Reportagen

Lessings Bibliothek

Der 27. Februar, ein Freitag, war ein kühler Spätwintertag, oder sollte man bereits von Vorfrühling reden? Leider konnten wir die romantische Stimmung der Abenddämmerung nicht empfinden. LKW an LKW, mitunter auf zwei Spuren. Dann der erste Stau. Es folgt eine ganze Serie von Unfällen und defekten Fahrzeugen auf dem Randstreifen. Im Schritt-und-Stopp geht es in Richtung Dresden. Ein völlig überfüllter Parkplatz. Gelassene LKW-Fahrer. Verwirrte polnische Touristen. Bis zur Abfahrt Pulsnitz herrschte dichtester Verkehr. Die Zeiger der Uhr rücken unaufhaltbar weiter. Zwischenzeitlich wollten wir unser Reiseziel schon aufgeben …

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Um 19.10 Uhr treffen wir dann doch vor dem Lessing-Museum in Kamenz ein. Die Veranstaltung hatte pünktlich um 19 Uhr begonnen.

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Der eher kleine Veranstaltungssaal ist nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. Der Dresdner Staatssekretär für Wissenschaft und Kunst Uwe Gaul referierte gerade zum Forschungsprojekt »Rekonstruktion von Lessings letzter Privatbibliothek«.

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Der Kamenzer Oberbürgermeister Roland Dantz dankte dem sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, der Bundeskulturstiftung und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für die Bereitstellung von 40.000 Euro zum Ankauf einer Bücher-Sammlung, die identisch mit Lessings Nachlassbibliothek ist. Die Stadt steuerte 10.000 Euro bei. Lessing musste aus finanziellen Gründen die Mehrzahl seiner Bücher wieder verkaufen. Als Bibliothekar in Wolfenbüttel hatte er jedoch Zugang zu einer ansehnlichen Büchersammlung. In seinem Nachlass befanden sich 264 Bücher.

Im Anschluss stellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Lessingmuseums und des Stadtarchivs dem Publikum einzelne Bücher aus dem Fundus der Neuerwerbungen vor.

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Auf dem Foto ist Frau Dr. Kaufmann, die Direktorin des Lessingmuseums, zu sehen. Sie hob die Breite des Lessingschen Interesses hervor. Die Autoren der neu erworbenen Bücher hießen u.a. Aristoteles, Klopstock, Reimarus, Hemsterhuis, Arnauld, Winkelmann, Rousseau. Die Krönung war für uns eine Erstausgabe von Herders »Kritischen Wäldern« in zwei Bänden (Riga 1764). Frau Dr. Kaufmann verwies darauf, dass die Erstbesitzer der Herder-Bücher die Serviten-Abtei in Wien-Rossau gewesen sei. Sie fügte hinzu, dass das Lessingmuseum in einer Sonderausstellung vom 27.5. bis 26.7.2015 diese Neuerwerbungen der breiten Öffentlichkeit vorstellen wird.

In Kamenz besitzt man jetzt, wenn wir es richtig verstanden haben, 90 der 264 Bücher. Es fehlen noch 174.

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Oberbürgermeister Dantz dankte den Vertretern der Behörden, die die Stadt beim Erwerb der Bücher mit Fördermitteln unterstützten. Auf dem Foto: Frau Vogel /Bundeskulturstiftung, Dr. Frey / Kulturstiftung Sachsen (re.) und Wissenschafts- und Kunst-Staatssekretär Gaul (li.).

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Auf der Autobahn in Richtung Westen herrscht am späten Abend Entspannung. Wir haben Zeit zum Nachdenken. Warum liest heute jemand freiwillig Lessing?  »Nathan der Weise« ist sicher Schulstoff. Für manch einen Schüler ist das eher mit abschreckender Wirkung verbunden. Zum Trost sei erwähnt, dass beim Erscheinen des Theaterstücks dessen Aufführung in Sachsen verboten war.

War Lessing einzig Dramatiker? Nein. Er war, ähnlich wie der 23 Jahre jüngere Herder, in vielen wissenschaftlichen Disziplinen aktiv. Lessing versuchte notgedrungen die Idee von der »universitas litterarum« als einzelner Publizist zu retten. In der zunehmend arbeitsteilig organisierten Universität wurde diese Idee nicht weitergeführt. Lessings weite Auffassung von Literatur war die Voraussetzung für ein solches Projekt und seine Weltweisheit das Formbewusstsein für diesen Versuch der Erfassung des Weltwissens. Lessing und Herder betrieben Wissenschaftsgeschichte als Literaturgeschichte und diese als Sprachgeschichte. Die Verfügbarkeit von Büchern, Druckereien, Verlagen und Bibliotheken waren notwendige Bedingungen für Lessings transdisziplinäres Werk. Heute favorisierte digitale Wissensprojekte verbleiben dagegen in einem »interdisziplinären Nebeneinander«. Lessing und Herder vermochten dagegen innere Zusammenhänge des Wissens zu erfassen: die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eben im Leben und im Denken nicht die (mathematisch-logische) Gerade.

Diese Konzeption im Kopf des Bibliothekars ist vielleicht heute einer der wichtigsten Gründe, um zu Lessing und Herder zurückzugehen. Auch die Erinnerung an Lessing ist in erster Linie über eine Bibliothek sinnvoll. Der Wissenschaftsorganisator Lessing ist hier »greifbar«, anschaulich und nachvollziehbar.

Die Rekonstruktion der Nachlassbibliothek Lessings ist ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg der Neuerschließung. Die Originale befinden sich zwar in Wolfenbüttel, jedoch nicht als gesonderter Bestand. Die vollständige Rekonstruktion der Nachlassbibliothek wäre ein eigenständiger Beitrag der Kamenzer. Aber dieser Weg ist sicher nur mit Hilfe von Antiquaren und Bücherfreunden zu beschreiten.

Den vielleicht wichtigsten Hinweis gab der Stadtarchivar Thomas Binder in seiner Buchvorstellung. In einer Nebenbemerkung verwies er darauf, dass im Stadtarchiv auch die Bestände der ehemaligen Ratsschulbibliothek aufbewahrt werden. Eben diese Bibliothek wurde vom jungen Lessing in seiner Schulzeit genutzt.

Hier ist die Frage, ob es ein öffentlich zugängliches wissenschaftliches Verzeichnis dieses Bestandes gibt. Wenn nicht, dann wäre Forschungsleistung notwendig. Ohnehin ist das Bewahren der Erinnerung an Lessing nur mit eigenständiger Forschung möglich, wenn man nicht in der Musealität erstarren will. Sicher braucht die kleine Stadt Kamenz in diesem Vorhaben Hilfe von Land und Bund. Aber mit der Auflösung der Internationalen Lessing-Gesellschaft entstand ein schmerzhafter Verlust, der bis heute nicht ersetzt werden konnte.

Wir befinden uns, ähnlich wie Lessing, in einer Welt des Umbruchs. Ein Zurückgehen auf die Lessingschen Texte kann helfen, unserer humanistischen Verantwortung für Gegenwart und Zukunft gerecht zu werden.

Johannes Eichenthal

 

Information

Raabe, Paul/ Strunz, Barbara: Lessings Büchernachlass. Wallstein-Verlag Göttingen 2007.

www.lessingmuseum.de

http://stadtarchiv.lessingmuseum.de

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