Reportagen

Die Leiden des N.

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Die Erstvorstellung dieses jüngsten Werkes von Rüdiger Görner, dem in London wirkenden deutschen Literaturwissenschaftler, fand am 25. August 2014, dem Todestag Friedrich Nietzsches, in Anwesenheit des Autors im Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg statt. (Die Fotos stammen vom 25. August 2014)

Mit dieser Naumburger Trilogie hat Rüdiger Görner nicht nur ein höchst bemerkenswertes Buch geschrieben, sondern ein Kunstwerk geschaffen, was nicht an seinem Umfang, sondern am besonderen Reiz seiner Sprache festzumachen ist. So gesehen ist es im eigentlichen und damit besten Sinne des Wortes ein Gedicht. – Ein Hohelied auf drei große Söhne einer Stadt, die, ein jeder für sich, für diesen Schicksalsort epochale Bedeutung erlangt haben.

Der Begründer der modernen Ägyptologie, der Sprachforscher und Bibliothekar Karl Richard Lepsius (1810–1884), der klassische Philologe und zu Weltruhm gelangte Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) und der Schüler Gottfried Silbermanns, der berühmte deutsche Orgelbauer Zacharias Hildebrandt (1688–1757).

Hinter dieser Dreiteilung verbirgt sich, wie ein geheimer innerer Plan, natürlich eine Gestaltungsidee, in deren Zentrum der Titel des Buches »Die Leiden des N.«, zu leben beginnt:

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»In der Weinlaube wurde N. aus ihm, / ein Namenloser, ein solches N. wie jener Korse, / der auf falber Insel vegetierte. / Auch N. wollte einst, von Genua aus, / entdecken, was vor sich selbst er verborgen.« (S. 19, I)

Dieser Rhythmus, die Verdichtung der Gedanken und ihre Vielschichtigkeit machen die Dimension, die geistige Größenordnung des Buches erlebbar. Und so steigert Görner in den nächsten Zeilen diesen gedanklichen Auftakt des zweiten Teils: »N. war N., die Manuskripte aber ein Schlachtfeld, / die Sätze Brigaden, Kommata Treffer und jeder / Gedanken – / Strich ein Streifschuss; die Worte / Soldaten, kommandiert von N., / die Befehle verzettelt. So träumte ihm im Lazarett.« ( S. 19 I)

In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, dass die »Henning-Kaufmann-Stif­tung im Stifterverband für die deutsche Wissenschaft« Rüdiger Görner mit dem »Deut­schen Sprachpreis 2012« für seine brillant formulierten Texte und ihre historischen Tiefenschärfe würdigte.

Und so wie Görner auch an anderer Stelle »auf behutsame Weise Leben und Werk der handelnden Personen miteinander verwoben hat«, so formt er als Autor dieses Prosa-Gedicht nach jener poetischen Denkweise, die er in seinen »Studien zu einer epochalen Denk- und Darstellungsform« pluralektisch nennt (»Die Pluralistik der Romantik«, R. Görner, Böhlau, Wien 2010).

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Das aber ist nicht nur bildhaftes Denken in großen Zusammenhängen, es ist auch die Ent­faltung jener lebendigen Vorstellungskraft, aus der schließlich eine neue Wirk­lich­keit in Gestalt des Kunstwerkes sprachlich hervortritt. Ein Prozess der im Einzelnen ebenso mannigfaltig, wie einzigartig ist. Uns interessiert jedoch in diesem Zu­sammenhang, wie es dem Autor, dem »Künstler im weitesten Sinne« gelungen ist, mit »wenigen Federstrichen« Wesentliches zu zeichnen. Erinnert doch Görners »Der Traum des Lepsius« an die Schreibweise Christoph Martin Wielands, die es vermag, einen ganzen Kosmos, vor dem Panorama der Antike lebendig hervortreten zu lassen, um damit jene Verlebendigung zu erreichen, die den Leser erregt und fesselt:

»Sternenfall, geerdetes Licht. / Karl Richard, der Zögling der Pforte, / träumt unter offenem / Himmel, im Tal der Saale, am Holunderrain, / von Sarkophagen aus Basalt, / Karawanen, von Schriftzeichen, / die tanzen. / Er träumt was er liest/ und er liest was er träumt; / und er liebt (als wär’er Ovid), / liebt die Grammatik der Sprachen. / Dann aber, bevor ein 23ster Dezember / graute, sah er sich, früh schlaflos geworden, / im Wachtraum auf harten Kissen, / als Opfertier in Memphis, / von Priestern umstellt.« (S. 5)

Hier und so lässt also der Autor den Leser teilhaben, eine ihm bis dahin unbekannte »Welt« für sich zu entdecken. Andererseits verquickt er Bilder aus dem gewohnten realen Alltag mit poetischen Bildern einer geträumten Phantasiewelt, die wie aus dem Nichts plötzlich Realität werden:

»Später, wieder später, in Berlin, in Salons, / Akademien, / bei Hofe reicht Lepsius, jetzt stadtberühmt, / Rehan von einem Dekolleté zum andern;« … »Rehan steht am Fenster, hört Schüsse: / an seiner Lieblingsstraßenecke liegt ein Gehrock im Blut. / Soldaten zerstampfen schwar-rot-goldene Fetzen / oder spießen sie mit Bajonetten auf. / In den kahlen Straße der Stadt hört er Schreie, / Gesang, Kommandos, / die er nicht versteht; setzt unter eine Linde sich / und träumt von Karawanen, / Wanderdünen und Oasen.« (S. 15–16)

Phantasie und Wirklichkeit steigert der Autor im mythologisch-poetischen Sinnbild:

»Rehan …, / Rehan …, / Geh hinaus ins Licht der geflügelten Sonne.« (S. 17)

Den Sinngehalt solcher Symbole setzt der Autor (wie es Wieland auch getan hat) ganz einfach voraus. (Die »geflügelte Sonne«, oder »Flügelsonne« ist nach der altägyptischen Mythologie das kosmische Symbol eines Himmelsherren, das schützende Zeichen Ägypten)

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Der Dritte im Bunde der Naumburger Trilogie ist der Älteste, der berühmte Orgelbauer Zacharias Hildebrandt, dem Görner schon in der Überschrift des dritten Teils den »Rat der Türmerin« an die Seite stellt.

»Er kam bei Nebel; es nieselte Eis. / Kutschen waren nicht zu haben; kein Pferd mit / sicherem Tritt. / Höllenwetter, fluchte der Küster. / Hildebrandt, ist er’s? / Er war’s. Durchnässt, erschöpft. / Hildebrandt, endlich. Es wartet der Rat.« (S. 32)

Allen Zweifeln zum Trotz gelingt es dem Silbermannschüler das Kunststück zu wagen und zu vollenden, für die Stadtkirche St. Wenzel zu Naumburg, eine Orgel mit 53 Registern, drei Manualen und Pedal zu konzipieren. Im Vergleich aller bis dahin entstandenen Instrumente, eine Riesin, die die Wirkung der legendären Stifterfiguren im Dom zu Naumburg, Uta und Ekkehard, gar noch übertreffen sollte. Das war die kühne Absicht, das Ziel und damit die größte Herausforderung für den »Orgler«, wie man den Meister zu benennen pflegte.

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Foto: Das Naumburger Haus, in dessen Weinlaube (re. oben, im Dunkel) aus Nietzsche ein N. wurde

 

In der Sprache der Musik nennt man einen heiteren Kehraus der Suite, eine Badinerie, eine Schäkerei. Und einen solchen Schlussakkord stellt der Autor Rüdiger Görner nach allen bestandenen Prüfungen und unter Aufbietung aller Kräfte, als reizvolles Kabinettstück ans Ende der Trilogie. Eine literarische Miniatur in Gestalt der recht witzigen und eigenwilligen, rothaarigen Türmerin Mechthild, die offenbar nicht nur in den Klang der Orgel verliebt ist, sondern überdies noch den Mut aufbringt, dem Turm zu entsagen, ihre bescheidene Habe schleifend, nonnenhaft verhüllt, um dem Orgler irgendwann und wo auch immer, nahe zu sein.

Dass der Chemnitzer Maler und Grafiker Osmar Osten dem lesens- und erlebenswerten Werk mit meisterlichen Collage eine weitere Gestaltungsebene hinzufügte, darf keinesfalls verschwiegen werden.

Bleibt nur zu wünschen, dass diese wundersame »Naumburger Trilogie« auf ihren Weg in die weite Welt auf viele interessierte Leser trifft.

Siegfried Arlt 

Information

Rüdiger Görner: »Die Leiden des N.«. Eine Naumburger Trilogie, Mironde Verlag 2014, 45 S., Titel und 11 Abb./ Collagen von Osmar Osten, VP 19,00 €

ISBN 978-3-937654-55-3

www.mironde.com

9783937654553

 

One thought on “Die Leiden des N.

  1. Die endlosen Leiden des N. gingen dahin. 1878: Der Wanderer. – Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer (nur nicht zu dem Hause in Tribschen am Luzerner See),- wenn auch nicht als Reisender nach dem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freunde an dem Wechsel des Vergänglichen habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten soll, verschlossen findet; vielleicht daß noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Tor reicht, daß die Raubtiere bald ferner bald näher heulen, daß ein starker Wind sich erhebt, daß Räuber ihm seine Tiere Weg führen “ KSA 2, 362

    Schon am 5. Februar 1875 – just genau 140 Jahre vor den Bemerkungen des Herrn Redaktors – notiert N.: „Adolf Baumgartner hat mir wieder ein dickes Rothes Heft, das vierte, übersandt; er hat es als Husar in Bonn (auf dem Hintern einer Kölner Kurtisane) ausgearbeitet. Das ist mein lieber Sohn , an dem ich Wohlgefallen habe. Der kommt auch nach Bayreuth“ KSB 5 Nr. 42216

    Noch ein Drittes aus dem Jahre 1889:

    Beim Heimtramsport durch den Gotthard sang er zu einer eignen Melodie verständlich sein letztes Lied, das er um die Weihnachtszeit gedichtet hatte:

    An der Brücke stand
    jüngst in brauner Nacht.
    Fernher kam Gesang:
    goldener Tropfen quoll’s
    über die zitternde Fläche hinweg.
    Gondeln, Lichter, Musik –
    trunken schwamm’s in die Dämmerung hinaus …

    Meine Seele, ein Seitenspiel,
    sang sich, unsichtbar berührt,
    heimlich ein Gondellied dazu,
    zitternd vor bunter Seligkeit.
    – Hörte jemand ihr zu? …“

    (Bernoulli 1908 Bd. 2,S.230-231)

    Nun sei gegrüßet, lieber Redaktor, recht herzlich aus dem Jagdhaus zur fröhlichen Niederkunft, vom fiebrigen Scardanelli, der am Opus Medusa schreibet!

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