Reportagen

Auf der Höhe der Zeit

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Am 23. Januar schwebten den ganzen Tag Schneeflocken auf die Erde herab. Leichter Frost garantierte die Haltbarkeit selbst der kleinsten Flocken. Ein weißer Schneehauch überzog die Landschaft, Straßen und Fußwege. Im Dunkel des Abends leuchteten die Lichter der Stadtbibliothek im Chemnitzer Kulturkaufhaus Tietz. Das war unser Ziel.

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In der »Leseecke Kultur« begrüßte Uwe Hastreiter von der Stadtbibliothek Chemnitz die Zuhörer, darunter Elke Beer, die Leiterin der Stadtbibliothek Chemnitz, zur Auftaktveranstaltung einer Lesereihe, die der Schriftstellerverein Chemnitz-Erzgebirge e.V. gemeinsam mit der Stadtbibliothek im Jahr 2014 gestalten wird.
Uwe Hastreiter präsentierte dem Publikum an diesem Abend als Lesenden Andreas Eichler, den Vorsitzenden des Vereines. Dieser hatte als Thema der Veranstaltung »Die Zukunft des Buches« gewählt. Eichler, ein promovierter Philosoph, wollte dazu aus seinem neuen Buch mit dem Titel »Innokonservation. Erneuern und Bewahren« lesen. Innokonservation, so erläuterte er, sei ein Kunstwort, zusammengesetzt aus den Gegensätzen Innovation und Konservation. Manche Leute glaubten, dass in einem Wort keine Gegensätze enthalten sein dürften. Aber in der Sprachgeschichte tauchten immer wieder einmal solche Worte auf. Sigmund Freud habe eine Rezension zu einem Buch mit dem Titel »Vom Gegensinn der Urworte« geschrieben. Giorgio Agamben habe darauf verwiesen, dass das lateinische Wort »sacer« zugleich die Bedeutung von »heilig« und »verrucht« habe.

Es gehe in solchen Worten darum, aktive Gegensätze zusammenzudenken, eine Lösung des Widerspruches denken zu können. Mitunter stellten sich die Menschen die Lösung eines Widerspruches so vor, dass einer der Gegensätze beseitigt werden müsse. (Das ist das Denken der Ausgrenzung und der Isolierung.) Die Lösung wirklicher Widersprüche könne aber nur darin bestehen, dass man eine Form finde, in der sich die Gegensätze weiter bewegen könnten. Karl Marx habe auf die Lösung verwiesen, die die Natur für den Gegensatz zweier Himmelskörper finde, die sich gleichzeitig anziehen und abstoßen: eine elliptische Umlaufbahn des kleineren um den größeren.
Für die Lösung eines Widerspruches benötigen wir Menschen Lebenserfahrung, Lebensweisheit, Weisheit, philosophisches Denken. Die direkte Übersetzung des griechischen Wortes Philosophie sei »Liebe zur Weisheit«.
Eichler sagte hier nicht, dass wir seit Sokrates wissen, dass wir nur lieben können, was wir nicht besitzen. Die Philosophen können also nur nach Weisheit streben. Sobald sie glauben, dass sie Weisheit besäßen, sind sie keine Philosophen mehr …

Eichler verwies darauf, dass in der heutigen universitären Philosophie ein sich ständig differenzierender arbeitsteiliger Prozess eine Ansammlung von Spezialisten hervorbrachte, deren Terminologie für den Laien nicht mehr verstehbar sei.
Weil die Universitäten auf diesem Gebiet ihre Kompetenz dem »Ranking« opferten, seien einzelne Publizisten als eine Art von modernen »Wanderpredigern« unterwegs: Rüdiger Safranski, der das Leben des Individuums als Kunstwerk erkläre, Peter Sloterdijk, der die Verbindung von Sprache und Sinnlichkeit besonders für Künstler wieder attraktiv machte, und Richard David Precht, der komplexe wissenschaftliche Diskurse verständlich erklären könne.
Von diesen Publizisten werde heute auch das wichtige Thema der menschlichen Existenz berührt. Wir sind nicht nur erkennende, sondern auch existierende Wesen.
Das Problem bestehe darin, dass es für die menschliche Existenz keine allgemeinen Regeln der Weisheit gäbe.
Weisheit sei, zunächst ganz abstrakt formuliert, der aktive Gegensatz von Vernunft und Glauben. Die praktische Vermittlung dieses Gegensatzes erfolge über die Poesie. Die Geschichte der Poesie, der Sagen, Märchen und Mythen sei die Sphäre, in der die Weisheit der Völker in jeweils besonderer Form überliefert wurde. Die unscheinbaren Sagen der Heimat seien der Zugang zu dieser Art von Weltliteratur.
Die Überlieferung sei über Jahrtausende ausschließlich mündlich, dann schriftlich und seit einigen Jahrhunderten in gedruckten Büchern erfolgt. Diese Überlieferung werde in den Bibliotheken gehütet. Diese Voraussetzungen müsse man sich aneignen, aber man könne die Lehren der Weisheit nur anwenden, wenn man sie verändere, also auf die individuellen Bedingungen anwende.  Die Gegensätze Bewahren und Erneuern bedingten sich gegenseitig. Eines mache nur in Bezug auf das andere Sinn. Innovation und Konservation seien in der Wirklichkeit nur als Innokonservation möglich.
Wenn man heute von der Bedrohung des Buches spräche, dann müsse man konstatieren, dass das Buch keine Feinde habe, dass die Bedrohung eher von »Freunden« käme.

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An dieser Stelle las Eichler den Anfang und die zweite Hälfte seines Buches. Ein älterer Buchliebhaber und ein jüngerer Computerexperte treffen sich auf der Buchmesse in Wien und diskutieren im Getümmel über die Zukunft des Buches, über die Überschwemmung des Marktes mit Neuerscheinungen und den Neuigkeitswahn, über das konventionelle und das elektronische Buch, über Möglichkeiten und Grenzen von Computern, über den unaufhaltsamen Prozess der Verdrängung menschlicher Arbeit durch computergesteuerte Automatisierung, über den Unterschied von menschlichem Denken und dem Denken von Computern, über den Zusammenhang von Individuum und dem Allgemeinen … über Gott und die Welt.
Wie zu erwarten, verwies Eichler im Text an mehreren Stellen auf seinen Lieblingsautor J. G. H. Naja. Das kennen wir ja von ihm.

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In der Diskussion bestätigte Eichler auf Nachfrage, dass es darauf ankäme, wie man ein Buch lese. Hier sei es weniger wichtig, ob dies ein konventionelles oder ein elektronisches Buch sei. Die Überlieferung von Weisheit in Sagen, Märchen und guten Erzählungen sei die wichtigste Funktion des Buches. Man könne sich mit einem Buch in die Einsamkeit zurückziehen und meditieren. Ein Merkmal guter Literatur bestehe darin, dass uns die Lektüre anrege, uns selbst in Frage zu stellen, um wieder neu zu uns finden zu können. Gleichzeitig biete das gute Buch aber auch Gesprächsstoff, um mit anderen Menschen kommunizieren zu können.
Auf Nachfrage von Uwe Hastreiter bestätigte Eichler ausdrücklich, dass auch der Mironde-Verlag, den er und seine Frau betrieben, an der Herstellung von elektronischen Büchern arbeite. Das elektronische Buch werde die Rolle des Taschenbuches einnehmen. Die konventionellen Bücher würden deshalb von ihnen nur noch in sehr guter Ausstattung produziert. Er verwies auf den Titel „Innokonservation“, der mit Fadenheftung, farbigem Kaptalband, Lesebändchen und graphisch hochwertiger Illustration versehen wurde.
Wolf-Dieter Beyer ergänzte, dass die mündliche und schriftliche Überlieferung mitunter die einzig verbleibenden Spuren der Kulturen kleiner Völker seien.
Eichler fügte an, dass die Rolle der Sprache als Konstitutive des Menschen, natürlich wieder mit Verweis auf J. G. H.,  auch darin zum Ausdruck komme, dass die Bibliotheken die Säulen des Baues der menschlichen Bildung, die mehr ist als bloße Wissensvermittlung, darstellten. Es sei ihm unverständlich, wie solche Einrichtungen nicht unter den Bereich von »Pflichtaufgaben« der Kommunen fielen.
Aber vielleicht ist die ganze Unterscheidung von »Pflichtaufgaben« und »freiwilligen Aufgaben« schon längst nicht mehr zeitgemäß?
Die Bibliothek erwies sich an diesem Abend als ein Ort auf der Höhe der Zeit.
Johannes Eichenthal

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Information
Die nächste Veranstaltung aus der von Schriftstellerverein Chemnitz-Erzgebirge und Stadtbibliothek Chemnitz organisierten Reihe wird am 27.2.2014, um 18.00 Uhr am gleichen Ort stattfinden. Hans-Jörg Dost liest dann unter dem Titel: »Das Leben der anderen und das eigene Leben.« neue biografische und autobiografische Texte.

 

9783937654461

 

Andreas Eichler: Innokonservation – Erneuern und Bewahren
14,0 × 20,5 cm, 52 Seiten, fester Einband, Fadenheftung, Lesebändchen
10 Kalligraphien von Birgit Eichler
VP 19,00 €       ISBN 978-3-937654-46-1   www.mironde.com

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