grundlage seiner Untersuchung verweist er auf Max Webers Arbeit „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Todd sieht, wie Weber, im Protestantismus die Ursache der wirtschaftlichen Sonderrolle des Westens. Er fügt hier seine Hypothese an: „Wenn der Protestantismus … tatsächlich die Matrix des westlichen Aufschwungs darstellte, dann ist heute sein Tod der Grund für dessen Zerfall …“ (S. 122). Bei der Definition des Untersuchungsgegenstandes unterscheidet er zwischen einer engeren Fassung (Vereinigtes Königreich, USA und Frankreich) und dem heutigen US-Machtsystem (S. 123 f.). In der italienischen Renaissance und der deutschen Reformation sei, so der Autor, die kapitalistische Gesellschaft begründet worden: „Der Protestantismus alphabetisierte die von ihm kontrollierte Bevölkerung aus Prinzip, da alle Gläubigen Zugriff auf die heilige Schrift haben müssen. Und eine alphabetisierte Bevölkerung ist fähig zu technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung.“ (S. 125). Allerdings sei mit dem Protestantismus die Unterscheidung von „Auserwählten“ und „Verdammten“ verbunden, die eine Anfälligkeit für Rassismus erzeugte. Todd fügt an, dass im Katholizismus und in der Orthodoxen Kirche von der Gleichheit aller Menschen ausgegangen wird. Der Autor betrachtet die Alphabetisierung aber auch als Voraussetzung für Demokratie. Seine Untersuchungen des Schwindens der Bildung bekommen deshalb einen politischen Aspekt. Er geht davon aus, das die westliche Massenuniversität eine Schicht von 30–40 Prozent einer Generation hervorbringt, die das Gefühl habe, dem Rest der Bevölkerung überlegen zu sein: die „Massenelite“. Eigentlich ein Unwort. Das habe zur Spaltung der Gesellschaft in den Gegensatz „Elitarismus“ und „Populismus“ geführt (S. 130). Seine Schlussfolgerung: „Wenn das Volk und die Eliten nicht mehr miteinander übereinkommen, um gemeinsam zu funktionieren, dann hat der Begriff der repräsentativen Demokratie keinen Sinn mehr (S. 130). Aus den liberalen Demokratien wurden liberale Oligarchien (S. 132). Die Auflösung der Religion, die Todd jedoch nur in Indikatoren der Kirchenentwicklung dokumentierte, steht dabei im Zentrum des Niedergangsprozesses (S. 135): „Von der Religion geerbte Sitten und Werte verblassen oder platzen und verschwinden schließlich; und dann, aber nur dann, tritt ein, was wir im Begriff sind zu erleben: das absolute religiöse Vakuum, mit Menschen, die aller Ersatzglaubensmuster beraubt sind. Ein Nullzustand der Religion. Dies ist der Augenblick, in dem sich der Nationalstaat in fragmentierte Gesellschaften auflöst …“ (S. 136). Osteuropa und Italien billigt der Autor eine Sonderrolle zu.

Die Kapitel VIII bis X widmet der Autor der Untersuchung der USA, dem „Zentrum der Weltkrise“ (S. 212). Unter Berufung auf eine Arbeit von Anne Case und Angus Deaton verweist Todd auf die sinkende Lebenserwartung in den USA: von 78,8 Jahren (2014) auf 77,3 Jahre (2020) und 76,3 Jahre (2021). Dabei sei ein überdurchschnittliches Anwachsen der Sterberate bei Weißen im Alter von 45 bis 54 Jahren zu verzeichnen. Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung von Nichtweißen leicht (S. 215). Die Kindersterblichkeit, eines der für Todd wichtigsten Indikatoren, lag 2020 in den USA bei 5,4 auf 1000 Lebendgeburten, in Deutschland bei 3,1 (S. 216). Das Verblüffende an diesen Zahlen sei, so Todd, dass in den USA gleichzeitig die weltweit höchsten Ausgaben für das Gesundheitswesen getätigt werden, 18,8 Prozent des BIP. In Deutschland 12,8 Prozent (S. 216).
In den USA wurde bereits 1965 die Schwelle von 25 Prozent einer Generation erreicht, die über eine höhere Bildung verfügen. Damit wurde die egalisierende Wirkung der Alphabetisierung aufgehoben. Die Zugehörigkeit zu kulturellen und religiösen Gemeinschaften wurde untergraben. Es setzte ein Prozess sozialer Zerstückelung, Schwächung und Destabilisierung des Individuums ein: Seltsamerweise ging damit fast unmittelbar ein intellektuelles Nachlassen auf allen Ebenen einher. In Europa erfolgte der Prozess eine Generation später. Im Bildungsniveau begann in den USA zwischen 1965 und 1980 ein Rückgang in den verbalen Fähigkeiten, von 1980 bis 2005 stabilisierten sich die Werte, ab 2005 setzte sich der Einbruch fort. In der Mathematik erfolgte eine ähnliche Entwicklung (S. 226). Ein Begleitphänomen sei der Rückgang der Intensität des Studiums. 1961 wurden durchschnittlich 40 Wochenstunden tatsächlicher Arbeitszeit gemessen, 2003 nur noch 27 Stunden (S. 227).
In einem vorhergehenden Kapitel hatte Todd auf die Ingenieurausbildung in den USA verwiesen. Das ist ebenfalls einer der wichtigsten Indikatoren seiner Methode. In den USA studieren nur noch 7,2 Prozent eines Jahrgangs die Ingenieurwissenschaft. In Deutschland sind es immer noch 24,2 Prozent. (S. 48)
Der Rückgang der US-Industrieproduktion ist ein weiterer Indikator. 1928 machte die amerikanische Wirtschaft 44,8 Prozent der Weltindustrieproduktion aus, 2019 nur noch 16.8 Prozent. China erreichte 2020 einen Anteil von 28,7 Prozent. Bei Werkzeugmaschinenteilen hatten die USA 2018 einen Anteil von 6,6 Prozent der Weltproduktion, die DACH-Region (Deutschland/Austria/Schweiz) 21,1 Prozent und China 24,8 Prozent (S. 237). Die Produktion von Weizen ging in den USA von 65 Mio. Tonnen im Jahre 1980 auf 47 Mio. Tonnen 2012 zurück (S 238). Todd macht schließlich auf den Zusammenhang von Außenhandelsdefizit, importierten Arbeitskräften und der Welt-Leitwährung Dollar aufmerksam: „Die Weltwährung zu minimalen oder gar keinen Kosten zu produzieren, macht jede andere Aktivität außer der Geldschöpfung unrentabel.“ (S. 248).
Das erinnert an die jahrtausendalte Sage von König Midas. Oder nicht?

Auf der Suche nach einer Erklärung des von ihm dokumentierten Niedergangs kommt Todd auf den Begriff des „Nihilismus“. Doch einerseits ist die heutige Entwicklung nicht mit der Denkströmung zu vergleichen, die in Europa vor dem Ersten Weltkrieg die Zukunft durch den Bruch mit der Vergangenheit gestalten wollte. Andererseits erwähnte Todd selbst die Denkströmung der „Neocons“, die mit ihrem Namensgeber Konservatismus nichts mehr verbindet, und die durch ihre Fixierung auf kurzfristige Interessen, entgegen ihren Absichten, den Niedergang sogar noch beschleunigt.
Die Frage ist aber, wie man die von Todd dokumentierte „Transformation“ zum bloßen „Gelddrucker“ begreifen und wie man eine Perspektive gewinnen kann. Todd hatte selbst darauf verwiesen, dass die Entstehung des Christentums für viele Menschen den Niedergang des Römischen Reiches überwinden ließ (S. 30). Wie kann der einzelne Mensch in der westlichen Gesellschaft heute eine Alternative finden?
Todd konzentriert sich in seiner Analyse auf die Institution Kirche. Es gibt aber heute wieder eine Religiösität oder Spiritualität, die außerhalb der Kirchen entsteht. Hier sei auf den großen Walther Rathenau, einen der wichtigsten Philosophen überhaupt, verwiesen. Dieser konstatierte in seinem Hauptwerk „Von kommenden Dingen“ (Gesammelte Schriften in fünf Bänden, Bd. 3, S. Fischer-Verlag. Berlin 1918) dass sich die Industrie mit Vernunft verbunden habe. Das sei angesichts des Bevölkerungswachstums notwendig gewesen. Aus der Verbindung von Industrie und Vernunft sei jedoch etwas entstanden, das er „Mechanisierung“ nannte. Das sei eine materielle Gewalt, die unser gesamtes Leben mit der Forderung nach „Effizienz“, letztlich nach finanzieller Effizienz durchdringe und zum Teil einer Maschinerie, einer „Zusammenfassung der Welt zu einer unbewussten Zwangsassoziation, zu einer lückenlosen Gemeinschaft der Produktion und Wirtschaft“ macht (Ebenda, S. 35). Dieser Prozess sei ein „dumpfer Naturvorgang“, der „unter der Maske der Zivilisation auf primitive Menschheitszustände hinstrebe“ (Ebenda S. 38 ff.).
Gegen diese materielle Gewalt, so Rathenau, helfe keine materielle Gegenkraft. Es bedürfe statt dessen einer geistigen Kraft, um das „blinde Spiel der Kräfte zum vollbewußten, freien und menschenwürdigen Kosmos“ gestalten zu können (Ebenda, S. 38 ff.). Dieser Weg aber verlangt organische Entfaltung, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung“ (Ebenda, S. 68). Für die Erlangung der Selbstverantwortung verwies Rathenau auf die „schauende Kraft der Seele“. Dieser Ausdruck geht auf Meister Eckharts Formulierung „schauendes Leben“ zurück, mit dem dieser die Verbindung eines aktiven Lebens mit Meditation bezeichnete: „Nicht die Philosophie des Intellekts hat uns den alten neuen Doppelweg zu Welt und Gott gewiesen, sondern die schauende Kraft, die vordem viele Namen hatte und die uns seelische Einsicht heißen soll. Sie wird das alte Erbe der Menschheitsführung übernehmen, die die Religion verlor und die Intellektualphilosophie nicht ergriff.“ (Ebenda, S. 226). „Die Botschaft vom Reich der Seele als der wahren Βαδιλεία τον ουρανων (dem Himmelreich) ist die einige und einigende Religion unserer werdenden Menschheit“. (Walther Rathenau an Wilhelm Schäfer vom 28. April 1917 In: Walther Rathenau Briefe 1, Carl Reissner-Verlag, Dresden 1927, S. 261).
Wir können davon ausgehen, dass Rathenau, der Schüler Wilhelm Diltheys, den Gedanken Gottfried Wilhelm Leibniz’ kannte: unsere Seele ist ein Spiegel des Weltalls. Wir sind dazu da, diesen Spiegel zu aktivieren, um unseren Platz im Kosmos zu begreifen. Der letzte Satz „Von kommenden Dingen“ lautet: „Wir sind nicht da um des Besitzes Willen, nicht um der Macht willen, auch nicht um des Glückes willen; sondern wir sind da zur Verklärung des Göttlichen aus menschlichem Geist.“ (Ebenda, S. 366).
Johannes Eichenthal

Information
Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024. ISBN 978-86489-469-5
Von Johannes Eichenthal erschien 2021 im Mironde-Verlag: „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 2. Von Goethe bis Rathenau.“
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.
Lieber Andreas,
sollte Emmanuel Todd mit seiner Vorhersage wiederum recht behalten und sie mit etwa demselben zeitlichen Vorsprung eintreten wie die letzte, wäre die „Insolvenzverschleppung“, die wir seit einigen Jahren erleben, ungefähr im Jahre 2035 zu Ende. Klingt doch nicht schlecht. So erleben wir das also wahrscheinlich noch (mal). Schließlich ist ja wiederholt ganz und gar nicht zu erwarten, daß sich an den Ursachen des Untergangs bzw. der „Wende“ etwas ändert. Nun gut – da müssen wir nur hoffen, daß die Kolateralschäden beim Untergehen nicht all zu heftig oder total ausfallen wie beim vorletzten Mal.
Neuanfänge haben wir geübt. Das sollte jetzt klappen. (Könnte das vielleicht jemand sicherheitshalber noch in Form eines Rezeptbuches aufschreiben? Man wird mitunter vergeßlich.)
Ich persönlich hätte bei der Schätzung des Zeitpunktes auf das Jahr 2030 gesetzt – einfach wegen der biblischen Tradition der 40 Jahre. Freilich wäre dieses Muster für solche Epochen der Weltgeschichte zu trivial.
Aber wir könnten es doch wie die Buchmacher halten und wetten. Wer am nächsten dran liegt, hat gewonnen. Da kommt beim Beobachten des Niedergangs etwas mehr Interesse und Spaß auf. Los! Wer bietet eine andere Jahreszahl?
Viel Freude beim Raten
und herzliche Grüße
Steffen
Lieber Steffen, lieber Andreas,
ich setze als Schätzung das Jahr 2029.
Sollte in 2030 noch nichts dergleichen passiert sein, liegst du, lieber Steffen automatisch „näher dran“. Als Verlierer würde ich mich um einen einmalig gedeckten runden Holztisch kümmern 🙂
herzliche Grüße
Peter