Rezension

Ein Blick zurück

Der große Historiker Eric Hobsbawm berichtet in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass ihn ein US-Student fragte, ob der Ausdruck »Zweiter Weltkrieg« besage, dass es auch einen »Ersten Weltkrieg« gegeben habe. Wahrscheinlich wegen dieser Episode wurde 2014 in allen europäischen Medien der 100. Jahrestag des Ausbruches dieses Krieges zum Anlass für eine intensive Bearbeitung des Themas genommen. Nein, Spaß beiseite: die Massenkulturindustrie hat die »Erinnerungskultur« für sich entdeckt. Spektakel folgte auf Spektakel.

Aber trotz dieser Verspektakelisierung der Kultur finden sich hier und da auch einzelne ernsthafte Beiträge. Aus der Schar renommierter Historiker, die eigens zum Jubiläum eigene Monografien vorlegten, gehörte auch Christopher Clark mit seinem bereits 2012 erschienenen Buch »Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.« Der 1960 geborene Christopher Clark ist Professor am St. Catharin’s College in Cambridge. Bereits mit früheren Büchern zur preußischen Geschichte wurde Clark mit Preisen bedacht. Die »Schlafwandler« erfuhren in Deutschland besonders große Aufmerksamkeit. Vielleicht ob seiner Relativierung der Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg, wie sie im Artikel 231 des Friedensvertrag von Versailles von den Siegern festgeschrieben worden war. Lange hielt sich das umfangreiche und anspruchsvolle Buch in den Bestsellerlisten.

Jetzt ist dieses Jahr 2014 zu Ende, nun ist auch die Zeit für einen Rückblick. Mit knapp 900 Seiten stellt das Buch von Christopher Clark auch äußerlich ein Schwergewicht dar. Die Anmerkungen umfassen allein 112 Seiten. Das Literaturverzeichnis umfasst immerhin noch 35 Seiten. Zur Lektüre gehört einige Anstrengung. In der Einleitung bemängelt Clark zunächst die Qualität und Unvollständigkeit der Quelleneditionen. Zugleich hebt er einen Perspektivwechsel hervor, der unsere Zeit von den 1980er Jahren unterscheide. Seit dem Ende des Kalten Krieges habe sich ein Zustand herausgebildet, »der zum Vergleich mit der Situation in Europa anno 1914 geradezu einlädt«.

Die Darstellung des Attentates von Sarajevo nimmt Clark als Ansatzpunkt für den Perspektivwechsel: »Das Attentat in Sarajevo wird in vielen Darstellungen als reiner Vorwand behandelt, als ein Ereignis ohne großen Einfluss auf die eigentlichen Kräfte.« Der Ausdruck »Vorwand« taucht in der Literatur eigentlich kaum auf. Wir verstehen aber, dass Clark das Attentat als Moment komplexer Ereignisse erklären will. »Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, die Julikrise von 1914 als ein modernes Ereignis zu verstehen, als das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten.«

Wie will der Autor diese »Komplexität« durchdringen? Clark fügt an, dass er sich weniger mit der Frage befasse warum der Krieg ausbrach als mit der Frage wie er ausbrach. Etwas später ergänzt er, dass die »warum«-Frage in den vergangenen 100 Jahren sofort mit der Schuld-Frage verknüpft wurde. Schuldzuweisungen trübten jedoch den Blick. Deshalb schreibt Clark: »Nach Möglichkeit sollen die Antworten auf die Warum-Frage jedoch aus den Antworten auf die Frage nach dem wie erwachsen, nicht umgekehrt […] Der Ausbruch des Kriegs war der Höhepunkt in einer Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit bewussten Zielen getroffen wurden. Diese Akteure waren bis zu einem gewissen Grad der Selbstreflexion fähig, sie erkannten eine Auswahl von Optionen und bildeten sich auf der Basis der besten Informationen, die ihnen vorlagen, ein Urteil. Nationalismus, Rüstung, Bündnisse und Hochfinanz waren allesamt Teil der Geschichte, aber man kann ihnen lediglich dann eine echte erklärende Bedeutung beimessen, wenn man aufzeigen kann, dass sie Entscheidungen beeinflussen, die – zusammengenommen – den Krieg ausbrechen ließen.«

Am Ende der Einleitung wechselt Clark vom erklärenden Ansatz zum Verstehen: »Eine zentrale These dieses Buches lautet, dass man die Ereignisse vom Juli 1914 nur dann verstehen kann, wenn man die Wege, welche die Hauptentscheidungsträger beschritten, beleuchtet und ihre Sicht der Ereignisse schildert.«

Damit benennt Clark zwei gegensätzliche Aufgaben: die Erklärung der Ereignisse und das Verstehen der Hauptentscheidungsträger.

Clark beginnt zunächst mit einer Art Chronologie des Weges nach Sarajevo. In der Tat bietet der Historiker einen ungeheuren Materialreichtum auf. Der Recherche-Aufwand muss gewaltig gewesen sein. Interessante Details bringen tatsächlich neue Einsichten. Der am Hofe wegen seiner Heirat mit einer böhmischen Gräfin ungeliebte österreichische Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand war ein entschiedener Gegner von Kriegen und Eroberungen. Er fuhr nach Sarajevo mit der erklärten Absicht einer Verbesserung der Beziehungen zu Serbien. Erste Schritte auf dem Weg der Verständigung mit der serbischen Regierung hatte er zuvor bereits getan.

Die serbischen Terroristen waren nicht an einer Verständigung interessiert. Aber auch die Kriegsfraktion in der K. u. K. Monarchie um Generalstabschef Feldmarschallleutnant Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf wollten keine Verständigung mit Serbien. Der Generalstabschef hatte nach dem Serbien-Besuch des Thronfolgers sogar mit seiner Entlassung zu rechnen.

Hier stellt sich die Frage, wer tatsächlich hinter dem Attentat serbischer Terroristen auf dem Thronfolger und seine Ehefrau stand. Leider geht Clark dieser Frage nicht nach. Dabei sind es gerade die Hintermänner, nicht die geistig Verwirrten Attentäter, die für die Einschätzung wichtig sind.

Bei dem Versuch der Charakterisierung des Generalstabschefs wird zugleich eine Schwäche der Methode Clarks deutlich. Als besonders wichtig für das Verstehen von dessen Motivation stellt er die außereheliche Beziehung des alten Militärs zu einer jüngeren verheirateten Frau dar. Mit Akribie werden alle möglichen Einzelheiten ausgebreitet. Der General schrieb Liebesbriefe, mitunter mehrere am Tag. Wenn er sie nicht abschickte, dann sammelte er sie in einem Album.

Aber haben nicht viele ältere männliche Angehörige von Machteliten außereheliche Beziehungen zu jüngeren Frauen? Sind wir mit all dem Aufwand dem politischen Denken des Generalstabschefs wirklich näher gekommen?

Vielleicht zeigt sich schon hier ein Mangel in der empiristisch dominierten Methode des Autors?

Kann man wirklich die Frage nach dem »warum« einfach ausblenden und durch die Frage nach dem »wie« ersetzen? Kann man erwarten alle Handlungen der Machtelite in Akten dokumentiert zu finden? Was kann Quellenkritik dann wirklich noch leisten? Sind die wichtigsten Faktoren vielleicht mitunter nicht schriftlich dokumentiert, weil sie geheim gehalten werden oder selbstverständlicher Zeitgeist?

In den Schlussbemerkungen verteidigt Clark sein Forschungsergebnis, dass es keinen einzelnen Schuldigen am Kriegsausbruch gäbe: »Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Konservatorium über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderleglichen Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs: So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen.«

Hier müssen wir zwei Aspekte unterscheiden.

Erstens: Clark betonte immer wieder, dass alle beteiligten Akteure »rational« dachten und zur »Selbstreflexion« fähig gewesen seien. Wie ist dann ein »nichtrationales« Resultat des Handelns der europäischen Machteliten erklärbar?

Ein Blick in die deutsche Geistesgeschichte hätte genügt, um das Problem zu verstehen: Die Menschen verfolgen alle ihre Ziele und Zwecke. Doch dabei kommt noch etwas anderes heraus als in ihren Absichten lag – meinte Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Oder in der Version von Friedrich Engels: Alle machen was sie wollen und heraus kommt, was keiner gewollt hat.

Zweitens: Es gibt keinen einzelnen Schuldigen am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, keine Tatwaffe in der Hand eines einzelnen Schuldigen, … sondern die Tatwaffe in der Hand eines jeden der Akteure.

Diese Feststellung Clarks bedeutet nicht, dass es keinen Schuldigen gibt, sondern dass alle beteiligten europäischen Regierungen Schuld am Kriegsausbruch tragen.

In der Medizin würde man das vorsichtige Vorgehen Clarks vielleicht als »Ausschlussdiagnose« bezeichnen: Ein Alleinschuldiger ist nicht feststellbar.

In unserer Zeit ist eine solche Zurückhaltung eher selten.

Clark schreibt in seinem letzten Satz: »So gesehen waren die Protagonisten von 1914 Schlafwandler – wachsam, aber blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität der Gräul zu erkennen, die sie in Kürze in die Welt setzen sollten.«

In diesem Satz zeigt sich noch einmal Schwäche und Stärke von Clarks empiristischer Methode: Schlafwandler (?) – wachsam aber blind (?). Wir sind irritiert.

Ist die gewählte Titelmetapher wirklich tragfähig oder hat das englische Wort »Sleepwalker« noch eine verborgene idiomatische Bedeutung?

Vielleicht können wir festhalten: Christopher Clark versuchte allein mit einem gewaltigen Faktenmaterial zu beweisen, dass ein einzelner Schuldiger am Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht feststellbar ist. Man könnte einwenden, dass die Methode Clarks genau auf dieses Ergebnis zielte. Sei es wie es sei, nicht die Methode, die Details sind das eigentlich Interessante an diesem Buch.

Clark überlässt es dem Leser, seine Implikationen weiter zu denken: alle beteiligten europäischen Regierungen tragen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Eigentlich ist das ein Fall für die internationalen Kriegsgerichte. Für eine juristische Bewertung des Ersten Weltkrieges kommt diese Einsicht jedoch zu spät.

Luchino Visconti lässt Romy Schneider in der Rolle der Kaisergattin in seiner Verfilmung des Lebens des Bayernkönigs Ludwig II. zu ihrem Cousin sagen: der Adel ist überlebt und zu nichts mehr nütze. Wir kommen nur noch in die Geschichtsbücher, wenn irgendein Dummkopf uns in einem Attentat ermordet.

Erinnert sei hier auch an die Thronfolger, die um 1900 durch Selbstmord ihrem Amtsantritt entsagten.

Clark zitierte und erwähnte in seinem Buch den Schweizer Historiker Stig Förster. Doch dessen wichtigsten Fund lässt er leider unerwähnt. Förster hatte in den Aufzeichnungen des deutschen Generalstabschefs Helmuth von Moltke eine Bemerkung gefunden, dass, wenn Deutschland einen Krieg beginnen, dieser notwendig ein Zweifrontenkrieg werde, und dass dieser verloren werden müsse.

Dennoch begann das deutsche Kaiserreich den Krieg.

Förster verwies darauf, dass die herkömmliche Geschichtswissenschaft eine solche Denkweise nicht erklären könne. Er nannte diese Haltung: »Selbstmord aus Angst vor dem Tod.« (Interview von Claus Baumgart mit Stig Förster. Leipziger Volkszeitung vom 24./25.9.1994)

Also doch eine Art von Selbstmord?

Aber warum? Macht hatte der europäische Adel um 1914 noch mehr als genug. Vielleicht fehlte es aber an Phantasie? Vielleicht konnte man sich die künftige Welt nur so vorstellen, wie sie in den letzten Jahrhunderten gewesen war? Vielleicht wollte man lediglich an den alten Annehmlichkeiten festhalten, trotz aller Veränderungen der Wirklichkeit? Vielleicht erschien diese Zielstellung als alternativlos? Vielleicht ist die Fixierung auf »Alternativlosigkeit« zu wenig für die Übernahme von Regierungsverantwortung?

Johannes Eichenthal

150109Clark

Information

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.

Deutsche Verlagsanstalt. München 2014 978-3-422-04359-7

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert