Reportagen

Zuhause ist überall

»Das Wort ‹Paneuropa› statt ‹Vereinigte Staaten von Europa› soll zum Ausdruck bringen, dass Europa die Verfassung des nordamerikanischen Bundesreiches mit seiner gemeinsamen Sprache und Verwaltung weder nachahmen kann noch will; sondern dass sich die selbständigen Staaten Europas nur zu einem Staatenbund zusammenschließen können unter der vollen Wahrung ihrer nationalen Verschiedenheiten, zur Entfaltung und Sicherung ihrer nationalen Kulturen, auf Grundlage der Gleichberechtigung und der Solidarität«. Als Richard Coudenhove-Kalergi, der 1924 unter dem Eindruck der Schrecknisse des Ersten Weltkriegs in Wien die Paneuropa-Union gegründet hatte, 1931 dieses Bekenntnis seinem auch heute wieder aktuellen programmatischen »Paneuropa-ABC« gleichsam als Präambel voranstellte, war seine Nichte Barbara noch nicht geboren. Sie kam 1932 als Tochter seines Bruders Gerolf und dessen Frau Sophie Pálffy in Prag-Smichov zur Welt, in einem Adelsmilieu, das weder Kontakte zur deutschen bürgerlichen Gesellschaft in Prag noch zum tschechischen Bürgertum pflegte. Obwohl der Vater nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht für kurze Zeit für den Nazi-Reichsprotektor Konstantin von Neurath arbeitete, ging die Familie, ohne jemals zum Widerstand zu gehören, sowohl vor als auch nach der Okkupation der Tschechischen Republik durch Nazi-Deutschland auf Distanz zum Nationalsozialismus.

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Nach der Befreiung Prags  und der Kapitulation der deutschen Truppen wurde der Familie nahegelegt, das Land zu verlassen. Damit gingen das Haus in Prag und das Gut im südböhmischen Březnice, das der ungarischen Adelsfamilie Pálffy gehörte, verloren. Barbara Coudenhove-Kalergi schreibt darüber ohne Groll und ohne Bitternis, weil sie weiß, dass die Ursachen in der NS-Politik lagen und dass die ersten Vertriebenen dieses Krieges die Juden und die Tschechen waren. Nirgendwo in ihrem Buch findet sich eine Bemerkung, die an die Forderungen derjenigen erinnern könnte, die die »Vertreibung« der Deutschen zum Inhalt ihrer Politik machen.
Österreich nahm die Flüchtlinge freundlich auf, sie konnte zur Schule gehen und wurde sogar in ein Klosterinternat aufgenommen. Ihr fiel auf, dass die NS-Zeit kaum behandelt wurde, später, als sie schon für die Presse arbeitete, bemerkte sie allerorts die restaurativen Tendenzen. Vielleicht wurde sie auch durch ihren Großvater Heinrich sensibilisiert, der ein weit beachtetes Buch über den Antisemitismus schrieb, und das in Wien, in der einer der rabiatesten Antisemiten, Karl Lueger, Bürgermeister war? Nach einem Aufenthalt in England und einem abgebrochenen Fremdsprachenstudium begann sie zu schreiben, konnte für die Tageszeitung »Die Presse« arbeiten und schrieb über einen der ersten Neonazi-Prozesse. Aber das Wort »Neonazi«, so könnte man aus dem Kapitel »Wie man Nazis macht« ihres Buches lernen, ist eigentlich verharmlosend und die Geschichte ausblendend. Besser wäre es tatsächlich, diese Leute zu nennen, was sie sind: Nazis mit allen Attributen, menschenverachtend, antidemokratisch, antisemitisch und völkerverhetzend. Mit ihrem Blick auf Österreich fühlt man sich an Hannah Arendts »Besuch in Deutschland« erinnert: Die Opfer des Zweiten Weltkriegs sind die Deutschen – und die Österreicher! Und letztere erfanden gar noch die Legende, sie seien die ersten Leidtragenden der nazistischen Expansion gewesen. Vielleicht ist es aus diesem Grund auch folgerichtig, dass Frau Coudenhove-Kalergi 1967 bei der »Arbeiterzeitung« der SPÖ angestellt wird, mit der Zustimmung übrigens keines Geringeren als Bruno Kreisky. Aber zuvor, 1964, hatte sie »die Liebe ihres Lebens« kennengelernt, bei ihrer Herkunft eigentlich eine Überraschung, die ihr auch den zeitweiligen Unmut des Vaters einbrachte. Georg Eisler, der Sohn von Hanns Eisler, machte sie mit Franz Marek, damals noch Politbüromitglied der KPÖ, bekannt. Es war wohl Liebe auf dem ersten Blick, aber Marek, Kommunist, Widerstandskämpfer, Angehöriger der Résistance, von der Gestapo zum Tode verurteilt, in letzter Stunde durch den Fall von Paris gerettet, nach dem Krieg einer der einflussreichsten Kommunisten in Österreich, der auch als Erster Antonio Gramsci für den deutschen Sprachraum entdeckte und nach dem XX. Parteitag der KPdSU und der Ungarischen Revolution zu einem der Vordenker des Eurokommunismus und als Konsequenz daraus nach der Kritik an der Niederschlagung des Prager Frühling 1970 aus der KPÖ ausgeschlossen wurde, faszinierte nicht nur sie. Rudi Dutschke nannte seinen Sohn nach dem 1979 Verstorbenen und für den marxistischen Historiker Eric Hobsbawn war er »ein Held unserer Zeit«. Es war ein seltsames Milieu, in das sie hineinheiratete. Die KPÖ verlor durch ihre Bindung an die Sowjetunion den ohnehin geringen Einfluss auf die österreichische Politik und wurde zunehmend isoliert. Nur noch einzelne Persönlichkeiten, wie u.a. der Literaturtheoretiker Ernst Fischer und der Bildhauer Alfred Hrdlicka, die sie natürlich alle näher kennengelernt hatte, brillierten in der Öffentlichkeit. Es ist, als ob so etwas wie die Trauer über verschwundene Milieus bei aller Freude über das Verschwinden von Diktaturen in Europa ihre Autobiographie mitbestimmt. Mehrfach begab sie sich, nun auch schon für das Fernsehen arbeitend, an die Stätten, an denen der nazistische Wahn nicht nur die jüdischen Menschen, sondern damit auch gleich einen Teil der europäischen Kultur vernichtet hatte. Beeindruckend und beschämend liest sich die »Suche nach dem verlorenen Schtetl« und die Schilderung des Besuchs in der ehemaligen Kulturmetropole Cernowitz, die so viele bedeutende jüdische Intellektuelle hervorgebracht hatte, und von deren einstiger Bedeutung heute fast nichts mehr zu spüren ist.
Beeindruckend ist weiter, wen sie, und das in ihrer warmen und freundlichen Sprache beschreibend, alles getroffen und gesprochen hat. Das Treffen mit Adorno gehörte zur ihren Jugenderlebnissen, sie war 1968 in Kuba und hörte die Ansprache von Fidel Castro zum 1. Todestag von Che Guevara. Im gleichen Jahr hatte sie hoffnungsvoll auf den Aufbruch in der ČSSR geschaut und war entsetzt über dessen gewaltsamen Abbruch. Von der Herkunft her verständlich, galt ihr besonderes Interesse natürlich den Ereignissen in der Tschechoslowakei. Deshalb war sie auch publizistisch bei der »Samtenen Revolution« dabei und wurde später von Vaclav Havel geehrt. Aber trotzdem: Bei aller Sympathie für  die Tschechen und ihrem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, es war nicht mehr ihr Prag, das Prag ihrer Kindheit. Dazu kommt, die deutsche, die österreichische, vor allem die jüdische Kultur, die diese Stadt so maßgeblich mit geprägt hatten, waren verschwunden, gegenständlich noch bestenfalls als steinerne Zeugen.
Sie besuchte 1971 das maoistische, noch unter der Kulturrevolution leidende China und berichtete in den 80er Jahren über die Kämpfe der polnischen Arbeiter. Hier interviewte sie auch Marek Edelman, einen der Kommandanten des Warschauer Ghetto-Aufstands. Durch die untergehende DDR reiste sie ebenso wie immer wieder in das zerfallende Jugoslawien. Unmöglich, alle die Orte zu nennen, an denen sie recherchierte und filmte und alle Personen, die sie interviewte und die sie in ihrem ereignisreichen Leben traf.
Besorgt über den Rechtsruck der FPÖ und darüber, dass die »honorig-konservative ÖVP mit den Rabauken von ganz rechts kokettiert«, engagierte sie sich für »Keine Koalition mit dem Rassismus« und für die Initiative »Land der Menschen«. Sicher war auch das ein Grund dafür, dass sie 2013 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln erhielt. Sie, die 1945 als Flüchtling in Österreich aufgenommen wurde, fragt, weshalb das heute für andere Schutz- und Zuflucht-Suchende nicht mehr möglich sein soll. In einem Europa der Kulturen muss, so versteht sie vielleicht das Vermächtnis ihres Onkels, auch Platz für Andere sein. »Ich machte«, so schreibt sie am Ende ihres Buches, »eine Ausbildung als Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache und unterrichte fortan Migranten und Asylbewerber in der deutschen Sprache. Und entdecke wieder einmal eine neue Welt.« Was für eine Frau, was für ein Leben! kann man dem nur noch hinzufügen.
Werner Abel

Information
Barbara Coudenhove-Kalergi  Zuhause ist überall. Erinnerungen
Paul Zsolnay Verlag Wien 2013, 333 Seiten, 22,90 Euro

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