Reportagen

Lenz im »Stadt Wien«

Der Freundeskreis Gert Hofmann hatte am 29. April 2014 in die Gaststätte Stadt Wien zu einer Lesung und einer Graphik-Ausstellung eingeladen. Stadt Wien ist der letzte authentische Erinnerungsort an den im sächsischen Limbach geborenen Dichter Gert Hofmann (1931–1993). Andreas Eichler, der Sprecher des Freundeskreises, erinnert zunächst daran, dass im April 2011 am gleichen Ort der Maler, Graphiker und Musiker Wolfgang E. Herbst (Silesius) einige Kapitel aus der Novelle Gert Hofmanns »Die Rückkehr des verlorenen M. J. R. Lenz nach Riga« las. Silesius ist auch der Schöpfer der kongenialen Graphiken zu Hofmanns Novelle, die im Mironde-Verlag zu Ehren des 80. Geburtstages des Autors 2011 neu herausgegeben wurde. Leider, so Eichler, hinderten gesundheitliche Gründe den Meister an der Teilnahme der heutigen Veranstaltung. Doch zu Silesius Ehren präsentiert der Freundeskreis an diesem einem Abend eine Ausstellung der Originalgraphiken zum Buch.
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Siegfried Arlt, der Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, ist dem Freundeskreis Gert Hofmann bereits durch mehrere Lesungen im »Wien« bekannt. Für diesem Abend hatte er die Lesung der gesamten Novelle »Die Rückkehr des verlorenen J. M. R. Lenz nach Riga« angekündigt. Siegfried Arlt informiert zunächst, dass seine Lesung etwa 110-120 Minuten dauern würde. Die Zuhörer wussten von diesem Vorhaben und hatten die Einladungen, trotz vieler gleichzeitiger »Angebote« der »Unterhaltungsindustrie«, an diesem Abend angenommen.

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Und schon ging es los. Ohne viele Umstände verwandelte sich Siegfried Arlt in den 28jährigen Lenz, der am 23. Juli 1779, nach elfjähriger Abwesenheit, zu seinen Eltern zurückkehrt. Diese Rückkehr zum Vater, der ausgerechnet an diesem Tag zum Generalsuperintendenten von Livland ernannt wird, ist ein faktisches Eingeständnis des Scheiterns des jugendlichen Stürmers und Drängers im »bürgerlichen Leben«.

 

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Gert Hofmann nimmt zunächst das genaue historische Datum der Rückkehr auf, um dann aber einen fiktiven Tag im Leben des jungen Lenz in einer fiktiven Stadt in 12 Kapiteln auf dramatische Weise zu vergegenwärtigen. Der Titel, »Die Rückkehr des verlorenen J.M. R. Lenz …« spielt auf die Heimkehr des verlorenen Sohnes in der biblischen Geschichte an, ohne das Wort »Sohn« zu nennen. Eine zusätzliche Spannung gewinnt die Novelle durch den Seelsorger-Beruf des Vaters.

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Hofmann macht es dem Leser nicht leicht. Die Schwächen des von einer schweren Nervenkrankheit gezeichneten Lenz werden nicht verborgen, im Gegenteil. Ohne Mitleid werden die Schwachpunkte des Dichters in gesteigertem Maße dargestellt. Siegfried Arlt gelingt es meisterhaft, den oft abrupten Wechsel der Lenzschen Gefühle auszudrücken.
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Mit deutlichen Gesten der Unterwerfung versucht der junge Lenz zunächst in grotesker Manier, wie sie in heutigen »Bewerbungspräsentationen« üblich ist, dem Vater eine angeblich erworbene »Normalität« und »Vernünftigkeit« vorzuspielen. Doch er hält diese Art von »Selbstbetrug« nicht durch, begeht immer mehr »Fehler« gegenüber dem Vater. Schließlich gibt er seine Schwäche ehrlich zu, klagt über die vielen misslungenen Versuche eine Anstellung als Lehrer oder Hofmeíster zu erhalten, über die Demütigungen, die ein arbeitsloser Lehrer erfahren muss. In dieser Situation erscheint Lenzens Ehrlichkeit als der größte »Fehler« gegenüber dem strengen Vater.
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Der Vater geht, wie wir es aus anderen Hofmannschen Texten kennen, nicht auf die dialogischen Bemühungen seines Sohnes ein. Er verweigert ihm das Wort und damit die Anerkennung. Streng genommen ist die Novelle ein einziger Monolog des jungen Lenz, nur von wenigen erklärenden Sätzen unterbrochen. Der Monolog gipfelt in dem Ausruf: »Herr Vater, geben Sie mir das Wort zurück!«.
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Eine Steigerung erfährt diese Vater-Darstellung im abendlichen Gottesdienst zur Einführung des neuen Generalsuperintendenten. Der sensible Lenz beobachtet sehr scharf, dass sich der Vater, mit seiner »Donnerstimme«, als der fühlt, »der Himmel und Erde gemacht hat«. Doch dieser im Kern antidemütige Habitus des Vaters, der dem heimgekehrten Sohn das Wort verweigert, widerspricht dem Anspruch eines Geistlichen. Die wirkliche göttliche Liebe besteht darin, den Menschen in seine Selbstständigkeit zu entlassen. So sah das damals der Theologe Johann Gottfried Herder, ein Freund des jungen Lenz.

 

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Am Ende des dramatischen Textes kann der Zuhörer in seinem eigenen Kopf erfahren, dass Lenz, trotz aller seiner Schwächen und seiner Krankheit, die Lebenslügen, falschen Kompromisse und die geschäftige Leere des »bürgerlichen Lebens« vielleicht klarer durchschaut als andere.
Größe definierte Gert Hofmann, wie Henry James, als Denkversessenheit und Wachheit. Und hier wird deutlich, dass Gert Hofmann die Situation des Scheiterns, der Niederlage wählte, um die wahre Größe des jungen Lenz deutlich zu machen.

 

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Nach etwa zwei Stunden beendete Siegfried Arlt seine Lesung. Es war wohl mehr, eher eine Ein-Mann-Theateraufführung mit höchstem schauspielerischen Einsatz.

 

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Der Freundeskreis Gert Hofmann dankte dem Akteur für seine herausragende Leistung mit einem von Birgit Eichler gestaltetem Blumenstrauß.
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Die Zuschauer, die der Lesung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt waren …
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dankten Siegfried Arlt …

 

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mit herzlichem Beifall.
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Dr. Günter Johne, der Gert Hofmann Ende der 1940er Jahre auf der Leipziger Fremdsprachenschule kennen lernte, und der mit seiner Frau extra aus Bonn anreiste, dankte in bewegten Worten für das einmalige künstlerische Ereignis.
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Langsam klang der Abend aus. Die letzten Gäste diskutierten noch bis nach Mitternacht. Dabei ließen wir noch einmal den Abend Revue passieren. Zur Einführung hatte Andreas Eichler, ein promovierter Philosoph, nicht nur an den heute vergessenen Gert Hofmann sondern auch an den vergessenen Michael Jakob Reinhold Lenz erinnert. Dieser sei am 23. Januar 1751 in Seßwegen (Ostpreußen) als Sohn eines Pfarrers geboren worden. Von 1768 an habe er in Dorpat und Königsberg, der Familientradition gemäß, Theologie studiert, das Studium aber abgebrochen und als Hofmeister zweier Adliger eine Frankreich-Reise angetreten. 1771 sei er in Straßburg einem Kreis junger Literaten beigetreten. Gemeinsam mit dem 27jährigen Johann Gottfried Herder und dem 22jährigen Johann Wolfgang Goethe habe der 20jährige Jakob Michael Reinhold Lenz in Straßburg die Bewegung begründet, die man später »Sturm und Drang« nannte. Aus der Einsicht in Verwurzelung von Literatur in der Volkskultur und deren Pointierung im Genie, einem Zusammenhang der Gegensätze, begeisterten sich die jungen Leute für die Erneuerung der deutschen Sprache und Literatur. In einer Zeit, da die deutsche Oberschicht sich noch an die höfische Kultur der niedergehenden Ex-Großmacht Frankreich klammerte, und sich zum großen Teil ausschließlich in Französisch verständigte, stürmten die jungen Leute gegen die manieristische höfischen Kultur an. William Shakespeare war der Held der jungen Männer. Das Theater stand hoch im Kurs. Lenz schrieb nicht nur Grundsätze sondern auch Aufsehen erregende Theaterstücke. Die Begründung einer deutschen Nationalliteratur, als Teil der Weltliteratur, war das unmittelbare Ziel.
Von da an verband Lenz eine besonders enge Freundschaft mit Goethe. Diese gipfelte darin, dass Goethe seinen Freund 1776 nach Weimar holte. Doch Lenz habe sich schon bald aus der höfischen Gesellschaft zurückgezogen. Aufgrund eines bis heute nicht genau geklärten Vorfalls wies der Weimarer Herzog Lenz kurzfristig aus dem Lande. Aufnahme fand Lenz zu nächst bei Goethes Schwester und derem Mann, dem Juristen Schlosser, in Emmendingen im Rheinland. Es folgten rastlose Wanderjahre, auch durch die Schweiz. 1778 traten zeitweise Nervenerkrankungen bei Lenz auf. Bei Pfarrer Oberlin fand Lenz vorübergehend Aufnahme. Freunde bewegten ihn zum Wechsel nach Straßburg. 1779 entschloss sich Lenz zur Rückkehr zum Vater. Doch Jakob Michael Reinhold Lenz fand bei seinem Vater keine dauerhafte Bleibe. Er versuchte erneut als Hofmeister zu arbeiten. 1781 reiste er nach St. Petersburg und Moskau, um dort bei dem Historiker Gerhard Friedrich Müller russische Geschichte zu studieren.
Lenz fand in Moskau Anschluss an den Freimaurerkreis um Nikolai Nowikow (1744–1818). Einer seiner Freunde war Nikolai Karamsin (1766–1826), der später durch seine »Briefe eines russischen Reisenden« bekannt wurde.
Lenz übersetzte die Arbeit von Sergei Plechtschejew »Übersicht des Russischen Reiches nach seiner gegenwärtigen neueingerichteten Verfassung« noch im Erscheinungsjahr 1787 in die deutsche Sprache. Die deutsche Ausgabe erschien noch 1787 im Verlag Hartknoch (Riga/Leipzig).
Lenz bot Hartknoch eine Anthologie aus der neueren russischen Literatur an, die er aber nicht fertigstellte. Lessings »Emilia Galotti« und Shakespeares »Julius Cäsar« erschienen in Moskau in der russischen Übersetzung von Lenz.
In den Strukturen einer Literarischen Gesellschaft in Moskau ist das Werk von Lenz ebenfalls in Erinnerung geblieben. Am 24. Mai 1792 starb Jakob Michael Reinhold Lenz in Moskau, im Alter von 41 Jahren. Trotz der kurzen Zeit, die ihm vergönnt war, hinterließ Lenz ein Werk von großem Gewicht.
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Georg Büchner setzte 1835 (1839 von Karl Gutzkow veröffentlicht) seinem Bruder im Geiste mit der Novelle »Lenz« ein Denkmal. Bekannt ist der erste Satz Büchners: »Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg«.

Nach Darstellung des turbulenten Wanderlebens Lenzens und der rauen Natur schließt Büchner seine Novelle: »Am folgenden Morgen, bei trübem, regnerischem Wetter, traf er in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten. Er tat alles, wie es die anderen taten; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last. –
So lebte er hin …«

Hier, wo Büchner endet, so Eichler, beginnt Gert Hofmann seine Lenz-Novelle.
Auch Gert Hofmann setzte dem großen Jakob Michael Reinhold Lenz ein Denkmal.

Johannes Eichenthal

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Information

Die Gaststätte Stadt Wien ist der authentische Gert-Hofmann-Erinnerungsort in Limbach-Oberfrohna www.stadtwien.de

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Gert Hofmann: Die Rückkehr des verlorenen M. J. R. Lenz nach Riga.
Mit Illustrationen von Wolfgang E. Herbst (Silesius). Mironde-Verlag 2011.
ISBN 978393765441447
www.mironde.com

 

One thought on “Lenz im »Stadt Wien«

  1. Ich habe ein Manuskript gefunden – offensichtlich von Gert Hofmann – mit dem Titel
    „Morgen ist schließlich ein neuer Tag“. Ist dieser (szenische) Text veröffentlich?

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