Reportagen

Werner Klemke im Prellbock

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Am Abend des 17. April zog es eine illustre Schar von Kennern nach Groß-Mützenau an der Zwickauer Mulde. In dieser Stadt wird KULTUR noch groß geschrieben. Hier begegnet man interessanten Menschen. Hier entdecken wir immer neue Dinge. Hier wird nicht versucht, durch Kürzungen am Kultur-Haushalt den Kreis der sächsischen Kommunen zu quadratieren. Hier eröffnet der Bürgermeister die Ausstellung noch selbst.

 

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Bürgermeisters Matthias Lehmann (re.) begrüßte dann auch um 19.00 Uhr mit voller Herzlichkeit den Kunstsammler Matthias Haberzettl aus Augsburg in der Kunst-Halle »Obergräfenhain« zu einer Werk-Ausstellung von Werner Klemke. (Matthias Haberzettl und Matthias Lehmann hatten bereits um 17.00 Uhr gemeinsam mit Pfarrer Gert Flessing in der Lunzenauer Kirche eine Werner-Klemke-Plakat-Ausstellung eröffnet.)

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Matthias Lehmann hält dann eine Laudatio, so wie man es von ihm hier gewohnt ist: »pfüffig, pführend, pfolksverbunden«. Wir sind dennoch erstaunt. Ein Gedanke geht uns durch den Kopf: vor etwa einem Jahr wurde Groß-Mützenau vom Hochwasser so schwer zerstört, dass selbst die Familie Lehmann für einen Moment nicht an Wiederaufbau zu denken vermochte. Man kann nicht hoch genug schätzen, was die Familie Lehmann und ihre Freunde nach dem Hochwasser leisteten. Aber schon sind wir wieder mitten in der Bürgermeisterrede. Zum Abschluss der Laudatio erhält Matthias Haberzettl aus den Händen des Laudators eine Plastik – ein kleines Böckchen – das Symbol der Gaststätte »Zum Prellbock«, in dem die Stadt Groß-Mützenau untergebracht ist.

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Hier beschleicht uns ein Verdacht. Ist der Laudator am Ende gar nicht Matthias Lehmann sondern der bekannte Dichter Nebel? Er soll Matthias Lehmann ähneln wie ein Zwillingsbruder. Aber bisher kennen wir leider kein Pressefoto von Dichter Nebel.

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Endlich darf das Publikum die Ausstellung besichtigen.

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Nach dem Trubel des Nachmittages und Abends klingt die Eröffnung gemächlich aus. In der Gaststube des »Prellbocks« geht es gemütlich zu. Matthias Lehmann zeigt seinen Gästen zum Abschluss eine Kleinplastik zum Thema Hochwasser …

Kommentar
Es ist immer wieder erstaunlich, welches kulturelle Niveau die kleine Gaststätte »Zum Prellbock« zum Maßstab setzt. Während viele öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen das Niveau senken zu müssen glauben, um die Quoten-Erwartungen im »Ranking« zu erfüllen, arbeitet die Familie Lehmann beständig im Weinberg des Herrn. Ohne solche Leistungen und solches Niveau wäre wahrscheinlich auch mancher berühmte Sammler nicht bereit, den Weg ins sächsische Lunzenau anzutreten. Dem Kunstkenner und Buchliebhaber Matthias Haberzettl sei gedankt, dass er dem Publikum einen Teil seiner Klemke-Sammlung zeigt. (Aus Platzgründen musste er sich beschränken.) Es ist erst die vierte Ausstellung dieser Sammlung. Nach Dresden ist Lunzenau der zweite Ort in Ostdeutschland, in dem der Titan der Buchgestaltung Werner Klemke mit einer Ausstellung geehrt wird.
Johannes Eichenthal

Information
www.prellbock-bahnart.de

Im Anschluss geben wir den Entwurf der Eröffnungsansprache von Matthias Haberzettl in der Kirche Lunzenau wieder, die er für beide Ausstellungen hielt.

Sehr geehrter Hausherr, lieber Herr Pfarrer Flessing, liebe Frau Flessing,
sehr geehrter Organisator, lieber Matthias Lehmann, liebe Frau Lehmann,
meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Klemke-Freunde,

wir möchten heute eine Ausstellung über WERNER KLEMKE eröffnen – eine zweigeteilte Ausstellung. Hier, in der Kirche Sankt Jakobus, sehen Sie eine kleine Auswahl aus dem Plakatschaffen des Berliners – ein Gebiet, vielleicht nicht ganz so populär wie seine Buchillustrationen oder sein »MAGAZIN-Kater«, aber um nichts weniger reichhaltig und eindrucksvoll – und ebenso wie die Arbeit für das Buch voller künstlerischer Höhepunkte. Und im »Prellbock« werden Sie dann anschließend einige von Klemkes Büchern und weitere Grafik sehen.
Zunächst möchte ich aber einiges Allgemeines zu Leben und Werk sagen. Professor Horst Kunze beginnt eine »Kurzbiographie« Klemkes in seiner letzten großen Bibliographie, 1999 vollendet, mit den folgenden Absätzen:
»Geboren am 12. März 1917 in Berlin-Weißensee als Sohn eines Möbeltischlers. Vater von vier Kindern. Besuch des Köllnischen Gymnasiums in Berlin 1929–1936. […] Nach Abitur Berufssuche: Trickfilmzeichner 1937–1939.
Soldat im Zweiten Weltkrieg 1939–1946, einschließlich Internierung. Erste lithographische Drucke 1945. Rückkehr nach Berlin. Erneute Berufssuche 1946: Trickfilmzeichner, Graphik-Selbstlerner, beginnend mit kleinen Arbeiten: Buchumschläge, Einbände, Zeichnungen in Zeitschriften und Zeitungen ab 1949 sich häufend. Erstes großes Illustrationswerk in Holzstich: Georg Weerth, Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben, 1949. Dozentur für Holzstich an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee 1951. Steiler Aufstieg als vielseitiger Gebrauchsgraphiker, bereits um 1952 illustrative Meisterwerke.«
In diesen Jahren werden auch die fünf Kinder des Ehepaares Werner Klemke und Gertrud Klemke-Stremlau, diese selbst künstlerisch tätig, geboren. 1943 kam Gabriele zur Welt, die jedoch schon sechsjährig kurz nach dem Krieg verstarb. Sabine wurde am 22. Oktober 1947 geboren, Christian am 10. Oktober 1949, Christine am 28. November 1951, und Ulrike am 21. Juli 1953. Alle drei Töchter wurden an der Weißenseer Kunsthochschule ausgebildet; Christine und Ulrike arbeiteten ebenfalls als Zeichnerin und Illustratorin; zu DDR-Zeiten vorwiegend für Kinderzeitungen (FRÖSI, ABC-Zeitung, Bummi) und Kinderbücher (»Naseweis …«); Christine betreibt jetzt noch das »Atelier Werner Klemke« in der elterlichen Wohnung in der Tassostraße und gibt u.a. Malkurse für Kinder und Erwachsene. Und auch Sabine, jetzt in Israel wohnhaft, arbeitet nach wie vor als Malerin.
Die Zeitspanne, in der Werner Klemke in der breiten Öffentlichkeit wirkte, deckt sich aufs Jahr genau mit der Existenz der DDR: von 1949 bis 1990. Und in der Hauptsache war er als Buchillustrator und Buchgestalter tätig – aber nicht nur:
»Neben der Arbeit für das Buch habe ich immer vieles andere getan. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres, als sich zu spezialisieren. Ich habe viel für die Presse gezeichnet, Plakate gemacht, Prospekte, Typographien, Ausstellungstafeln, habe Schrift gezeichnet, Bühnenbilder und Kostüme entworfen und immer wieder – bloß so und für mich – gezeichnet, gemalt und herumprobiert.« – »Ich mag die Vielfalt und mag auch bloß für mich mal herumprobieren. Beim Bühnenbild muss ich mich mit dem Raum auseinandersetzen, bei der Briefmarke mit einer ganz kleinen Fläche. Aber alles brachte mir für die Buchgrafik neue Ideen.«

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Nun habe ich ja hier in Lunzenau wieder mal ein »Heimspiel«. Zur Erläuterung: das ist jetzt meine vierte Ausstellung mit Werken Werner Klemkes die erste war 2007 in Dresden – also »zu Hause«, aus Klemkes Sicht. Dann folgten zwei »Auswärtsspiele«, in den alten Bundesländern – einmal in Bergisch Gladbach (nahe Köln), und dann in Immenstadt im Allgäu. Und da musste ich schon ein bisschen mehr zu diesem Künstler sagen …
Aber in der ehemaligen DDR, vor zwanzig, dreißig Jahren, war Werner Klemke buchstäblich für jeden ein Begriff. Jedermann, jede Frau und jedes Kind kannte ihn. Ich darf sogar noch eins draufsetzen: auch viele Ungeborene machten schon (zumindest indirekt) seine Bekanntschaft, denn da gab es zum Beispiel ein von ihm illustriertes Ratgeber-Buch über Empfängnis (und auch deren Verhütung): »Wir wünschen uns ein Baby«. In einer kleinen Reihe gefolgt von den Titeln »Wir erwarten ein Baby«, »Wir haben ein Baby« und »Ich will stillen«.
Die Vorschulkinder besahen sich dann seine Bilderbücher – etwa die vom Lektor des Kinderbuchverlages Fred Rodrian verfassten »Hirsch Heinrich«, »Schwalbenchristine« und »Wolkenschaf«, die auch heute noch oft jährlich Neuauflagen erleben. Übertroffen nur noch von den großartigen »Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm«.

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Die Schulkinder lernten dann lesen und schreiben mit Klemkes »Fibel«, lernten mit seinen Bildern Musik, Mathematik und Russisch (einige Beispiele sind dann im Bahnhof zu sehen). Und wenn sie dann größer wurden, blätterten sie im MAGAZIN – zunächst vielleicht noch wegen des »Staats-Nackedeis«, wie das allmonatliche Aktbild auch genannt wurde –, dann aber auch wegen des Titelbildes, das Klemke vom Januar 1955 bis zum Februar 1990 zeichnete. Eine ununterbrochene Folge von 422 Titeln – auch das wohl ein Weltrekord der besonderen Art, in einer Auflage von über einer halben Million, und wohl stets von mehreren Millionen betrachtet und gelesen. Und es war eine Art Volkssport in der DDR, den stets in diesem MAGAZIN-Titelbild versteckten schwarzen Kater zu entdecken; daher rührte Klemkes Ehrenname »Kater-Vater«.
Und wenn die Kinder und Jugendlichen dann Erwachsene geworden waren, trafen sie wieder auf Klemke-Bücher in überreicher Anzahl. Quer durch die Weltliteratur, wie auch die DDR-, Ostblock- und sonstige zeitgenössische Literatur gab es von ihm illustrierte Bücher. In dem von 1954 an bis zur Wende alljährlich in Leipzig veranstalteten Wettbewerb um die »Schönsten Bücher der DDR« (einen gleichnamigen Wettbewerb gab es ja auch im Westen; und gibt es immer noch im vereinigten Deutschland) wurden insgesamt 76 von Klemke (mit-) gestaltete Werke als »Schönstes Buch« ausgezeichnet; dazu kommen noch 10 »Lobende Erwähnungen«, 6 »Schönste Schutzumschläge« sowie 1 »Schönste Schallplatte«. Wenn wir dann noch ein »Schönstes Buch – BRD« (1963) hinzurechnen, ergibt das eine Bilanz von 94 Auszeichnungen, die von Niemandem in der DDR (und wohl genauso wenig in der alten Bundesrepublik bzw. in den »vereinigten« Bundesländern) übertroffen wird. Das herausragende Jahr in dieser Hinsicht war übrigens 1965 mit sage und schreibe 11 »Schönsten Büchern« (in einem Jahr!) – darunter unvergessene Highlights wie »Fredmans Episteln« von Carl Michael Bellman, »Felix Krull« von Thomas Mann, Munro Leafs »Ferdinand der Stier« oder Franz Fühmanns »Reineke Fuchs«. Auch von diesen Werken höchster Klemkescher Illustrationskunst sind Beispiele in unserer Ausstellung zu sehen – später dann im »Prellbock«.

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Als Spitzenleistung überhaupt kann wohl Das Dekameron von Boccaccio gelten, 1958 in zwei Bänden erschienen, geschmückt mit 105 Holzstichen, und mit der Typographie ebenfalls von Werner Klemke. Natürlich war es auch »Schönstes Buch der DDR«; erhielt dazu 1965 eine Goldmedaille auf der Internationalen Buchkunst-Ausstellung in Leipzig. Schon davor (1964) wurde Das Dekameron von einer internationalen Jury als der (eine) Beitrag der DDR für die »Typomundus 20« ausgewählt – eine internationalen Ausstellung zu den bedeutungsvollsten Leistungen der Typografie des 20. Jahrhunderts, die zunächst im Oktober 1964 anlässlich der Weltausstellung in New York, und später in anderen wichtigen Städten der Welt gezeigt werden sollte. (Im Vorfeld hatte übrigens die Jury vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler in Leipzig 22 Bücher als Beitrag der DDR benannt – von diesen 22 Büchern waren mehr als ein Viertel, nämlich 6 von Klemke gestaltet, davon 4 illustriert.) Noch einmal zum Dekameron: 1975 verlieh ihm die italienische Stadt Certaldo, der Geburts- und Sterbeort von Giovanni Boccaccio, für diese Illustrationen die Ehrenbürgerwürde.
Klemke-Illustrationen »kamen also an«, und die Verlage bemühten sich um seine Mitarbeit, um die Verkaufszahlen zu steigern (ja: auch in der DDR, im Land der Planwirtschaft und der Papierzuteilung gab es das Streben nach hohen Auflagen, nach ökonomischem Erfolg). Der ehemalige künstlerische Leiter des Berliner Verlags der Nation, Hans-Joachim Schauß, schrieb mir dazu einmal in einem Brief (2006): »So war es damals: nicht leicht zu verkaufende Lyrik ließ man von W.K. illustrieren – und so lief der Verkauf gut oder auch sehr gut.« (Angesprochen war hier speziell der 1965 erschienene Gedichtband »Wolken« von Günther Deicke.) Natürlich war da auch etliches Mittelmaß, viel »Auftragsarbeit« darunter; wir sprechen ja auch von einer ungeheuren Vielzahl von Büchern: nahezu 300 illustrierte Werke mit über 10.000 Illustrationen; und weitere etwa 550 gestaltete Bücher jeweils mit Umschlag und/oder Einband. Aber halten wir fest: Klemke ragt heraus – in Quantität wie in Qualität!

 

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Wie man es neben dem Dekameron auch in vielen anderen Werken sieht (und nicht zuletzt auf der Einladungskarte zu unserer Ausstellung): Werner Klemke war ein bekennender Liebhaber der weiblichen Schönheit. Und wenn ich »bekennend« sage, dann meine ich das auch so: es gibt eine Vielzahl einschlägiger Zitate von ihm. Besonders schön finde ich folgendes:
Zum 70. Geburtstag seines großen Kollegen, des Berliner Künstlers Arno Mohr schrieb er in einem Beitrag 1980 im MAGAZIN:
Ȇbrigens Рwenn mich Meyers Lexikon recht unterrichtet Рwird Arno Mohr im Juli 70 Jahre alt.
Einmal habe ich ihn gefragt: ,,Sag mal, wenn ich dir auftragen würde, male das Schönste, was du dir vorstellen kannst. Was würdest du machen?«
Er antwortete ohne Zögern: »Einen alten Mann! In dessen Gesicht, seinen Händen, seiner Haltung sich die Erfahrungen eines ganzen Lebens verkörpern.«
Da hab’ ich mich doch geniert. Mir, bei einer solchen Aufforderung, wäre immer nur eins eingefallen: ein – allerdings weiblicher – Akt.«
Bei dieser Vorliebe für die holde Weiblichkeit (am liebsten ausgezogen) nimmt es auch nicht wunder, dass er einmal bei einer Umfrage der Frauen- und Familienzeitschrift FÜR DICH nach den Lieblingsfreizeitbeschäftigungen der Interviewten wie folgt antwortete: »Meine liebste Freizeitbeschäftigung ist die Herstellung von und die Beschäftigung mit Kindern. Die ganze Sache ist erfreulich, anstrengend, abwechslungsreich, voll von Überraschungen und erhält jung und schick.« Werner Klemke – ein Meister der leichten Feder und der leichten Zunge.

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Aber lassen wir uns nicht täuschen: hinter all’ dem steckte harte Arbeit! Nachdem ich versuche, »meinen Klemke« vollständig zu sammeln, und somit den Überblick über sein Werk stets körperlich vor Augen habe, kann ich nur sagen: dieser Mann hat den 25-Stunden-Tag erfunden! Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Nur ein paar (ganz wenige – versprochen) … ein paar Zahlen dazu: weit über 10.000 Buchillustrationen, davon allein etwa 1.000 Holzstiche. Und aus einem Filmausschnitt, der Klemke beim Stechen zeigt, weiß ich – und wissen die Kenner unter Ihnen sicher auch – wie viel mühevolle und langwierige Arbeit in nur einem einzigen Holzstich steckt. Dazu über 300 Plakate – »Drei Jahre zeichnete ich jede Woche Plakate für Kinder- und Jugendvorstellungen« – so Klemke über seine Tätigkeit Anfang der fünfziger Jahre. Desweiteren seine Illustrationen zu Programmheften; Horst Kunze nannte es (1999) »das für Werner Klemke charakteristische Sondergebiet gestalteter Theaterprogramme, in denen seine zeichnerische Kunst besonders zur Geltung kommt«. Hier schmückte er insgesamt über 70 Hefte (in der überwiegenden Mehrzahl für das Theater) mit über 500 Illustrationen. Noch nicht genannt die weit über 1.000 Illustrationen, davon knapp 700 Titelgestaltungen, für siebzehn Zeitschriften – jede mehr oder weniger auflagenstark.
Man würde Klemke heutzutage wohl einen Workaholic nennen; und er war das seit jungen Jahren, wie er 1963 in der Einleitung für eine kleine Veröffentlichung seiner grafischen Arbeiten formulierte:
» Als ich die Schule hinter mir hatte (das war 1937 – er machte also mit 20 Jahren sein Abitur), wollte ich Zeichenlehrer werden. Da man mir aber kein Stipendium zubilligte, wurde ich Trickfilmzeichner. Nun lernte ich, wie man regelmäßig und viel arbeitet. Es war sehr anstrengend, aber lehrreich.«
Und er beschließt den Beitrag wie folgt:
»Neben der Arbeit für das Buch habe ich immer vieles andere getan. Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres, als sich zu spezialisieren. Ich habe viel für die Presse gezeichnet, Plakate gemacht, Prospekte, Typographien, Ausstellungstafeln, habe Schrift gezeichnet, Bühnenbilder und Kostüme entworfen und immer wieder – bloß so und für mich – gezeichnet, gemalt und herumprobiert.
Ich liebe meinen Beruf sehr, und meine Kinder beneiden mich um ihn. Unsere Tini sagte: »Du hast es gut, du kriegst immer bloß was zum Malen auf, nie was zum Rechnen!«
Er bezieht sich hier selbst auf seine (vier) Kinder; man muss nämlich noch erwähnen, dass sich seine Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes inmitten der Familie abspielte, und gerade bei »Kinderthemen« (Kinderbücher, aber auch etwa Plakate zu Kinderfilmen) waren seine Kinder nicht nur seine ersten Kritiker, sondern oft auch Inspiration:
»Ich zeichne sehr gerne für Kinder. Wir haben selbst vier zu Haus, die nun so langsam erwachsen werden. Sie haben meine zeichnerischen Fähigkeiten und meine Zeit immer sehr in Anspruch genommen. Ich mußte ihnen zeichnen, was sie sich vorstellten, und auch das, was sie sich nicht vorstellen konnten. Dafür lernte ich bei ihnen, indem ich ihnen beim Malen zusah, wie man sich einfach und klar mit künstlerischen Mitteln ausdrücken kann. Ich lernte auch, daß sie imstande sind, ungewohnte, weil neue künstlerische Ausdrucksmittel aufzunehmen und zu verstehen. Leichter als Erwachsene, die in schon vorgeprägten Vorstellungsformen befangen sind.«

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Das war auch der Grund, hier unter den Plakaten eine Radierung mit aufzunehmen, die nicht von Werner Klemke ist – sondern von seiner Tochter Sabine – Sie sehen Sie dort drüben. Das Blatt ist ca. 1980 entstanden und trägt den Titel »Verachtet mir die Meister nicht …«. Der Meister, Sabines Vater, sitzt am Arbeitstisch – Muttern tischt die Suppe auf – und vier Kinder sind mit den verschiedensten Dingen am Boden beschäftigt. Hund und Katz’ vervollständigen das »Chaos«. Meiner ersten Vermutung, dass die Tochter hier eine Szene aus ihrer Kindheit darstellt, und es sich bei den Abgebildeten um Klemkes vier Kinder handelt (drei Töchter, ein Sohn – hätte gepasst), widersprach Sabines Mann Chaim Noll (früher Hans Noll – übrigens der Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, dessen Abenteuer des Werner Holt über lange Jahre zur Pflichtlektüre in der Schule zählte.):
»Die dargestellten Kinder sind übrigens vier Enkelkinder, die oft bei Gertrud und Werner in der Wohnung waren, da sie in der Nähe lebten, die Töchter von Christine Klemke, Friederike und Karoline (blond, am Fernseher) und unsere Kinder Sophie und Benjamin. Das Ambiente ist ziemlich authentisch. Klemke wohnte in einer 10-Zimmer-Wohnung und hatte zwei weitere Ateliers außer Haus (eins im selben Gebäude parterre, eins in der Weißenseer Bizet-Straße, etwa zehn Minuten Fußweg), arbeitete jedoch meist in einem Durchgangszimmer neben der Küche in der Wohnung, um »mitten im Trubel« zu sein – eine Seltsamkeit, über die sich viele gewundert haben.«
Neben dieser Radierung, dieser »Familien-Momentaufnahme«, hängen hier in der Kirche also einige Plakate, die ich aus Klemkes vielen Arbeiten ausgewählt habe. Dieses spezielle »Teilwerk« umfasst insgesamt 310 Plakate; thematisch lassen sich diese wie folgt unterteilen:
184 Filmplakate, also weit mehr als die Hälfte, entstanden im Wesentlichen bis 1965, mit drei Ausnahmen (je ein Plakat in 1971, 1975, 1979). Mitte bzw. Ende der fünfziger Jahre war das ein echter Brotberuf: aus dem Jahre 1957 z.B. sind mir 40 Plakate bekannt – auch dies ein Beweis für die immense Schaffenskraft Klemkes: Vierzig veröffentlichte Plakate in einem Jahr, also nahezu eines in jeder Woche – und dies neben 10 illustrierten und weiteren 40 Büchern oder Ausstellungskatalogen in jenem Jahr mit Umschlag- bzw. Einbandgestaltung, neben dem monatlichen »Magazin«-Titelbild, und weiteren Arbeiten für Programmhefte, Zeitungen usw. usf.
59 Plakate wurden für Ausstellungen oder sonstige Veranstaltungen entworfen; 52 Plakate für Theater, Oper oder Kabarett. Weitere 9 Entwürfe lassen sich als Werbeplakate bezeichnen; die restlichen 6 Plakate haben ein politisches bzw. propagandistisches Thema – diese datieren allesamt in den fünfziger Jahren.
Für mich ragt hier, bei den Plakaten, der Hauptmann von Köpenick (1957) heraus: schwarz-weiß-rot quergeteilt, die drei Farben der ehemaligen deutschen Reichsflagge, und vor diesem Hintergrund Heinz Rühmann in den drei charakteristischen Kleidungsstücken »Uniform«, »Sträflingsjacke« und »Zivilanzug« – der Hauptmann, der Zuchthäusler und der Schuster Wilhelm Vogt. Eine geniale grafische Umsetzung des Filminhalts, wie sie wohl nur wenigen gelingt.
Vielfältig sind die Ehrungen und Auszeichnungen, die Werner Klemke für sein (in erster Linie) buchkünstlerisches Werk erhielt: Kinderbuchpreis des Ministeriums für Kultur der DDR 1957. Gutenberg-Preis der Stadt Leipzig 1962. Silbermedaille »Schönste Bücher aus aller Welt« 1964 (für die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm). Zwei Goldmedaillen, eine Bronzemedaille auf der IBA Leipzig 1965 (u.a. für das »Dekameron«). Auszeichnung »Schönste Bücher aus aller Welt« 1966 (für Munro Leaf »Ferdinand der Stier«). »Goldener Apfel« der Biennale der Illustrationen Bratislava (BIB) 1967 (ebenfalls für Ferdinand). Goldmedaille IBA Leipzig 1971 (erneut für Ferdinand). Ehrenmitglied der Akademie der Künste der UdSSR 1973. Ehrenbürger der italienischen Stadt Certaldo 1975. Dreifacher Nationalpreisträger der Deutschen Demokratischen Republik 1962, 1969, 1977. Johannes-R.-Becher-Medaille in Gold 1977. Vaterländischer Verdienstorden in Gold 1982.
Was bisher noch gar nicht erwähnt wurde, ist seine Lehrtätigkeit an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee – neben der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst das zweite Zentrum der grafischen Künste in der DDR. Als Autodidakt wurde er 1951 Dozent für Holzstich und Buchillustration an der »Hochschule für bildende und angewandte Kunst«, und nur 5 Jahre später, 1956 zum Professor für Buchgrafik und Typografie ernannt. Und zum anderen seine Verwaltungstätigkeit ab 1964 als Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste in (Ost-) Berlin. Diese Tätigkeit übte er zunächst 10 Jahre lang aus, bis 1974, und nach einer Unterbrechung noch einmal 11 Jahre lang, 1978 bis 1989 … seine Aufgaben gingen dann doch weit über »bloß was zum Malen« hinaus.
Zu seinem siebzigsten Geburtstag im Jahre 1987 veranstaltete die Akademie der Künste eine große Retrospektive. Aber schon ein Jahr später, 1988, nach einem zweiten Schlaganfall (der erste war 1986), versagten allmählich Hand und Augen ihren Dienst; darüber hinaus starb ebenfalls 1988 seine Frau Gertrud. Um 1989 herum wurden seine letzten Arbeiten veröffentlicht. Zufall? – die Zeitspanne seiner künstlerischen (er selbst würde sagen: gebrauchsgrafischen) Tätigkeit von den ersten Veröffentlichungen ab 1949 deckt sich in erstaunlicher Weise mit den Daten der Existenz des Staates DDR – 1949 bis 1989 –, dessen hervorragendster Repräsentant er war – auf dem Gebiet der Buchkunst, der Buchgestaltung und vieler angrenzender Gebieten.

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Werner Klemke starb im August 1994 – krank und müde. Seinen künstlerischen Nachlass vermachte er noch kurz vor seinem Tod dem Klingspor-Museum in Offenbach, dank der Bemühungen des damaligen Direktors, Christian Scheffler. In Berlin, seiner Heimat, war keine Institution dazu bereit – weder die Staatsbibliothek Unter den Linden, die ihn einst zum »Ehrenleser« ernannt hatte, mit zeitlich und räumlich unbeschränktem Zugang – noch die Akademie der Künste, der er viele Jahre lang seine Zeit als Sekretär der Sektion Bildende Kunst geopfert hatte.
Irrsinn der Nachwendezeit!
Was bleibt nun von ihm in der heutigen Zeit – 18 Jahre nach seinem Tod? Für die Kenner und Buchliebhaber sicher einige der genannten Spitzenleistungen, wie das schon oft erwähnte Dekameron. Für die breite Masse sind es wohl die Kinderbücher, die in immer wieder neuen Auflagen erscheinen, manchmal in jährlichem Rhythmus: die Grimmschen Märchen ebenso wie die bereits genannten Rodrian-Bücher (»Wolkenschaf«, »Schwalbenchristine« oder »Hirsch Heinrich«). Und erstaunlicherweise gilt dies auch für ein recht entferntes Land: in Japan sind seit 1985 sechs seiner Kinderbücher neu herausgebracht worden (davon allein drei in den letzten vier Jahren); es scheint dort eine große Lesergemeinde zu geben!

Und auch erst in den letzten Jahren tritt eine ganz erstaunliche Geschichte mehr und mehr zu Tage, die während der Jahre des Zweiten Weltkriegs stattfand.
Es ist eine phantastische Geschichte von der aktiven Mitarbeit zweier deutscher Wehrmachtsoldaten im holländischen Widerstand (Werner Klemke war von 1942 bis 1945 im besetzten Holland stationiert).
Im Sommer 2011 entdeckte die holländische Dokumentarfilmerin Annet Betsalel in der Synagoge ihrer Heimatstadt Bussum (20 km östlich von Amsterdam) das »vergessene« Archiv der Jüdischen Gemeinde. Mit diesen Dokumenten konnte die Unterstützung belegt werden, die Klemke und sein Wehrmachtskamerad Johannes Gerhardt vielen von der Deportation bedrohten Menschen leisteten – durch das Fälschen von Papieren (Abstammungsunterlagen, Lebensmittelkarten). Die Enkelin eines der Geretteten spricht von etwa 80 Personen, die diesem »Netzwerk«, von dem Klemke und Gerhardt ein Teil waren, ihr Leben verdankten. Sensationell, nicht wahr?!
Es gibt von diesem Filmprojekt inzwischen einen kurzen Filmtrailer, der dort hinten auf einem Notebook zu sehen ist – schauen Sie gern mal rein. Das ganze Projekt wurde bisher von der Initiatorin vorfinanziert; zur Fertigstellung des Films werden noch Gelder benötigt. Wenn Sie etwas dazu beitragen möchten – Sie sind herzlich willkommen. Auch der kleinste Betrag hilft. Es gibt auch dort hinten ein Merkblatt mit der Kontoverbindung der Pirckheimer-Gesellschaft, die dieses Projekt ebenfalls unterstützt; Sie können mir Ihre Gabe aber auch gern in bar anvertrauen, und ich werde es dann gesammelt weiterleiten.

Nun – ich hoffe, ich konnte Ihnen den Menschen (und Menschenfreund!) und Künstler Werner Klemke etwas näherbringen – der schöne Bücher liebte und schöne Frauen (und Kinder). Um ihn in dieser Beziehung ein letztes Mal selbst zu Wort kommen zu lassen:
»Es ist mit den Büchern wie mit den Frauen. Im Prinzip gleich, sind sie doch bei genauerem Hinsehen von erstaunlicher Vielfalt. Und immer wieder neu. Und immer wieder anders.«
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und viele schöne Entdeckungen beim Rundgang in den beiden Ausstellungen.

Matthias Haberzettl

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