Im Jahre 2011 erschien ein so genannter »Thriller« des englischen Autors Robert Harris mit dem deutschen Titel »Angst«. Der Originaltitel lautete: »The Fear Index«. Die deutsche Fassung des Buches wurde immerhin in sechs Auflagen gedruckt. Das Buch und der Autor erhielten keinen hoch dotierten Buchpreis und nach heutigen Maßstäben ist das Buch kein Bestseller. Deshalb ist es für uns jedoch nicht uninteressant.
Robert Harris ist kein Unbekannter. Wer ihn nicht als Buchautor kennt, der ist vielleicht durch Roman Polanskis Verfilmung eines Harries-Buches mit dem Titel »The Ghostwriter«, auf seinen Namen gestoßen. Bereits in »Ghost«, so der Buchtitel, demonstrierte Harris sein Ausnahmetalent. Er stellt politische Prozesse aus der nahen Gegenwart auf hohem dramatischen Niveau dar, ohne in Aktualismus zu verfallen.
Die Fabel, oder der Plot seines neuen Buches, bringt uns eine Episode aus dem Leben eines exzentrischen promovierten Physiker nahe, der als armer Wissenschaftler zunächst am berühmten Forschungszentrum CERN in Genf an der Suche nach den »Gottesteilchen«, wie man selbstgefällig formulierte, teilnimmt. Der US-Amerikaner Alexander Hoffmann lebt spartanisch, übernachtet zum Teil am Arbeitsplatz und pflegt einen unkonventionellen Arbeitsstil. Irgendwann passt seine Genialität jedoch nicht mehr in die CERN-Gruppendynamik. Nach einem Nervenzusammenbruch gründet er die Firma »Hoffmann Investment Technologies«, einen der so genannten Hedge-Fonds. Als Inspektor Leclerc ihn später nach seiner beruflichen Tätigkeit fragt, antwortet Hoffmann: »Wir machen Geld«.
Wie geht das? Der Autor vermag uns das Leben in einer solchen Firma anschaulich zu schildern. Die »Firma der Zukunft« kennt kein Papier. Bücher und Zeitungen sind hier verboten. Gigantische Computer-Server stehen im Zentrum. Die Menschen starren in einer Art pseudoreligiöser Andacht auf Bildschirme. Harris versucht nicht ohne Sympathie diese Finanzmarktakteure zu verstehen. Wohlgemerkt, hier sind keine Börsenhändler tätig, sondern promovierte Mathematiker oder Physiker. Die besten ihres Jahrganges. Das Anfangsgehalt ist bereits sechsstellig. Bonuszahlungen im siebenstelligen Bereich sind üblich. Wie ist diese Arbeitsumgebung vorstellbar? Kein Einrichtungsgegenstand ist hier älter als sechs Monate. Alles ist geleast. Keinerlei belastendes Eigentum.
Dennoch besitzt Hoffmann eine 60-Millionen-Villa, in der er in kinderloser Ehe mit einer ehemaligen Kunststudentin lebt, die in einer Genfer Galerie gerade ihre erste Werk-Ausstellung vorbereitet.
Zudem stellt Harris Alexander Hoffmann als einen Bibliophilen dar. Der sammelt Erstausgaben großer Wissenschaftswerke. Seine Büchersammlung hat Millionenwert. Dazu kommt, dass er die Bücher auch liest und bis in einzelne Druckfehler hinein kennt. Als er einmal versehentlich ein Buch in die Firma mitbringt, muss er die übliche Strafe für dieses »Vergehen« bezahlen. Harris baut also keine »holzschnittartigen Charaktere« auf. Im Gegenteil.
Doch was ist mit dem Finanzmarkt? Die Fabel will es, dass Hoffmann das Computerprogramm VIXAL entwickelt, welches einen Angst-Index generiert, das Internet nach Symptomen für Angst durchsucht, und den gesamten Hochfrequenz-Aktienhandel des Hedge Fonds danach ausrichtet. Schließlich ist es soweit. Eine ausgereifte Version, VIXAL-4, übernimmt die Geschäftstätigkeit von »Hoffmann Investment Technologies«. Die Menschen schauen auf den Bildschirmen nur noch staunend zu, was VIXAL in Millisekunden an Aktien kauft, um sie eben so schnell wieder zu verkaufen. Selbst die besten quantitativen Analytiker begreifen nicht die Logik von VIXAL.
Das Buch wäre kein Thriller, wenn nicht der Held selbst dem Gefühl der Angst ausgesetzt würde. Es beginnt mit der Zusendung einer Erstausgabe von Charles Darwins »The Expression of the Emotions in Man and Animals« aus dem Jahre 1872, im Werte von 15.000,– US-Dollar, aus einem Amsterdamer Antiquariat. Hoffmann nimmt nachforschend zunächst erstaunt zur Kenntnis, dass er selbst das Buch bestellt und bezahlt haben soll. Er zweifelt glaubhaft an seiner Zurechnungsfähigkeit und wird an frühere psychische Probleme erinnert. Dann stößt er auf eine Kopie seiner Krankenakte, die ein unbekannter Hacker aus dem Computer seiner Ärztin stahl. Aus dieser undurchsichtigen Situation entwickelt sich eine dramatische Dynamik. Sehen wir dem Autor einige Thriller-Klischees nach. Aber Harris hat es »hinter den Ohren«. Wir wollen dem geneigten Leser selbst die Freude an der Entdeckung des ironischen Subtextes belassen.
Die Fabel wäre nicht erzählenswert, wenn sich nicht das Schicksal Hoffmanns mit dem Börsencrash von 2010 verquicken würde. Harris findet Bilder dafür, dass diese Art von Finanzwirtschaft nichts mit der menschlichen Versorgungswirtschaft zu tun hat. Mehr denn je benötigen alle Menschen auf unserer Erde, dort wo sie geboren wurden, Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein. Harris macht mit seinem Plot deutlich, dass der Hochfrequenz-Handel auf Aktien-Wetten nicht nur die Verantwortung für Krisen, wie die von 2010 trägt, sondern, dass diese Krise von Systemen wie VIXAL-4 ausgelöst wurde, und dass Firmen, wie »Hoffmann Investment Technologies« aus der Krise mit Milliardengewinnen hervorgingen. Der generierte Angst-Index erzeugte reale Ängste, um »Geld zu machen«. Das ist der ganze »Sinn« der »Systemrelevanz«.
Zur Größe von Robert Harris gehört, dass auch der Schluss des Buches von tiefer Ironie geprägt ist. Das Lachen bleibt uns jedoch im Halse stecken. Die Ironie schenkt uns aber die Hoffnung spendende Distanz. Harris liefert uns eine existenzielle Kritik des heutigen »Erfolgsmenschen« und der »Machteliten«: Systeme wie VIXAL-4 sind für diese sozialen Gruppen an die Stelle Gottes getreten.
Meister Eckhart würde dazu vielleicht sagen: »Wollen wir diesen Leuten wünschen, dass sie das Himmelreich erlangen. Wir wissen aber: sie werden es nicht schaffen.«
Es liegt an uns selbst, die Umkehr zu vollziehen: »Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.« (Matthäus 4,17)
Diese Buch ist ein wirkliches Weihnachtsgeschenk. Vielleicht wird es ein Longseller?
Johannes Eichenthal
Robert Harris: Angst. Heyne Verlag 2011. ISBN 978-3-453-26704-6
Ja, Harris ist spätestens seit „Vaterland“ & „Enigma“ eine Hausnummer im Medium historischer Gegenwartsthriller. Ich sehe ihn via TV – vor etwa vier oder fünf Jahren – durch seinen englischen Garten gehen und eben just über sein neues Buch zur damals aktuellen WWK philosophieren – und nebenher dem interessierten Publikum seine imponierenden Recherchemöglichkeiten vermitteln. Wenn man sich also gerade durch die mehr als 1000 Seiten von Oswald Spenglers UdA frisst, durch Golo Manns 1000 Seiten „Wallenstein“ nahezu durch ist, aber auch noch dringend Fukuyamas „Ende der Geschichte“, die Folgeliteratur, wie den Kontext ,irgendwie bewältigen will, kann so ein flutschender Harris schon Verführung und erlösendes Suchtmittel sein. Aber wissen wir hinterher wirklich mehr, als uns alle die TV-Dokus in den letzten Jahren in Sachen alternativloser Finanzimperialismus schon offeriert haben? Harris berauscht für 48 Stunden und bleibt nur durch seine Ensembles in anhaltender Erinnerung, mein lieber Herr Redaktor. Und über „Enigma“ schrieb Hochhuth schon 20 Jahre früher, wie Fest über den deutschen Totentanz. So jedenfalls die Erfahrung mit dem o. G. und nicht zuletzt auch mit seinem Rußland-Stalin-Thriller, dessen Name mir aber gerade nicht einfallen will. Ich glaube aber er hieß nach dem uns seit Kindheitstagen vertrauten, mythisch-antiquierten Panzerkreuzer, der in Petrograd seiner historischen Bestimmung entgegenrostete. Wenn man sich heute solchermaßen erinnert und inzwischen vom damals gleichzeitig vorhandenen englischen und deutschen Arsenal an Kriegsschiffen weiß, wird der Eröffnungsschuss zur russische Revolutionssatire, samt den x Millionen für Wladimir Iljitsch aus Kriegskasse der Generalsobernarren Hindenburg und Ludendorff, zur geradezu genialen, geschichtsdestruktiv das fatale 20 Jh. eröffnenden Inszenierung. Sind wir da nicht – man möge mein geschwätziges Ausufern verzeihen – sogar noch an das Jahr 2014 und die politische Postmoderne á la Putin, Merkel & Obama herangerückt?
Mit einer sehr tiefen Verbeugung vor Schopenhauer, der die Geschichte gleich links liegen ließ, und den
allerbesten Grüssen an den Herr Doktor und seine sehr verehrte Gattin!
Prosit! Der Ihre:
S c a r d a n e l l i