Rezension

BLICK IN NEUE TSCHECHISCHE BÜCHER

Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Reiner Neubert stellt in dieser Reihe regelmäßig interessante Neuerscheinungen tschechischer Bücher vor, die in deutscher Übersetzung vorliegen.

Clara Schwarzenwald

Ich will in die Hölle!

Diesen Spruch äußert die 28-jährige Protagonistin des Romans „Staubfänger“ (2022) der jungen Schriftstellerin Lucie Faulerová (1989 geb.) im Text mehrfach. Anna Kapralová hat ein wirres und ereignisreiches Leben hinter sich. Als Kind musste sie erleben, wie ihr meist betrunkener Vater von seinen Zechgelagen nach Hause kam und die Mutter verprügelte. Oft wurden sie und ihre Schwester Dana Zeugen und auch Opfer von brutalen Demütigungen. Das blieb tief sitzen.

In der Gegenwartsebene etwa zwanzig Jahre später treffen sich Anna und Dana öfters zu einem Plausch. Dana hatte inzwischen drei Kinder mit Zdeněk Kuřinec, dem „Hühnerdreck“. Anna war Telefonistin geworden und arbeitete in einem Call-Center. Kürzlich war sie gar als „Mitarbeiterin des Jahres“ ausgezeichnet worden. Aber durch die täglich über acht und mehr Stunden dauernden Anfragen von unterschiedlichsten Hörern zu verschiedensten Sachgebieten war ihr nervlicher Zustand total zerrüttet: eine „ganztägige Maskerade“ (S. 11), so wie ihr gesamter Lebensstil. Deswegen ist Anna froh, sich mit ihrer Schwester treffen zu können, auch wenn sie von ihr lediglich Vorwürfe über ihren seltsamen Lebenswandel zu hören bekommt. Dana rät ihr, sich bei einem Psychologen in Behandlung zu begeben und hat auch eine konkrete Person im Visier. Viktor Kavi hatte nämlich mit Dana Kontakt aufgenommen, nachdem er als Mediator im Gefängnis die Mutter der Geschwister ärztlich betreut und genau deswegen seinen Dienst in jener Anstalt quittiert hatte. Denn Mirjam, die Mutter, war dorthin verbracht worden, weil sie nach dem Mord an ihrem Mann zu zwölf Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden war. Dana hatte ihre Mutter mitunter im Gefängnis besucht, während Anna das strikt ablehnte, was Gründe hatte.

Anna hatte in ihrem unsteten Leben mehrere flüchtige Bekanntschaften, dümpelte so vor sich hin, und jene enge Liebesbeziehung zu Jakub vermochte sie nicht aufrecht zu erhalten, wobei sie immer wieder sehnsüchtig daran erinnert wird. In ihrer Wohnung häufen sich angesammelte Gegenstände, an die sich ebenfalls Erinnerungen knüpfen, aber sie verkommen als „Staubfänger“. Deswegen meidet sie ihr vormaliges Zuhause. Nach dem zufälligen Kontakt mit Kavi ist sie betört von ihm, belagert seine Praxis, dann auch seine Wohnung, observiert seine Familie, und zuletzt kommt es zu einigen innigen und intimen Begegnungen, während der Kavi ihr rät, Anna solle sich endlich darüber bewusst werden, was sie wolle. Denn ihr ausschweifendes Leben hatte mittlerweile nicht nur zu ihrer Entlassung geführt, sondern auch die Rückblenden an ihre zerrüttete Kindheit wieder aufleben lassen: sie hatte als Kleinkind nach einem Exzess ihren Vater mit einer Schere derb angegriffen und zu erstechen versucht, und die Mutter hatte die Tat vollendet und ihn mit einem Kissen erstickt. Die Strafe als Mörderin hatte sie allein auf sich genommen, um die Tochter zu schützen.

Die schlimmsten Momente ihres turbulenten Lebens erfahren am Schluss ihren Höhepunkt…

Der Prosatext ist nicht einfach zu bewältigen. Ein zwischengelagerter Erzähler, der auch als reale Figur auftaucht, stachelt die zentrale Person oft an nachzudenken und zu Entscheidungen zu gelangen. Viele dieser Sequenzen werden wortgewaltig inszeniert, wobei Wortgruppen und einzelne Wörter dezidiert wiederholt werden, um den Sachverhalt nachdrücklich erscheinen zu lassen. Derart können Annas innere Gedankenflut und ihre Gefühlsverwirrungen einprägsam veräußert werden. Das Pendeln zwischen Lügen und realen Geschehnissen verstärkt diese Absicht. Die mitunter jedoch eingefügten ausführlichen Schilderungen des eigentümlichen Sexualverhaltens der Protagonistin, insbesondere zu ihrer Praxis des oralen Sexes, der minutiös dargestellt wird, stehen in ihrer Freizügigkeit im Kontrast zum verstaubten Charakter ihres Alltags.

Man darf auf weitere literarische Zeichen der Autorin gespannt sein.

Information

Lucie Faulerová: Staubfänger. Erlangen: homunculus verlag Frenzel, Jacobi & Reinthaler OHG 2022. 224 Seiten. Preis 22 Euro. ISBN 978-3-946120-98-8. Übersetzt von Julia Miesenböck

Spiele mit der Wahrheit

Kürzlich hatte der junge tschechische Schriftsteller Vratislav Maňák (1988 geb.) bereits mit dem Kinderbuch „Der Mann in der Uhr“ (2018) und dem Roman „Heute scheint es, als wäre nichts geschehen“ (2019) auf sich und seine originelle Art des Erzählens aufmerksam gemacht. In beiden Texten hatte er schon historische und gegenwärtige Themen aufgegriffen und sein Talent angedeutet. Jetzt erschien der Erzählband „Der Tod der alten Jungfrau“, in dem Maňák seine erweiterte poetische Vielfalt ausbreitet. Handlungsorte und -zeiten können dabei nicht unterschiedlicher sein.

Die Groteske „Der Zauberer Zito“ widmet sich dem alten Prag in der Zeit der böhmischen Könige. Das Leben im Palast steht im scharfen Kontrast zum ärmlichen Vegetieren in den Gassen der Stadt. Der König herrscht wenig und träumt viel. Deutsche Einflüsse werden strikt abgewiesen. Aber der König vertraut dem Magier Zito, der das Volk zu beruhigen weiß. Der wiederum ist betört vom Vogelfänger Anselm, der in den Diensten der Königin steht. Und das ist ein Deutscher! Derart geraten der Priester, der die „göttliche Wahrheit“ des Königs vertritt, und der Zauberer aneinander. Als die Liebschaft zwischen Zito und Anselm entdeckt und publik wird, ist dieser „Karneval der Tiere“ eine Sensation. Aber Liebe und Spiel ergeben nur eine scheinbare Freiheit. Der Magier hatte dem Volk offeriert, die Deutschen seien zu verdammen, und privat hatte er dieses Theorem selbst nicht befolgt.

„Der Tod er alten Mascha“ geschieht in Warschau. Die einst junge und hübsche Frau hatte es nach vielen Wanderungen an die Weichsel verschlagen, wo sie ärmlich lebte. Als sie starb, kümmerte sich die Ich-Erzählerin um die spärliche Trauerzeremonie, die im Kontrast zum Pomp einer Prozession steht, die kurz vorher in der Stadt Aufsehen erregte. Nicht einmal dem Sarg der  alten (Jungfrau) Maria wird auf dem Friedhof Einlass gewährt…

„Der Kaufmann und der Schuster“ ist eine Moritat aus der Zeit der Seefahrer und des Handels. Der reiche europäische Kaufmann lässt sich in jedem Jahr von einem Schuster aus Mombasa ein Paar neue Schuhe mitbringen, gefertigt aus den unterschiedlichsten Lederarten diverser Tiere. Das währt viele Jahre. Zuletzt wünscht er sich Schuhe aus Löwenhaut. Doch zwischenzeitlich verarmte das afrikanische Land. Doch der Schuster, an die Zuwendungen des Kaufmanns gewöhnt, begibt sich, als die Schiffe ausbleiben, selbst auf die Reise zu seinem „Kunden“. Als er nach einer Odyssee mit den Löwenschuhen bei ihm anlangt, wird er brüsk abgewiesen: er gehöre nicht hierher!

Das Märchen „Die zwei blauen Minarette“ führt das aufmüpfige Mädchen Sohra vor, das in einer Oase die Handelnden betreut. Ein neuer Mullah predigt dort jedoch streng nach dem Text des Korans. Als das Mädchen aufbegehrt gegen die Verschleierung, wird es in eine Falle gelockt, angeklagt und geblendet. Aber „Gott ist das Licht“.

„Das Hasenfell“ wird in Brandenburg Gegenstand von Kontroversen in dem Dorf Schlamnow. Der Junge Jeszek wächst bei seiner Patin Franka in einem Priesterhof auf. Als ein Spielmann auftaucht, gerät die Kommunikation des Ortes in Verwirrung. Und nachdem dieser unheimliche Gast gar tot aufgefunden wird, ist das Chaos perfekt. Ist das Hasenfell, das Jeszek beim Kürschner zu bearbeiten hat, etwa die Haut des Spielmannes? 

Maňák gelingt es, den Leser sofort in die scheinbaren Abwegigkeiten der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten hineinzuziehen. Das wird durch das stringente Erzählen erreicht, das von Gleichnissen und einprägsamen Bildern lebt und dramatische Konfliktlagen über die Dialoge der jeweils agierenden Figuren inszeniert. Eine moderne Scheherazade im Gewand verschiedener epischer Erzählweisen.

Information

Vratislav Maňák: Der Tod der alten Jungfrau. Düsseldorf: Karl Rauch Verlag GmbH & Co. KG 2023. ISBN 978-3-7920-0277-3. 256 Seiten. Preis 25 Euro. Übersetzt von Lea Dorn.

Die schönste Kirche von Prag ist der Hauptbahnhof

Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš (1972 geb.) ist hierzulande bereits ziemlich bekannt. Viele seiner Bücher wurden übersetzt und hier ediert. Die letzten schrieb und veröffentlichte er gar schon in deutscher Sprache, bspw. „Winterbergs letzte Reise“ (2019) oder „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ (2021). Die Graphic Novel „Alois Nebel“, die er gemeinsam mit seinem Freund Jaromir 99 herausgab, wurde verfilmt und 2012 mit dem  Europäischen Filmpreis ausgezeichnet.

Soeben erschien das kleine Büchlein „Weihnachten in Prag“ von Rudiš, wieder illustriert von Jaromir Švejdik. Darin schildert er, was ihm kürzlich an einem Heiligabend in der Goldenen Stadt passierte. Eigentlich wollte er sich mit Freunden treffen, um mit ihnen das Fest zu verbringen. Die dafür ausgedachte und traditionelle „Zoorunde“ sollte von der Kneipe „Ausgeschossenes Auge“ in mehrere derartige Schänken führen, die jeweils tierische Namen tragen. Aber die Freunde lassen ihn im Stich. Deswegen erinnert er sich an seinen ersten Aufenthalt in Prag, als er im Alter von sechs Jahren mit seinem Vater ebenda ankam und dann verloren ging. Der umtriebige Rudiš bleibt jedoch jetzt nicht lange allein. Er trifft den „Leuchtturm“, den Postbeamten Kavka, der natürlich wie Kafka ausgesprochen wird und mit dem er weiterzieht. Der wiederum gibt vor, Kafkas, Hašeks und Hrabals Sterben gehört zu haben. Zu beiden gesellt sich noch der „König von Prag“, der nach dem Genuss einiger Biere damit prahlt, alle wichtigen Schlüssel von markanten Gebäuden der Stadt zu besitzen. Das fantastische Trio erzählt sich gegenseitig Schnurren, deren Inhalt sich in schwarzem Humor zu übertreffen versucht: ein in der Moldau Ertrunkener sei über Melník, Usti, Dresden und Hamburg bis in die Nordsee gelangt; Musiker würden nach ihrem Tod zu Fischen, Schriftsteller wie Hašek, Kafka und Hrabal zu Vögeln – oder umgekehrt? Und Bahnhöfe seien wie Kirchen, nur schöner.

Zu später Stunde nehmen die drei noch das italienische Mädchen Stella in Beschlag, deren Freund als Eisenbahner gewirkt hatte und die Stadt Prag, ihre Sehenswürdigkeiten und Bewohner über alles verehrte. Das Quartett zieht weiter, fachsimpelt über Sinniges und Unsinniges, und als man gegen Morgen auf dem Hauptbahnhof  anlangt, wird man mit nächtlicher Stille empfangen, die jedoch von zarten musikalischen Klängen unterbrochen wird. Deren Schöpfer befinden sich im oberen Bereich des Gebäudes, und leicht beschwingt stimmen die vier Nachtschwärmer in die Melodien ein. Das Christkind erscheint als uniformierter Eisenbahner, der in einem Waggon eine Unmenge Geschenke parat hat, die nun ausgegeben werden können. Aber der Bahnhof ist leer… 

In der Kneipe erhält der Ich-Erzähler nicht nur sein letztes Bier frühmorgens, sondern auch den ersehnten Anruf seiner Freunde, die ihn versetzt hatten. Im Aquarium des Gasthauses schwimmen Fische: tote Dichter oder Musikanten als Trugbilder? Aber der Anruf beweist: seine Freunde, die Schriftsteller und Musiker, sind nicht tot; man vereinbart ein sofortiges Treffen. Deswegen vermag Rudiš nun auch seinen Vater anzurufen und mitzuteilen, dass er bald nach Hause ins Böhmische Paradies käme und nicht verloren gegangen sei – wie seinerzeit als Sechsjähriger.

Ein Weihnachtsspaziergang besonderer Art: witzig, voller hintergründiger Dialoge, philosophischer Exkurse, scheinbarer Nichtigkeiten mit tieferem Sinn. Die dunklen, aber zart gehaltenen Illustrationen von Jaromir 99 lassen überall und stets Lichter durchblicken.

Reiner Neubert

Information

Jaroslav Rudiš: Weihnachten in Prag. München: Luchterhand Literaturverlag 2023. 94 Seiten. ISBN 978-3-630-87754-9. Preis 16 Euro.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert