Von einem Freund erhielt ich eine Einladung zur Geburtstagsfeier für Friedrich Nietzsche (1844–1900) in Röcken. Wo liegt denn Röcken? Das Dörflein ist heute ein Ortsteil von Lützen, an der Straße von Leipzig nach Weißenfels. So machte ich mich am 15. Oktober, bei Regenschauern, auf den Weg. In Röcken schien die Sonne. Im Pfarrgarten und im Pfarrhaus nahm man den Besucher freundlich auf. Ja, hier wurde Friedrich Nietzsche geboren, in der Kirche getauft und hier fand er auch seine Ruhestätte in einem Grab an der Kirchenmauer. Ein Kreis junger Leute versucht als Nietzsche Verein Röcken, das Ensemble als Gedenkstätte zu erhalten. In der Tat hat der Ort etwas: Geburtsort und Grabstätte gleichzeitig. Wo könnte eine authentischere Stätte des Gedenkens sein als hier?
Die schlichte Dorfkirche, mit massiven Mauern aus Feldsteinen füllte sich langsam bis auf den letzten Platz.
Das Musiker-Duo String & Harp sorgte mit seinen Klängen für Harmonie.
Ein Vertreter des Nietzsche Vereins Röcken begrüßte, kündigte den folgenden Festvortrag und das Kaffeetrinken nach der Veranstaltung an.
Professor Elmar Schenkel verwies zu Beginn seines Festvortrages auf eine kleine kunstgeschichtliche Dokumentation zur Kirche aus der Feder des Kunsthistorikers Prof. Thomas Topfstedts, die am heutigen Tag erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werde, und deren Verkaufserlös dem Erhalt der Kirche zukommt. Dann zitierte er sein Tagesmotto: Die Kunst besteht darin, Absichten vorzutäuschen, wo keine sind. In der anschließenden Auslegung dieses Satzes ließ er ein kleines Feuerwerk der Anspielungen und Bezüge abbrennen, dass den Gästen in den engen Kirchenbänken Hören und Sehen verging. Er zitiert einige Aphorismen Nietzsches, mit denen er seine Auffassung zu begründen versuchte, dass Nietzsche Humor besessen habe. Das hatte ich in der wissenschaftlichen Fachliteratur noch nie gelesen! Doch wie die großen Komiker, so blickte Nietzsche ja auch stets ernst. Aber der Referent setzte bereits die Nietzsche-Begeisterung Christian Morgensterns ein, um seine These zu untermauern: Wenn der komische Morgenstern sich für Nietzsche begeisterte, dann muss Humor dabei gewesen sein. Aber eigenartigerweise verstand auch Morgenstern in Sachen Nietzsche keinen Spaß. Als Julius Otto Bierbaum, einer der Begründer der Zeitschrift „Die Insel“, eine satirische Zeitschrift mit dem Titel „Zarathustra“ herausgeben wollte, protestierte Morgenstern ganz ernst. Doch später wurde Morgenstern leider ein Nietzsche-Kritiker. Vielleicht war ihm der Zusammenhang entgangen. Der Referent verwies darauf, dass der Pfarrer hier in den 1990er Jahren den Namen „Kant“ trug. Für die Nietzsche-Freunde hatte er an der Kirche einen Zettel angebracht: „Schlüssel für Nietzsche bei Kant“. – Hier verlor ich im Nachdenken darüber, ob es überhaupt eine Kant-Rezeption Nietzsches gegeben habe, den Anschluss.
Ich erwachte erst im Schlussteil wieder. Professor Schenkel verwies auf die Ausstellung mit Malerei Thomas Topfstedts zu Nonsens-Gedichten Christian Morgensterns im Kirchenraum. Bitte, sagte der Professor, suchen Sie sich einen Nietzsche aus (den frühen, den mittleren oder den älteren?) mit dem Sie die Ausstellung betrachten. Dann verwies er auf die Kollekte am Ausgang. Sein letzter Satz war: „Übermenschlich kann auch der Unsinn sein.“ Statt der Orgel beendete das Duo String & Harp mit seinen Klängen die Feierstunde.
Johannes Eichenthal
Information
Nietzsche Gedenkstätte, Teichstraße 8, 06686 Lützen/OT Röcken
Die Ausstellung ist noch bis zum 26.11.2023 zu sehen
Öffnungszeiten. Mi, Sa, Sonn- und Feiertage: 13–17 Uhr