Reportagen

Bewahren und Erneuern

In Göttingen erinnerte man mit einer Tagung am Archäologischen Institut am 13. und 14. Juli 2012 an den 200. Todestag von Christian Gottlob Heyne. Heyne wurde am 25. September 1729 als Sohn einer Leineweberfamilie in Chemnitz geboren. Das Handwerk seines Vaters erlebte damals eine Krise. Obwohl der Vater Heynes nahezu Tag und Nacht arbeitete, reichte der Erlös für diese anstrengende Handarbeit am Ende der Woche mitunter kaum für ein Mindestmaß der Ernährung. Die Eltern schickte den Sohn häufig noch einmal zu den Leinewandhändlern, spekulierten wohl auf deren Mitleid. Doch Christian Gottlob Heyne sah klarer als seine Eltern, dass die Bedingungen der Zeit gegen das Handwerk wirkten. Der kleine Christian Gottlob versuchte sich aus diesen Verhältnissen zu befreien. Wie? Durch den Erwerb der humanistischen Bildung. Noch heute ist man beeindruckt, wie es Heyne immer wieder gelang, seine Vorstellungen durchzusetzen. Der Vater hoffte, dass sein Sohn nach der Grundschule sein Leineweber-Gehilfe würde … Doch der Sohn setzte einen weiteren Schulbesuch durch. Den »Schulgroschen« übernahm ein Onkel, ein selbständiger Bäcker. Die Gegenleistung war ein sonntägliches Vorlesen aus der Bibel. Den Besuch der Lateinschule bezahlte der Geistliche Mag. Sebastian Seidel. Dieser nicht uneitle Mensch, ein verhinderter Dichter, verlangte von Christian Gottlob die sonderbarsten Übersetzungen. Die Mitschüler ließen Heyne spüren, dass er keiner von ihnen war. Von den Lehrern erhoffte sich Heyne inständig klassische Texte. Obwohl der Rektor der Lateinschule Johann Georg Hager selbst ein Herausgeber Homers wie eines Mythologischen Wörterbuches war, traute man den Schülern dem Anschein nach keine solchen Texte zu. Erst als ein Schüler von Johann August Ernesti aus Leipzig nach Chemnitz kam, Mag. Johann Tobias Krebs, Privatdozent und späterer Rektor der Fürstenschule zu Grimma, erhielt Heyne eine Ahnung von dem, was er sich wünschte. Doch gleichzeitig ließ der Vater seinen Sohn Christian Gottlob immer wieder spüren, dass er dessen Lebensweg missbilligte. Die Erfahrung eines von mehreren Seiten her Ausgegrenzten begleitete Heynes Jugend. Es gelang ihm zwar mit größter Mühe, den Geistlichen zur Bekundung zu bewegen, die Finanzierung des Studiums zu übernehmen, doch die Unterstützung kam dann nur zögerlich. Der Gönner mochte sich wohl auch nicht an den Fortschritten seines Zöglings erfreuen, sah wohl eher seine eingebildete Überlegenheit schwinden. Für Heyne muss das Studium, wie schon die Schulzeit, eine Tortur gewesen sein. Trotz zeitweiliger Selbstmordgedanken vermochte Christian Gottlob an seinem Ziel festzuhalten. Die Anstellung in der Bibliothek des Grafen Brühl muss ihm wie der Eintritt in das Paradies vorgekommen sei. Doch hier erfolgte alsbald die »Vertreibung«. Heyne erlebte die barbarische Zerstörung der Bibliothek, die der preußische König Friedrich II., auch einst ein Ausgegrenzter, in seinem Hass auf den sächsischen Premierminister Graf Brühl, befohlen hatte. Wie Eva und Adam, so gewann Christian Gottlob Heyne mit seiner Vertreibung aus dem Paradies etwas: Vernunft. Und diese konnte er bei seiner Berufung als Professor nach Göttingen, für die ihn der Hemsterhuis-Schüler Ruhnken von der Universität Leyden und Johann August Ernesti von der Universität Leipzig empfohlen hatten, gut gebrauchen. Göttingen wurde für Heyne menschliche und wissenschaftliche Heimat. Hier lebte er im Haus am Papendiek (Pfaffendeich) 16 (heute Heyne-Haus). Hier benannte man auch einen Promenadenweg, hinter dem Haus am Kanalufer, in »Heyne-Ufer«. Die Erinnerung an Heyne lebt also in Göttingen. Wir reisten voller Erwartungen in diese Universitätsstadt.

Wir fahren durch eine Stadt, in der junge Leute auf Fahrrädern dominieren, Fahrradwege nahezu an allen Straßen, vor dem Bahnhof stehen Hunderte, vielleicht einige Tausend Fahrräder. Ein Indiz für soziale Intelligenz in unserer Zeit. Das Archäologische Institut am Nikolausberger Weg 15 wurde 1912 eingeweiht. Die Jugendstilelemente prägen bis hinein in die Innengestaltung den Raum.

Im Hörsaal begrüßt zunächst der Hausherr, der Direktor des Archäologischen Institutes, Prof. Dr. Johannes Bergemann, die Tagungsgäste. In Göttingen habe Heyne seine ersten Vorlesungen zur Archäologie gehalten. Bis heute beeindrucke seine Vielseitigkeit. Heyne habe seine Grundsätze Forschen, Lehren und Sammeln von seiner Berufung 1766 an praktiziert. 1767 begann er mit seiner Gipsabdrucksammlung, unter größten Schwierigkeiten, ohne Etat.

Dr. Tanja Scheer referierte darauf zum Thema »Heyne und der griechische Mythos«. Sie stellte zunächst fest, dass zur Zeit des Amtsantrittes Heynes der Mythos gering geschätzt wurde. Deshalb sei in Heynes Tätigkeit eine Art von »Rehabilitierung« des Mythos zu erkennen. In einer Akademie-Vorlesung von 1763 zum »Mythos der Herkunft der Griechen aus dem Norden«. Im Rahmen seiner Forschung prägte Heyne das lateinische Kunstwort »Mythus« mit. Die Referentin führte mögliche Einflüsse von Bernhard de Fontenelle (1724) zur Fabeltheorie und Forschungsberichte Lafitaus vom Leben der Irokesen (1724) an. Sie kennzeichnete den »Mythos« als bildhafte Sprache. Der Mangel an Abstraktion führe bei den Naturvölkern zu einer poetischen Sprache. Heyne habe 1798 unter dem Titel »Glaubwürdigkeit des mythischen Zeitalters« eine Zusammenfassung seiner Forschungen geliefert, jedoch kein Handbuch o.ä. veröffentlicht. Bei Heyne ließ sich zudem leider keine Definition oder einheitliche Terminologie in Sachen »Mythos« finden. Er habe aber wichtige geistige Strömungen seiner Zeit zusammengefasst. Wichtige Antworten nach dem Wesen des Mythos sei er schuldig geblieben. Aber die Fragen, die er aufwarf, die würden die Wissenschaftler heute noch umtreiben.

In der Diskussion wurde die Referentin gefragt, ob nicht Heyne von der allegorischen Mythendeutung z.B. Platons beeinflusst worden sei.

Frau Scheer antwortete, dass Heyne zwischen der allegorischen Deutung als einem unwillkürlichen Ausdruck des Denkens und der symbolischen Deutung, als einem Ausdruck des verfeinerten Denkens unterschieden habe.

Weiter wurde gefragt, ob Heyne nach einer Uraussage des Mythos gesucht habe, ein Verfahren, dass heute in der Wissenschaft weitgehend überwunden sei.

Frau Scheer antwortete, dass Heyne nach einer Uraussage suchte, und dass seine Methode darauf zielte, die »äußeren Kleider« des Mythos abzulegen.Eine Frage richtete sich darauf, ob Heyne durch Giambattista Vico (1724, 1744) angeregt worden sein könnte.

Frau Scheer antwortete, dass dies in der Literatur wohl angenommen werde, sie aber keine Belege für diese Annahme kenne.

Ein Zuhörer verwies auf einen Gegner Heynes in Göttingen, den Historiker Schlözer.

Frau Scheer antwortete, dass Schlözer die Fabel, die Sage und den Mythos nicht ernst genommen habe.

Ein anderer Zuhörer verwies darauf, dass Heyne unmittelbar vor der Berufung nach Göttingen an der Beschreibung der Lippertschen Daktyliothek mitgewirkt habe, und dabei mehrere tausend antike Bilder im Detail kennen gelernt habe. Deshalb müsse er ein großes Wissen über antikes Bilder-Denken besessen haben. Daher sollte man ihn forschungsgeschichtlich nicht zu streng bewerten, auch wenn er kein Handbuch des Mythos veröffentlich habe, was er ohne Zweifel gekonnt hätte.

Ein Zuhörer wollte wissen, ob es ein konkretes Beispiel dafür gäbe, was nach Heynes Entkleidung eines Mythos, z.B. des Ödipus-Mythos, übrig bliebe.

Frau Scheer antwortete, dass sie eine Ödipus-Interpretation Heynes nicht kenne. Aber bei seiner Bearbeitung des Mythos von der Herkunft der Griechen aus dem Norden sei er zum Ergebnis gekommen, dass es ursprünglich Skythen gewesen sein müssten, die nach Griechenland einwanderten. (Der entsprechende Vortrag Heynes sei übrigens erst nach 20 Jahren gedruckt worden.)

Ein Zuhörer machte darauf aufmerksam, dass eine Vico-Rezeption im deutschsprachigen Raum nur eine Legende des 19. Jahrhunderts sei, die auf das 18. Jahrhundert zurückprojiziert wurde. F. A. Wolf habe um 1800 in Briefen von Cesarotti den Namen »Vico« erstmals wahrgenommen.

Die Referentin antwortet, dass sie sich in diesem Punkt hinter die in der Literatur gemachten Angaben zurückziehen müsse.

(Leider wurde in der Diskussion nicht ein Ausgangspunkt des Referates hinterfragt. Die Mythologie geriet im 18. Jahrhundert durch die »moderne« Aufklärung unter Druck, die Philosophie auf Vernunft, und Vernunft auf Mathematik reduzierte. Die Sinne erfahren damit eine Abwertung. Heinrich Heine spottete: Kant habe weder ein Leben noch einen Leib, sondern nur einen Kopf gehabt. In den Logik-Vorlesungen von Immanuel Kant kann man diese Illusion einer Überlegenheit über frühe Völker – Kant nennt Indianer und Chinesen, die nur bildhaft, und damit eigentlich nicht zu denken vermöchten – nachlesen.

Doch Leibniz hatte in seiner Auseinandersetzung mit John Locke schon hervorgehoben, dass wir Verstand/Vernunft nicht als eine gesonderte Stufe der Erkenntnis begreifen können, sondern als den inneren Zusammenhang der Sinneseindrücke, eines inneren Bildes. Insofern sei unsere Erkenntnis weder rein theoretisch, noch rein sinnlich, sondern symbolischer Natur.

Johann Georg Hamann (1730–1788) hatte diese Einsichten auf die Lektüre des Alten und Neuen Testaments angewendet. Einer Entkleidung eines Mythos setzte er stets deren Gegenteil, die Verklärung gegenüber. Die Einsicht »Vernunft ist Sprache« war ein Resultat seiner Forschung.

Hamanns wichtigster Schüler war Johann Gottfried Herder. Dieser prägte bereits in seiner ersten umfangreichen Interpretation der Bibel die Methode einer »morgenländischen Archäologie«, die hermeneutische Bearbeitung von Textschichten. Manche unserer Zeitgenossen glauben heute immer noch, dass Michel Foucault der Erfinder dieses Verfahrens gewesen sei. Herder stützte sich bei seinen Untersuchungen unter anderem auf Arbeiten der Göttinger Gelehrten Michaelis, Heyne und Eichhorn. Grundsätzlich betonte Herder die Notwendigkeit, die Zeit, den Ort, den Autor und den Kontext eines Buches zu verstehen. Erst dann komme man über die Reduktion eines Textes auf Buchstaben, ein Verfahren, das die Vernunft-Philosophen wie die orthodoxen Theologen gleichermaßen betrieben, hinaus. Das Alte Testament nannte Herder »Älteste Urkunde des Menschengeschlechts«. Die Genesis-Bücher von Moses interpretierte er als Lied, als Fabel als poetischen Text. In der Poesie kamen nach Herder Vernunft und Religiosität zusammen. Zunehmend dehnte Herder seine Forschungen auf Volkslieder aus. Herders kommentierte Volkslieder-Sammlung »Volkslieder« (1774, 1778/79 2 Bde., postum »Stimmen der Völker in Liedern«) wurde von »aufgeklärten« Zeitgenossen mit Hohn und Spott überzogen. Christian Gottlob Heyne dagegen kannte die Herderschen Werke und schätzte sie hoch.

Bernhard Suphan, für seine sparsamen editorischen Anmerkungen bekannt, zitiert in der Einleitung zum Band VII der Sämtlichen Werke Herders aus Briefen Heynes an Herder. Heyne betont, dass er Herder gern als Theologieprofessor in Göttingen sähe. Auf diesem Gebiet gäbe es in Göttingen nur die Ultraorthodoxen, also Traditionalisten. Leider wurde dieser Wunsch Heynes nicht erfüllt. Es wäre nicht auszudenken, was Herder mit der Göttinger Bibliothek hätte leisten können. Aber ich bin abgeschweift. Wie komme ich nur immer auf diesen Herder?)

Der zweite Referent war Prof. Dr. Heinz-Günther Nesselrath, der Direktor des Philologischen Seminars und einer der beiden Organisatoren der Heyne-Tagung. Sein Vortrag trug den Titel »Heyne und die Homerische Frage«. Dahinter verbirgt sich eine jahrhundertelange Diskussion um die Urheberschaft an den griechischen Epen »Ilias« und »Odyssee«. Lange herrschte die Auffassung vor, dass es einen Verfasser »Homer« gegeben habe. Es kamen Indizien dafür hinzu, wonach die Texte der »Ilias« aus verschiedenen Zeiten stammten, somit nicht ein Autor allein denkbar sei. Die Vermutungen gehen weit auseinander, bis dahin, dass es Homer nie gegeben habe.Professor Nesselrath hob die Publikation von Friedrich August Wolf, eines eigenwilligen und streitsüchtigen Hallenser Gelehrten, von 1795 zur Homerischen Frage hervor. In einer als Einleitung in eine Homer-Ausgabe gedachten Abhandlung »Prolegomena ad Homerum«, stellte Wolf die These auf, dass Homer nicht der Verfasser eines großen Teiles des »Ilias«-Textes sei und dass die Abfassung des Textes erst mit der Erfindung der Schrift möglich gewesen sei, und beanspruchte den Status eines Urhebers dieser Theorie.

Heinz-Günther Nesselrath wickelte nun vor dem Publikum die Szenerie eines Streits von 1795 bis 1797 auf. Christian Gottlob Heyne hatte Wolf in einem Brief mitgeteilt, dass er die angeblich so »neue« Ansicht schon immer vertreten habe. Wolf antwortete beleidigend, worauf Heyne schwieg.

Prof. Nesselrath untersuchte akribisch die Schriften beider Gelehrten. Er verwies auch auf eine Vorlesungsmitschrift, die Wilhelm von Humboldt 1789 bei Heyne angefertigt hatte, und die Heynes Darstellung gegenüber Wolf bestätigte. Zwischendurch wurden für den Laien beeindruckende Details der komplizierten Überlieferung jenes Textes berührt, den wir dem Anschein nach so selbstverständlich heute als »die« Ilias (über-)lesen.

Am Ende fasste Prof. Nesselrath zusammen, dass Heyne der Wirklichkeit der Textüberlieferung näher gekommen sei als sein Kontrahent Wolf. In der Diskussion wollte ein Zuhörer wissen, ob die schlechte Beurteilung Heynes durch Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf gerechtfertigt gewesen sei.

Prof. Nesselrath antwortete, dass Heynes Stärken nicht in Sachen Scharfsinn lagen. Zudem habe er in Göttingen vielseitig tätig sein müssen. Heyne habe aber in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung Homer mehr gerecht werden können als andere.

Ein weiterer Zuhörer wollte wissen, ob es eine Verbindung zwischen Heynes Mythos-Forschung und seiner Forschung zur Homerischen Frage gegeben habe.

Der Referent antwortet, dass bei der Homer-Ausgabe mehr die Umarbeitungsleistungen Homers im Mittelpunkt des Interesses von Heyne standen. Seit 1777 habe er sich gefragt, ob mündliche oder schriftliche Überlieferung dominierte.

Ein anderer Zuhörer äußerte die Meinung, dass mit dem Erscheinen eines serbischen Liedes von der Schlacht am Amselfeld in Wien (1814), von dem Jakob Grimm begeistert war, Heynes Überlieferungstheorie in Frage gestellt worden sei.

Der Referent antwortete mit dem Verweis auf Überlieferungen aus der schottischen Urgeschichte, die James Macpherson im 18. Jahrhundert unter dem Namen »Oßians« veröffentlichte und die lange von vielen Gelehrten für »echt« angesehen wurden.

Eine Zuhörerin meinte, dass Heynes Homer-Interpretation ohne die Kenntnis Vicos nicht denkbar sei.

Prof. Nesselrath entgegnete, dass die angenommene Person eines Dichters Homer bei Vico völlig in ein »dichtendes Volk« aufgelöst werde.

Ein Zuhörer wollte wissen, ob Heyne in Chemnitz bereits den Homer gelesen habe. Darauf konnte leider niemand antworten.

Ein Zuhörer wollte wissen, ob es »konkrete« (er meinte »exakte«) Beweise für die Richtigkeit der Heyneschen Homer-Analyse gäbe, ähnlich wie beim »Nibelungenlied«.

Der Referent antwortete, dass der wissenschaftliche Diskurs über die Interpretation der überlieferten Ilias-Texte bis heute anhalte. Beweise im »exakten Sinne« könne es bei einer derartigen Textformation nicht geben. (Die Besonderheit solcher Überlieferung besteht darin, dass das, was am meisten weitererzählt wird, auch am stärksten verändert wird. Zudem ist anzunehmen, dass die ersten Erzählergenerationen noch keine Worte für das hatten, was sie erlebt oder gehört hatten. Es muss existenziell jedoch so bedeutsam gewesen sein, dass es erzählt werden musste. Poesie ist in diesem ursprünglichen Sinne das Sagen des Unsagbaren. In dieser Richtung argumentiert Herder in seiner Genesis-Interpretation.)

Ein weiterer Zuhörer ergänzte, dass die Überlieferung der »Ilias« nicht mit der des Nibelungenliedes vergleichbar sei. Beim Nibelungenlied seien viele tief gestaffelte Überlieferungmaterialien, darunter die altnordische Edda, gefunden worden. So etwas gäbe es für Homer nicht.

Ein Zuhörer, dem Anschein nach ein Herder-Kenner, verwies auf die enge Freundschaft zwischen Heyne und Herder. Als F. A. Wolf 1795 Herder wegen eines Aufsatzes in Schillers Zeitschrift »Die Horen« mit dem Titel »Homer, ein Günstling der Zeit« des Plagiats beschuldigte, wurde Herder von Heyne verteidigt. Als Wolf und Voß 1803 die Homer-Ausgabe von Heyne verrissen, wurde Heyne von Herder in seiner Zeitschrift »Adrastea« verteidigt. In verschiedenen Homer-Aufsätzen habe Herder grundsätzlich zur wissenschaftlichen Diskussion über die Homerische Frage Stellung genommen. Für Herder hätten sich in der Homer-Überlieferung Schriftlichkeit und Mündlichkeit wechselseitig ergänzt.

Foto: Büste Christian Gottlob Heynes im Hörsaal

Der nächste Referent, Prof. Dr. Siegmar Döpp, hatte seinen Vortrag unter den Titel »Es lohnt sich, bei Heyne anzufragen« gestellt. Zwischen 1767 und 1775 habe Heyne eine vierbändige kommentierte Gesamtausgabe Vergils mit mehr als 3000 Seiten herausgebracht. Kaum sei die erste Ausgabe erschienen, so habe Heyne in die Handexemplare bereits Änderungen eingetragen. Letztlich seien zwei Überarbeitungen dieses großen Werkes erschienen. Um sich ein Bild zu machen, müsse man also mehr als 9000 Seiten lesen.

Selbst der gestrenge Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf habe Heynes Werk gelobt. Vergil sei mit wie ohne Kommentar schwer zu lesen. Heyne versuchte, mit seinen Kommentaren die historische Bedingtheit des Textes verstehbar zu machen, und lenkte die Aufmerksamkeit des Lesers auch auf poetische Schönheit. Eine Schwäche Heynes habe darin bestanden, dem Kommentar deduktiv gewonnene Begriffe zugrunde zu legen. Seine Stärke hätte darin bestanden, dass er, weit entfernt von der Stoffhuberei anderer Kommentare den Leser zu wesentlichen Aussagen des Textes von Vergil zu leiten vermochte, bis hin zum Eingeständnis, dass er in einzelnen Punkten keine Antwort wisse. In der Diskussion meinte ein Zuhörer, dass Heyne in methodischer Hinsicht seiner Zeit voraus gewesen sein müsse. Hätte er ein Handbuch geschrieben, wäre er heute wohl der »Ur-Hermeneutiker«. So sei die Problematik des »Einfühlens« wohl erst durch Dilthey …

Der Referent antwortete, dass er der Meinung sei, dass Heyne in der Methodik seiner Zeit voraus war. Aber den Ausdruck »Einfühlung« habe es bei Heyne nicht gegeben. Ihm sei es um das »Aufschließen« des Sprachgebrauches gegangen. Ein Zuhörer warf ein, dass Heyne in seinen deutschen Schriften wohl das Wort »Einfühlen« gebrauchte.

Ein Zuhörer meinte, dass auf ihn die ästhetischen Urteile Heynes stilsicher wirkten, man könne fast von »Materialästhetik« sprechen. Der Referent antwortete, dass Heyne seinen Vergil-Kommentar eher unter pädagogischem Aspekt geschrieben habe. In einer Zeit, da Vergil als »Nachahmer Homers« weniger geschätzt wurde, habe Heyne hinweisen wollen: »Schaut doch, wie schön das ist!«

Ein Zuhörer meinte, dass das Wort »Einfühlung« noch nicht in Heynes Zeit passte. Man solle auch nicht vergessen, dass Heyne mit seiner illustrierten Vergil-Ausgabe eine große Wirkung erzielte.Man müsse zudem fragen, was es heiße, dass Heyne seiner Zeit voraus war. Er habe doch eine Breite der Bildung verkörpert, die heute nicht mehr auffindbar sei.

 

Die Reihe der Vorträge beschloss Prof. Dr. Gustav Adolf Lehmann. Er hatte seinen Vortrag unter den Titel »Heyne und die Alte Geschichte« gestellt. Der Referent erklärte, dass es die heutige Vorstellung von Altertumswissenschaften zu Heynes Zeiten noch nicht gab. Geschichte sei etwa mit den 3000 Jahren umrissen worden, über die man sich, nach Goethe Rechenschaft habe ablegen müssen (oder für sein ganzes Leben ein Narr bleibe). Die späteren universalgeschichtlichen Ansätze von Hegel und Marx, die noch dem alten Denken verhaftet blieben, solle man nicht überschätzen. (Hier hätten wir uns selbst über einen kleinen Hinweis auf Herders »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« (1774) und »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784/91) gewünscht, die Heyne mit Sicherheit kannte und deren Methodologie selbst noch auf das ganze 19. Jahrhundert wirkte.)

Heyne habe sich zu historischen Themen in Göttingen nur in Gelegenheitsarbeiten für die »Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen« und in Verbindung zu politischen Zeitereignissen geäußert, dieses aber sehr offen. Zugleich habe er eine Weltgeschichte der Engländers Guthrie und Cray in acht Bänden herausgegeben, kommentiert und durch eigene Zusätze und Anmerkungen ergänzt.

In der Diskussion wollte ein Zuhörer wissen, welche Rolle die Geschichte in Heynes Lehrtätigkeit spielte.

Der Referent antwortete, dass Heyne in der Lehre einzelne Autoren in ihrer Zeit darstellte.

Eine Zuhörerin wollte wissen, wie Heynes Urteil über die Sklaverei lautete.

Prof. Lehmann antwortet, dass Heyne die Sklaverei der Antike und die des 18. Jahrhunderts immer als Skandal dargestellt und die englische Regierung für die Abschaffung des Sklavenhandels gewirkt habe.

Ein Zuhörer ergänzte, dass Herder an Heyne schrieb, wie er ihn beneide, sich anhand von Themen der Alten Geschichte so offen über politische Fragen seiner Zeit äußern zu können. Der Referent stimmte dem zu, und sprach über Heynes Stellung zu Ereignissen seiner Zeit. Trotz einiger Tiefschläge, z.B. der Hinrichtung des Königs durch die Jakobiner, habe Heyne seine liberale Haltung grundsätzlich beibehalten. Er habe nicht die Seiten gewechselt. Diese Worte klangen wie ein Schlusswort. Und sie waren es auch. Damit ging dieser erste Tagungstag zu Ende. 19.15 Uhr sollte ein Abendvortrag folgen.

Foto: Nach dem letzten Vortrag leert sich der traditionsreiche Hörsaal

Für den 14. Juli standen vier weitere Vorträge auf dem Programm: Daniel Graepler zu »Heyne und die klassische Archäologie«, Balbina Bäbler zu »Heyne und Winckelmann«, Peter Kuhlmann zu »Heyne und die Alten Sprachen in der Schule«, Helmut Rohlfing zu »Heyne und die Göttinger Universitätsbibliothek«. (Wir bedauern, dass wir schon wieder die Heimreise antreten müssen. Der Vortrag über die Göttinger Universitätsbibliothek, deren Reformator Christian Gottlob Heyne einst war, hätte uns besonders interessiert. Heyne hatte eine möglichst liberale Organisation der Benutzung eingeführt, die auf die Bedürfnisse der Forschenden und Studierenden ausgerichtet war. Das Schicksal wollte es, dass Bibliotheksdirektor Heyne zahlreiche wichtige Bücher an den Weimarer Superintendenten Herder auslieh. Für die Herder-Forschung ist die Göttinger Historische Freihandbibliothek daher eine unschätzbare Quelle. Leider kam es vor drei Jahren zu einem peinlichen Vorfall, verursacht durch einen Bibliotheksmitarbeiter. Unverständlich und ohne jede Logik ist, dass seither die Nutzung durch Forschende und Studierende nicht mehr möglich ist. Diese wichtige historische Quelle für die Herder-Forschung wurde leider verstopft.)

Eine Delegation der Tagungsteilnehmer machte sich gegen 17.30 Uhr auf den Weg, um am Grab Heynes einen Kranz niederzulegen.

Prof. Nesselrath trug auf dem Friedhof einen historischen Text von Anton August Sarazin aus dem Jahre 1812: »Nänie, am Grabe der verewigten Professoren Heyne, Goede, Richter« vor.

Dieser junge Mann gehört zu den Menschen, die für den Erhalt solcher historischer Grabstätten, wie der von Christian Gottlob Heyne, tätig sind. Leider werden selbst solche Denkmäler mitunter durch Vandalen beschädigt. Solche »Wunden« heilt eben die Zeit nicht, sondern weitsichtige Menschen.

Man muss den Göttinger Organisatoren der Tagung für ihr Engagement danken. Sie vermochten es, uns eine nahezu vergessene Persönlichkeit in Erinnerung zu rufen. Wenn wir uns etwas wünschen dürften, dann dass zum nächsten Jubiläum vielleicht auch der Briefwechsel Heynes mit seinen wichtigsten Freunden und Kollegen Beachtung fände. Besonders in der Beziehung zwischen Heyne und Herder fänden sich Belege dafür, dass ein Bewahren unseres kulturellen Erbes nicht ohne vorsichtige Erneuerung, und eine Erneuerung nicht ohne Bewahren möglich ist. Sowohl traditionalistisches Bewahren als auch aktionistisches Erneuern sind fruchtlos. Beides bedingt sich.

Allerdings muss man sich in Frage stellen können, um sich zu erneuern. Heyne und Herder vermochten das, weil sie über methodisches Selbstbewusstsein verfügten. Herder nannte dieses Verfahren zur beständigen Erneuerung unseres Denkens, wie des wissenschaftlichen Methodensystems, »Palingenesis«.

Johannes Eichenthal

One thought on “Bewahren und Erneuern

  1. Lieber, sehr verehrter Herr Prof. Eichenthal,

    es ist Ihnen von ganzem Herzen zu danken, dass Sie, dem es vergönnt war in Göttingen zu weilen, uns einen so umfassenden Bericht über die wissenschaftliche Tagung aus Anlaß des 200. Todestages von Christian Gottlob Heyne am 14. Juli 2012, und damit über die Bedeutung Heynes in der Gegenwart zur
    Hand gegeben haben.
    War es doch „vor Ort“ schon ein Lichtblick, dass die „Freie Presse“ am Freitag den „13.“ Klaus Walthers
    Beitrag: „Archäologe, Philologe, Poet und Chemnitzer“ abgedruckt hat. In unserer Festschrift „Augenblick und Ewigkeit“, die wir anläßlich des 75-jährigen Jubiläums der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft 2001 heraus
    gegeben haben, verwiesen wir bereits auf den Seiten 29 bis 31 auf großen Sohn der Stadt Chemnitz, wo es am Ende heißt:
    „Für die Chemnitzer bleibt Christian Gottlob Heyne einer der großen Söhne ihrer Heimatstadt, dem sie nicht nur verbunden, sondern verpflichtet bleiben, in Ehren zu gedenken.“
    Bleibt nunmehr zu hoffen, dass sich der Wunsch Klaus Walthers am Ende seines Beitrages in der „Freien Presse“ erfüllt:
    „… Vielleicht bietet das neue Archäologie-Museum auch dem großen Sohn ein wenig Platz . …“.

    Raum ist ja genug vohanden, zum Beispiel für einen „Christian Gottlob Heyne-Saal“ … aber den gibt es ja
    noch nicht einmal für Georgius Agricola!

    Mit allen guten Wünschen und besten Grüßen

    Ihr

    Siegfried Arlt
    Vorsitzender
    Goethe-Gesellschaft Chemnitz

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