Reportagen

DER STÜLPNER KARL IM WIESENTHALER K3

Am Abend des 14. Oktober, einem Sonnabend, verflüchtigten sich die dichten Wolken, die den ganzen Tag über dem Kurort Oberwiesenthal hingen, in die Atmosphäre. Über dem Gipfel des Fichtelberges klarte es auf und man konnte die Lichter der Fichtelberg-Schwebebahn-Bergstation (1924 in Betrieb genommen) wieder erblicken. Das erleuchtete Wiesenthaler Kulturzentrum K3 zog die Gäste an. Der Saal füllte sich langsam mit Besuchern aus nah und fern. Es war ein Vortrag von Dr. Andreas Eichler vom Mironde-Verlag über Karl Stülpner als Literaten und eine Vorstellung der Buchreihe „Literarische Wanderung durch Mitteldeutschland“ angekündigt. 

Der Kulturaktivist Steffen Meyer begrüßte die Gäste und den Referenten. Eichler begann mit dem Hinweis, dass kein Mensch dem anderen gleiche. Diese Einzigartigkeit erzeuge den Schein der völligen Selbstständigkeit des Individuums. Aber wir verdanken weder unsere biologische noch unsere geistige Existenz uns selbst, wir werden nur mit Anlagen geboren. Lebenslanges Nachahmen und Üben ist notwendig, um überhaupt erst zum Mensch zu werden. Wir konstituieren uns dabei als Menschen in Sprache, nicht in Bewusstsein. Mit unserer Sprache fassen wir in Besonnenheit alle Sinneswahrnehmungen zusammen, verfügen über Kommunikationsfähigkeit, eine innere Handlungssteuerung und die Fähigkeit zur Stärkung unserer Seelenkräfte. Der notwendige Nachvollzug der geistigen Menschheitsentwicklung beginne mit der Muttersprache in derem regionalen Dialekt in Mitteldeutschland. Um 1200 entstand in der Region zwischen Braunschweig und Görlitz aus einem Dialektausgleich die mittelhochdeutsche und um 1500 die neuhochdeutsche Sprache. Es sei also für unser Selbstverständnis notwendig, sich wenigstens die Grundzüge der 800jährigen regionalen Sprach- und Literaturgeschichte anzueignen. Er lade deshalb zu einer alternativen literarischen Wanderung ein. Es werde dabei am weiten Literaturbegriff Herders, der neben Lyrik und Prosa auch Technik, Naturwissenschaft, Juristerei, Theologie und Philosophie umfasse, angeknüpft. Die Vorstellung ausgewählter Literatinnen und Literaten solle den allgemeinen Prozess personifizieren. Neben einer kleinen Biographie finde der Leser Fotos, Abbildungen und eine Karte vom Wirkungsort, eine Einführung in einen Originaltext und eine Zusammenfassung unter dem Titel „Was bleibt?“. Das Aufnahmekriterium in den Band sei die Verfassung eines Textes in mittelhochdeutscher oder neuhochdeutscher Sprache gewesen.

Die Lebengeschichte Karl Stülpners wurde nach dem Verbot durch das Sächsische Innenministerium von 1835 erstmal im Jahre 1978 durch das Zentralantiquariat der DDR in Leipzig als Reprint veröffentlicht. Die neue Umschlaggestaltung stammt von Prof. Werner Klemke.

Nach einer kleinen Bild-Wanderung durch Mitteldeutschland kam Eichler auf Karl Stülpner zu sprechen. Bisher wurde dieser nicht zu den Literaten gezählt. Wir waren gespannt, wie der Referent seine Auffassung begründete. Eichler verwies darauf, dass Karl Stülpner (1762–1841) aus ärmsten Verhältnissen stammte, unter schwierigsten Verhältnissen aufwuchs und sich als Mensch emanzipieren wollte. Er wählte, wie vielen Jugendlichen in ähnlicher Lage, ein Leben als Soldat. Bezeichnend für Stülpner war jedoch seine Fähigkeit zur unbedingten Wahrung militärischer Disziplin und seine wiederholten Desertionen, seine Ausbruchsversuche in ein Leben als freier Wildschütz. Eichler hob ausdrücklich die mündliche Erzählfähigkeit Stülpners hervor. In der volkstümlichen Tradition spielten die mündliche Überlieferung und die begnadeten Erzähler seit Jahrtausenden eine wichtige Rolle. Stülpner, der ganze Säle zu unterhalten vermochte, wurde auch als ein solch begnadeter Erzähler verehrt. Sein Biograph Schönberg hob Stülpners Erzählerstimme hervor. Diese habe jugendliches Feuer besessen, mitunter habe diese Stimme sogar Scheiben erklirren lassen. Und er hatte auch etwas zu erzählen. In seinem Soldatenleben habe Stülpner Dinge erlebt, die seine Seele belasteten. So musste er als preußischer Soldat im September 1792 an der Schlacht von Valmy teilnehmen, in der die französische Revolutionsarmee zum ersten Mal dem Angriff der Feinde stand hielt. Die Versorgung der preußischen Truppen war schlecht. Die Soldaten plünderten, um zu überleben. Es kam zum gewaltsamen Widerstand der Bevölkerung …

1795 begann Stülpners Grundherr, Major Abraham von Einsiedel auf Scharfenstein, am Dresdner Hof zu vermitteln. In jahrelanger Arbeit hinter den Kulissen erreichte er Stülpners Begnadigung unter der Bedingung, dass dieser noch vier Dienstjahre in seinem Chemnitzer Regiment abdiente. Stülpner nahm den Kompromiss an, trat 1800 wieder in das Chemnitzer Regiment ein und heiratete, im Vertrauen auf die Gültigkeit der Abmachung seine große Liebe, die Tochter des Ortsrichters Wolf. Doch die Obrigkeit hielt sich nicht an die Abmachung und Stülpners Hoffnungen auf ein bürgerliches Leben wurden enttäuscht.

Gästeinformation und Kulturzentrum K 3 von der Karlsbader Straße aus gesehen.

Spätestens 1834, so Eichler, sei das Scheitern der Emanzipationsbestrebungen Stülpners offensichtlich gewesen. Bereits 1820 war seine Frau verstorben, alle Bemühungen einer Existenzgründung als Gastwirt waren gescheitert, er war mittellos, nahezu erblindet, nur ein Auge konnte er 1831 ärztlich behandeln lassen. 

In dieser Situation sei ein gewisser „Schönberg“ an Stülpner mit dem Angebot der Veröffentlichung seiner Lebenserinnerungen herangetreten. Erst damit erhielt das Leben Stülpners noch einen Sinn. Das Buch wurde in Zwickau und Annaberg-Buchholz von der Zensur genehmigt und erschien 1835 in Zschopau unter dem Titel „Carl Stülpners merkwürdiges Leben und die Abenteuer als Wildschütz im sächsischen Hochgebirge“. 

Es beginnt mit Darstellung von Burg und Herrschaft Scharfenstein. Die Darstellung des Stülpnerschen Lebens erinnert an eine juristische Diktion. Es werden die schwierigen sozialen Verhältnisse hervorgehoben, denen er entstammte und sein „naiver Glaube“, dass das Wild allen gehöre. Aus dem Mund Stülpners werden dessen Forderungen nach Gerechtigkeit betont, die er notfalls mit seinem „Stutz“ durchsetzte.

Neben authentischen Äußerungen Stülpners finden sich im Buch z.T. wörtliche Wiederholungen aus einem fiktiven Stülpner-Roman des Offiziers von Sydows und zum Teil falsche Zahlenangaben. Aber die Darstellung der historischen Prozesse gelang „Schönberg“ auf hohem Niveau, selbst dort, wo formal der Zensur entsprochen wurde, vermochte der Autor einen Subtext zur Französischen Revolution und zu Kriegsverbrechen der Alliierten zu platzieren. Das Buch wurde jedoch, trotz aller Genehmigungen und Vorsicht, bereits im August 1835 vom Sächsischen Innenministerium verboten und konfisziert. Der Verfasser Schönberg musste nun den Druck bezahlen ohne über Einnahmen zu verfügen. Dem Anschein nach war er finanziell dazu in der Lage. Zugleich legte er Beschwerde beim Innenministerium ein, die jedoch abschlägige beantwortet wurde. Darauf richtete Schönberg eine Petition an den Sächsischen Landtag, die im August 1837 angenommen wurde. Die vollständig Erstattung der Druckkosten und des Honorars erfolgte allerdings erst 1838.

Gästeinformation und Kulturzentrum K 3 von der Karlsbader Straße aus gesehen.

Eichler schloss die Darstellung mit der Feststellung ab, dass mittlerweile nachgewiesen ist, dass es damals eine Person mit dem Namen „Carl Heinrich Wilhelm Schönberg“ gab. Der Name ist identisch mit der Verfasserangabe des Buches „Carl Stülpners merkwürdiges Leben und Abenteuer als Wildschütz im Sächsischen Hochgebirge“ (1835) und  „Scharfensteins neue große Spinnerei in Verbindung mit dem Schlosse und dessen höchst romantischer Umgebung“ (1836). Dieser Schönberg war 1829 als Student der Leipziger Universität nachweisbar, lebte von 1834–1838 in Weißbach bei Zschopau und war 1837 als Fabrikschullehrer in Willischthal nachweisbar. Es konnte nicht nachgewiesen werden, ob und wie dieser Schönberg mit Karl Stülpner bekannt geworden sein konnte, über die Kenntnisse zum Verfassen des Buches, die finanziellem Mittel für den Druck verfügte, die juristischen Voraussetzungen für die Austragung eines Rechtsstreites mit dem sächsischen Staat und die notwendigen politischen Verbindungen im Landtag verfügte. Dazu kommt, dass die Finanzierung des zweiten Buches von 1836 erfolgte, als Schönberg auf den Druckkosten zum ersten Buch sitzen geblieben war. Außer für die beiden genannten Bücher tritt der Autorenname „Carl Heinrich Wilhelm Schönberg“ nie wieder auf.

Eichler warf ein, dass „Schönberg“ dem Anschein nach ein Strohmann, wenn nicht sogar ein Pseudonym August von Einsiedels (1754–1837), eines Neffen Abraham von Einsiedels, gewesen sein könnte. August von Einsiedel war mit Ehefrau Emilie 1825 aus Jena nach Scharfenstein gezogen. Bis zum Tode Johann Gottfried Herders (1744–1803) gehörte er zu dessem engen Kreis. Er hatte Jura in Göttingen und Bergbau in Freiberg studiert, war Naturwissenschaftler und revolutionärer Demokrat

Schon ging die Foto-Wanderung weiter. Eichler hob hervor, dass Karl May (1842–1912) nicht ohne Karl Stülpner, der ein Jahr vor Mays Geburt verstorben war, denkbar sei. Doch die Überlieferung könne man nicht in schriftlichen Dokumenten nachweisen. Der Stülpner Mythos sei in der Kindheit und Jugend Mays allgegenwärtig gewesen, habe „in der Luft“ gelegen. Die Großmutter habe dem kleinen Karl, gerade in der Zeit seiner Erblindung, mit großer Wahrscheinlichkeit vom Stülpner, Karl erzählt. Um die literarische Überlieferung zu verstehen, müsse man den Zusammenhang von mündlicher und schriftlicher Erzählung anerkennen.

Die „Selbstaktivierung“ des Individuums in unserer Region Mitteldeutschland, hier zitierte Eichler einen Ausdruck des Philosophen Carlfriedrich Claus aus Annaberg-Buchholz, beginne mit dem bewussten Nachvollzug wenigstens von Grundlinien der 800jährigen Sprach- und Literaturgeschichte. Abschließend  hob der Referent hervor, dass alle genannten Orte an einem Tag erreichbar und alle genannten Bücher antiquarisch erhältlich sind.

Frau Grosch, die Bibliothekarin des Wiesenthaler K3, dankte abschließend dem Referenten mit Blumen. Den Organisatoren der Veranstaltung in diesem wunderbaren Kulturzentrum, mit Gästeinformation, Museum, Bibliothek, Veranstaltungs- und Ausstellungssaal, ist zu danken. Es war ein Ereignis. Der Abend fand mit einem besinnlichen Zusammensein der Niederfrohnaer Delegation im Jens-Weißflog-Restaurant seinen Ausklang.

Clara Schwarzenwald

Information

Wiesenthaler K3

Karlsbader Straße 3, 09484 Kurort Oberwiesenthal

https://www.oberwiesenthal.de/wiesenthaler-k3.cfm

Lieferbar sind Band 1 und 2 der Literarischen Wanderungen durch Mitteldeutschland:

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-den-minnesaengern-bis-herder-sprache-eigensinn1

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-von-goethe-bis-rathenau-sprache-eigensinn-2-1

Der Band 3 ist für 2024 ist angekündigt

https://buchversand.mironde.com/p/literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-sprache-und-eigensinn-3-von-landauer-bis-gunderman

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

One thought on “DER STÜLPNER KARL IM WIESENTHALER K3

  1. Liebe Frau von S c h w a r z e n w a l d auf E i c h e n t h a l,

    besten Dank für den wiederum ausgesprochen lesenswerten S t ü l p n e r-Beitrag. „Sein das verstanden werden kann, ist Sprache“ – die wohl prägnanteste Formulierung von Hans Georg Gadamer, und m. E. der Kernsatz aller modernen Sprachphilosophie – wird von Andreas Eichler überzeugend am F a l l Stülpner extemporiert. Dr. Eichlers Ausführungen zu Stülpner, den prominenten Träger obersächsischer Oral Historie, sind ein beachtenswertes interpretatives Novum und überzeugen mich. Die mitteldeutschen Literaturwissenschaft wird sich damit auseinander setzen müsse? Allerdings würde ich nicht von Karl Stülpners „naiven Glauben“ sprechen. Unser Wildschütz war wohl eher der festen Ü b e r z e u g u n g, dass Wald und Wild in absoluter Kontinuität allen gehöre. Wir können insofern durchaus von einer exemplarischen Konstante „plebejischer Rechtsaufassung“ sprechen.
    Hier und heute sendet herzliche Grüsse nach N i e d e r f r o h n a (& gerne auch an den unentwegten erzgebirgischen Kultur-Ermöglicher Steffen Meyer)

    Detlef Manfred Müller, Plauen im Vogtland.

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