Siegfried Rauch
Reportagen

ERINNERUNG AN SIEGFRIED RAUCH

Der 19. Juni war ein sonniger Frühsommertag. Eine Schar von Kennern zog es am Abend zum Sächsischen Fahrzeugmuseum in Chemnitz. Hier sollte Dr. Andreas Eichler den dritten Band der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland“ vorstellen, der auch ein Kapitel über den in Chemnitz geborenen Ingenieur Siegfried Rauch (1906–1996) umfasst. Frieder Bach wollte über seine Bekanntschaft mit dem legendären DKW- und Auto-Union-Strategen berichten. Aufgrund seiner Doppelbegabung war Rauch nicht nur ein begnadeter Ingenieur sondern vermochte auch komplizierte technische Zusammenhänge allgemeinverständlich zu beschreiben. Er verfasste Handbücher, Gebrauchsanweisungen und Fachbücher. Sein vielleicht wichtigstes Buch war „DKW – Geschichte einer Weltmarke“. Hier vermochte er den Ansatz des DKW-Gründers Jörgen Skafte Rasmussens, einfache, zuverlässige und preiswerte Fahrzeuge zu produzieren, herauszuheben. Rasmussen vermochte die Bedeutung des verpönten Zweitaktmotors, der unbekannten Umkehrspülung und des ungeliebten Frontantriebs für PKW zu erkennen. Gemeinsam mit seinem Vertriebschef Carl Hahn, dem Entwicklungschef Hermann Weber und der erzgebirgischen Handwerker-Belegschaft schuf er die Weltmarke DKW. Gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verteidigte Rasmussen mit DKW die Fahrzeugherstellung der Region durch Aufnahme der insolventen Firmen „Audi“ und „Horch“, sowie Teilen der Fahrzeugbranche der „Wanderer-Werke“, zur „Auto-Union“. Die vier beteiligten Firmen wurden mit vier Ringen symbolisiert.

Siegfried Rauch

Museumsleiter Dirk Schmerschneider begrüßte die zahlreichen Gäste, die trotz des schönen Sommerwetters gekommen waren, und führte kurz in die Thematik ein. Andreas Eichler erklärte zunächst die Entstehung der Sprachlandschaft „Mitteldeutschland“ im Rahmen der Expansion des ostfränkisch-deutschen Königreiches aus Niedersachsen in Richtung Lausitz. Diese Ausdehnung fiel mit der Krise des Königreiches zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert zusammen. Im Machtkampf zwischen Königtum und Vatikan gab es zeitweise Gegenkönige und Zeiten ohne Regierung („Interregnum“). Der Papst verbot zudem teilweise die Seelsorge im Reich („Interdiktum“). Die Mehrheit der Menschen wurde tief verunsichert. Eine Minderheit suchte nach Auswegen. In dieser Situation entstand durch Dialektausgleich die Erneuerung der althochdeutschen Sprache zur mittelhochdeutsche Sprache. Der Minnesänger Heinrich von Veldeke (1140/50 – um 1190) konnte mit der neuen Sprache auf der Neuenburg bei Freyburg erstmals seine Intentionen im Roman „Eneas“ angemessen in deutscher Sprache ausdrücken. Walther von der Vogelweide (um 1170 – um 1230) dichtete auf der Wartburg in mittelhochdeutscher Sprache. Auch Wolfram von Eschenbach (1175/80 – nach 1220) arbeitete auf der Wartburg an seinem großen Roman „Parzival“ in mittelhochdeutscher Sprache. Mit der Erneuerung der Sprache wurde gleichzeitig die Erneuerung des Denkens möglich. Seither, so Eichler, seien nahezu alle Erneuerungsbewegungen der deutschen Geschichte zwischen Braunschweig und Görlitz entstanden. Die Sprache sei auch der entscheidende Faktor bei der Organisation der industriellen Produktion, wie auch bei der Erfindung neuer technischer Verfahren gewesen. Selbst in Wissenschaft und Technik könne nur kommuniziert werden, was in eine literarische (erzählerische) Form gebracht werde. 

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Eichler stellte insgesamt 26 Personen vor, um den sprachlich-literarischen Prozess fassbar zu machen. Bei Siegfried Rauch übergab er das Wort an Frieder Bach. Dieser begann aus der persönlichen Erinnerung zu erzählen. Siegfried Rauchs Art seine Briefe zu beantworten bzw. sein Umgang im persönlichen Gespräch, das Bach seit 1987 aufgrund eines gemeinsamen Buchprojektes und der damit verbundenen Reisegenehmigung des Kulturministeriums der DDR möglich war, sei durchaus als väterlich zu bezeichnen. Dabei ließ sich Rauch nie den Wissensvorsprung von mehr als vierzig Jahren anmerken oder brachte selbigen gar ins „Spiel“, denn er hatte die Zeit der „Kultivierung“ des Zweitaktmotors, die Frieder Bach nur aus Recherchen kannte, als technikinteressierter Junge und Student miterlebt. Rauch wurder 1906 in Chemnitz geboren und studierte auch hier Maschinenbau. Seine Wohnung befand sich in Chemnitz auf der Haydnstrasse 96, fast in Sichtweite der heutigen Villa „Hahn“.  Das in der Technischen Lehranstalt Chemnitz erworbene Ingenieurwissen setzte er beruflich ab 1936 im Kundendienst des DKW-Werkes ein, das damals schon ein Teil der Auto Union war und mit der Zentralen Verwaltung kurz danach auf das Gelände des ehemaligen Presto-Werkes in Chemnitz gezogen war. Hier in der DKW-Kundendienstschule konnte Rauch schon als junger Ingenieur seine Erfahrungen, die er mit eigenen Motorrädern, Werksmaschinen von DKW und dem Zweitaktmotor als Autoantrieb gesammelt hatte in Lehrgängen an Mitarbeiter der DKW-Reparaturwerkstätten weitergeben. 

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Als wort- und schreibgewandter Vizechef des Kundendienstes, der in seinem Chef Wolf Doernhoeffer immer einen gleichgesinnten Zweitaktfreund an seiner Seite wusste, verfasste Rauch zahlreiche Werkstatthandbücher, die die Auto Union an ihre DKW-Vertretungen ausreichte. Auch Handbücher zu den einzelnen Fahrzeugtypen mit den Zweitaktmotoren für Motorräder aus Zschopau wie auch die Frontantriebsautos aus Zwickau stammten aus seiner Feder. Beiträge in der Zeitschrift „Das Motorrad“ brachten seine Erfahrungen mit dem zweirädrigen Fortbewegungsmittel zum Ausdruck und die angesprochenen Konstrukteure oft dazu, Rauchs Wissen in Konstruktionsänderungen zum Vorteil des motorradfahrenden Kunden umzusetzen. Erfahrungen als Motorradfahrer hatte Siegfried Rauch u. a. auf seinen Fahrten zur Ostsee gesammelt, als er in Wustrow seine zukünftige Ehefrau besuchte, die als Baletttänzerin oft die Sommerlehrgänge der berühmten Gret Palucca, zu ihrer Weiterbildung nutzte. Für diese Langstreckenfahrten hätte Rauch sicher eine Probefahrtmaschine aus dem DKW-Werk zur Verfügung gestanden. Er benutzte aber lieber eine selbstgebaute „Rauch-Spezial“ genannte Maschine mit einem auf Wasserkühlung umgebauten „Bekamo-Motor“. So konnte er seine konstruktiven Ideen selbst in der Praxis überprüfen, was den Zweitaktfachmann weit über das Maß des anstudierten Wissens erhob.  

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Frieder Bach hatte Bücher und Broschüren Siegfried Rauchs zum Vortrag mitgebracht

Mit dem Ende der Zweitaktproduktion in Folge des für Deutschland verlorenen Zweiten Weltkrieges war auch Rauchs Wissen eine Zeit lang nicht mehr gefragt. Demzufolge verdiente er sein „Brot“ in der Praxis dieser Branche, die für ihn also nicht fremd war, in der Werkstatt der Fa. Würfel in Weimar, einer ehemaligen DKW-Vertretung und in einer Chemnitzer Werkstatt. Als dann der ostdeutsche Fahrzeugbau endlich Fahrt aufnahm, war Siegfried Rauchs spezielles Zweitaktwissen wieder gefragt und man stellte ihn als Technischen Leiter des Forschungs- und Entwicklungswerkes des Fahrzeugbaus ein, das sich im Gebäude der ehemaligen zentralen Entwicklungsabteilung der Auto Union an der Kauffahrtei in Chemnitz befand, wenige hundert Meter von Rauchs ehemaliger Wirkungsstätte entfernt. Der DKW-Kundendienst und damit die DKW-Werksschule hatten bis zur Auflösung der Auto Union am südlichen Ende der Kauffahrtei existiert; deren Gebäude noch bis in die 2000er Jahre. Sie wurden in der DDR als Betriebsschule der Barkas-Werke genutzt und nach 1990 dienten sie als VW-Werkstatt, die der ehemalige Fuhrparkleiter des VEB Barkas, Frieder Seltmann, gegründet hatte. 

Siegfried Rauch

Porträt Siegfried Rauchs aus den 1980er Jahren

Neben seinen offiziellen Aufgaben hatte Siegfried Rauch nun ab 1949 die Möglichkeit für den jungen Motorsport der neugegründeten DDR unterstützend zu wirken. Dies zeigte sich besonders beim Aufbau und Einsatz zweier Rennwagen auf F 9-Basis mit den Fahrern Hofmokel und Richter. Auch Harald Linke hätte es ohne Rauchs Hilfe sicher ungleich schwerer gehabt, als Motorradrennfahrer in der Szene Fuß zu fassen und Erfolge zu erzielen. Beruflich war Linke Versuchsfahrer und Chauffeur für S. Rauch. Haralds Chef kümmerte sich auch darum, dass auf dem ehemaligen Auto Union-Gelände ein Plätzchen frei wurde, wo Harald an seiner Rennmaschine schrauben konnte. Ebenso war der neue Entwicklungsleiter der kurze Zeit später unter der Bezeichnung „IFA“ zusammengefassten Fahrzeugbaubetriebe ein treibender Keil, dass 1952 und 1953 auf einem Teil der Autobahn, der sogenannten „Schere“ bei Chemnitz Auto- und Motorradrennen gefahren wurden. Er war sehr intensiv an der Entwicklung des Kleinwagens, der später als „Trabant“ in die Historie einging, beteiligt.  Ein kleiner leistungsstarker Zweitaktmotor war ja sein Thema! So entwickelte er zusammen mit Paul Wittber den Drehschiebermotor für den zukünftigen Trabbi, aus dem dann von den Eigenbauern alles gemacht wurde, was für ein Auto vorstellbar war. Selbst ca. 60 Jahre nach dessen Produktionsbeginn finden die ehrenamtlichen Konstrukteure an den Motoren der „Rennpappen“ noch versteckte Pferdestärken, die sie dann freilassen. Aber trotz aller seiner Aktivitäten spürte der Techniker, dass es für ihn, wie für viele andere führenden Köpfe im Fahrzeugbau der DDR keine gesicherte berufliche Zukunft geben würde. 

Siegfried Rauch

Frieder Bach präsentiert das Buch, bei dem er mit Siegfried Rauch und Woldemar Lange als Autor wirkte: DKW-MZ – zwei Marken eine Geschichte

Als Siegfried Rauch der politische Druck auf die Fahrzeugentwicklung in der DDR zu stark wurde, diskutierte er mit Harald Linke auf der Rückfahrt von einer Messe in Frankfurt a. M. dieses Thema und ließ sich dann in Nürnberg absetzen. Harald kam allein mit dem Prototypauto zurück. Von 1955 bis 1959 diente das Wissen des Zweitaktfachmanns nun der Weiterentwicklung der Victoria-Motorräder in Franken, deren Hersteller dann auch dem allgemeinen Niedergang der Motorradproduktion in der westlichen Welt folgte. Von diesem Interessensrückgang war auch das Fachblatt „Das Motorrad“betroffen, dass nur noch eine Auflage von ca. 30.000 Exemplaren besaß. Siegfried Rauch wurde der neue Chefredakteur, der diese Arbeit etwa bis zu seinem 70. Geburtstag ausführte. In dieser Zeit stieg die Auflagenhöhe der Zeitschrift  wieder auf etwa 200.000 Exemplare. Rauch hatte mit viel Gefühl, trotz seines Konservatismus, den Wandel begleitet, den das Motorrad durchmachte: vom Gebrauchsgegenstand zum sportlichen „Luxusartikel“. Er spielte immer den Vermittler zwischen dem Motorradkäufer und der Zweiradindustrie, was ihm aber nur gelang, da er ein von allen Seiten anerkannter Fachmann war.  Auch im „Ruhestand“ in seinem Häuschen in Hiltpoltstein nahe Nürnberg, hielt er dem Motorrad und dem Schreiben darüber die Treue. Bücher wie „60 Jahre Zündapp-Technik“ oder „DKW, die Geschichte einer Weltmarke“ sind ein deutlicher Hinweis darauf. Dass ihm immer der Nachwuchs im Gebiet des Fahrzeugbaus am Herzen lag, bewies seine Arbeit an einer Zeitschrift für KFZ-Lehrlinge seit 1957. Auch während seiner Zeit in der DDR war er auf diesem Gebiet nicht untätig gewesen und hatte mehrere Bücher geschrieben, die der Fortbildung und der Sicherheit des Motorradfahrers dienten, wie „Handbuch für den Motorradfahrer“, „Handbuch für den Motorradsportler“ oder  „Das Motorrad mit Seitenwagen“. Er war also ständig als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis tätig. Seine Bücher reflektieren seine Erfahrungen. Selbst Krankheiten und nicht ausbleibende Alterserscheinungen konnten Rauch nicht bremsen, die Erfahrungen eines langen Technikerlebens zu Papier zu bringen.  Nur der Tod seines Sohnes Volker, der viele Bücher über die Motorradweltmeisterschaften schrieb und kurz darauf das Ableben seiner Frau bremsten Siegfried Rauchs Aktivität für einige Zeit. 

Siegfried Rauch

Siegfried Rauchs vielleicht bekanntestes Buch

Als Frieder Bach das erste Mal Rauchs Schreibstube im Kellergeschoß des Hauses am Rande des fränkischen Örtchens Hiltpoltstein betrat, hatte er gerade Post von der großen Autobaufirma „Ford“ bekommen, deren Konstrukteure ihm Zeichnungen mit einem Zweitaktmotor zur Begutachtung vorlegten. Kurze Zeit später folgten Zeichnungen von „Toyota“, die das gleiche Thema betrafen. Allein daran sind der Respekt und die Achtung vor Rauchs Wissen und Erfahrung als Motorenfachmann  zu erkennen, denn er hatte zu dieser Zeit die 80 schon überschritten und war mit seinem Wissensstand aber auf dem Laufenden. Dazu ist noch zu bemerken, wenn man zu jener Zeit wissen wollte, was in Zschopau oder Suhl im Zweiradbau der DDR gerade aktuell war, kam man schneller zu einem Ergebnis, wenn man Rauch befragte, als wenn man sich bemühte aus den jeweiligen Werken ein vernünftiges Ergebnis herauszuquetschen. Er war immer und umfassend informiert. Das war auch der Grund weshalb sich meine  Reisezeit von Chemnitz nach Ingolstadt, die immer einen Abstecher nach Hiltpoltstein beinhaltete, um viele Stunden verlängerte. 

Siegfried Rauch

Noch heute, etwa 29 Jahre nach Siegfried Rauchs Tod am 2. April 1996, empfindet Frieder Bach die Widmung Siegfried Rauchs, die er ihm im Juli 1988 mit einem Exemplar seines Buches über die Weltmarke DKW übergab, als höchste Ehre.

Siegfried Rauch

Gemeinsam mit dem Fotografen Detlev Müller führte Frieder Bach das Werk Siegfried Rauchs anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Aufnahme der DKW-Motorrad-Serienproduktion weiter

Frieder Bach erinnerte mit Siegfried Rauch an einen Strategen, der seinen Zeitgenossen die Bedeutung des DKW-Projektes Jörgen Skafte Rasmussens für die Region Chemnitz-Erzgebirge-Zwickau nahe brachte. Aber weder in West- noch in Ostdeutschland wurde man der Erbschaft gerecht. Frieder Bach war einer der wenigen, der die strategische Bedeutung des DKW- und Auto-Union Projektes für die Region erkannte. Siegfried Rauch überliefert das Erbe in Form einer Erzählung. Ebenso Frieder Bach. Selbstverständlich muss man heute die Tradition anders anwenden als vor 100 Jahren. Doch dazu bedarf es der Kenntnis der Tradition. Interessanterweise eignen sich in unserer Zeit  junge Leute im Oldtimer-Bereich die handwerklichen Kenntnisse an, die auch bei der anstehenden Erneuerung der Fahrzeugindustrie vorausgesetzt werden. Dass das so ist, verdanken wir auch Menschen wie Frieder Bach.

Clara Schwarzenwald

Siegfried Rauch

Information

Frieder Bach/Delev Müller: Zwei Takte und zwei Räder. DKW-Serienmotorräder 1922–1945: https://buchversand.mironde.com/p/frieder-bach-detlev-mueller-zwei-takte-und-zwei-raeder-dkw-serienmotorraeder-1922-bis-1945

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Thomas Mann bis Gundermann: https://buchversand.mironde.com/p/andreas-eichler-literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-t-3-von-thomas-mann-bis-gundermann

Andreas Eichler: Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland: Teil 1 bis 3: https://buchversand.mironde.com/p/eichler-literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-teil-1-3

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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