Reportagen

Meine Reise nach Polen

Wir veröffentlichen an dieser Stelle eine Reportage von Utz Rachowski über seinen Aufenthalt im Mai und Juni 2014 in Polen und seine Reisen durch dieses Land. Utz Rachowski wurde für seinen Gedichtband »Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!« (Mironde Verlag 2013) der diesjährige NIKOLAUS-LENAU-PREIS zugesprochen, den er am 5. Oktober im Rathaus von Esslingen am Neckar zusammen mit Bodo Heimann entgegennehmen wird.
Johannes Eichenthal

 

Meine Reise nach Polen

Von Utz Rachowski

Den zweimonatigen Aufenthalt hatte ich im Vorfeld sehr gut vorbereitet, und meine Erwartungen wurden übertroffen. Das Edith-Stein-Haus, wo ich im Mai und Juni mit einem Stipendium der Sächsischen Kulturstiftung lebte, ist im Erdgeschoss eher ein Museum. Anwesend daher eine Museumsleitung, die auch mich betreute. Weiterhin anwesend vier Studenten, Praktikanten, die im Rahmen der Edith-Stein-Stiftung vor Ort und in anderen Städten tätig sind.
Die Wohnung für mich großzügig, aber einfach eingerichtet. Keine Küche in der Wohnung (Gemeinschaftsküche mit den Studenten, kein Problem, mehrere Leute der insgesamt fünf teilen sich einen Kühlschrank, für mich kein Problem). Eigene Dusche und Toilette in der Wohnung. Deren Lage nach hinten zu einem kleinen Hof mit Sitzbank, dort angenehm, nicht zur Straße, Straßenbahnlärm relativ gering. Ab neun Uhr Schulbetrieb im angrenzenden Haus, nicht für jeden Autor günstig, er muss flexibel in seiner Arbeitszeit sein.

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Menschliches Klima im Haus besonders nett! Jede Bitte wurde schnellstmöglich erfüllt, ich bat z.B. um einen größeren und höheren Arbeitstisch. Für Autoren, die einen legeren Lebensstil haben, ist das Haus sehr gut geeignet.
Lage des Hauses etwas abseits vom Zentrum, zwanzig Minuten zu Fuß bis zur berühmten »Sandinsel« mit Dom. Restaurants in der Nähe keine, auch keine Kneipen, das spart Geld. Sehr gute Lebensmittelgeschäfte in unmittelbarer Nähe. Auch Gemüsegeschäfte.
Bahnhof mit Tram ca. 25 min. entfernt. Die Gegend gilt abends als nicht besonders sicher, ein belebtes Viertel mit eher ärmeren Menschen. Ich sah auch eine Massenschlägerei mit 40 Beteiligten.
Meine Aktivitäten: Gut vorbereitet hatte ich bereits zwei Lesungen an den Universitäten Lodz und Wroclaw, diese im Mai gleich zum Anfang. Ich hatte das Stipendium ja eher als Recherche-Auftrag beantragt, durch viele Touren im Land, ist die Summe eher knapp bemessen gewesen, selbst in Polen (Fahrkarten Übernachtungen, Verpflegung auf den Reisen). Zwei weitere Lesungen in Wroclaw, eine im Edith-Stein-Haus selbst mit Lesung und anschließendem Dokumentarfilm »jeder schweigt von etwas anderem« über meine Familie (ZDF 2006). Die andere unmittelbar am Rathaus in der Deutschen Bibliothek, die das Willy-Brandt-Zentrum, die Univ. Wroclaw und das DAAD organisierte. Alle Lesungen in allen Städten ohne Honorar, natürlich.
Beste Beziehungen zur Universität Wroclaw und zum dortigen Willy-Brandt-Zentrum entwickelt. Ebenso zum deutschen Konsulat und zur Vertretung Sachsens in Breslau.

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Foto: Gedenken an den schlesischen Dichter Angelus Silesius (Johannes Scheffler)

 

Ebenso zu der angesehenen Zeitschrift ODRA am Rynek. Durch ein Interview, das deutsch in »Silesia Nowa« und polnisch in ODRA erscheinen wird (September 2014), über die deutsch-polnischen Beziehungen von Intellektuellen und Schriftstellern, wurde ich vorgeschlagen vom Willy-Brandt-Zentrum für die »Dankbarkeits-Medaille der Solidarnosc«. Ich kenne Polen seit meinem 19. Lebensjahr und war in den schwierigen Zeiten der 1980er Jahre an seiner Seite: Einziger deutscher Autor, der unter Kriegzustand nach Polen reinfuhr 1982, um Manuskripte und Infos rauszuholen über internierte Kollegen. In Westberlin war ich Redaktionsmitglied der polnischen Exilzeitschrift »Archipelag« (den Chefredakteur von damals traf ich in Breslau wieder.) Deshalb die Medaille, die, wie ich erreichen konnte, neben mir auch an Reiner Kunze, Wolf Biermann und posthum an Jürgen Fuchs übergeben werden wird (voraussichtlich im Mai 2015) in Wroclaw.
Weiterer Coup: Ich übergab etwas illegal und ohne deutsche Rückversicherung 50 Seiten Aktenmaterial der BStU an die IPN-Forschungsabteilung in Wroclaw (die dortige »Stasi«-Auflösungsbehörde, d.h. UB/SB-Unterlagenbehörde). Ich habe selbst eine polnische Akte aus den 1970ern und 1980ern, die jetzt landesweit in den nächsten vier Monaten gesucht werden wird. Meine Besuche an den zwei Orten der IPN in der Stadt benötigten mehrere Tage.
Das Aktenmaterial werten die Polen als Sensation! Es betrifft einen Hungerstreik im Gefängnis Cottbus von 350 Häftlingen (von 1200) im Dezember 1981 aus Solidarität mit Solidarnosc. In Deutschland lag es jahrelang herum in der Behörde. Es wird wissenschaftlich aufgearbeitet werden und dann den deutschen Behörden übergeben. Am 17. Juli 2014 gab es in der »Gazeta Wyborcza« auf der ersten Seite der Zeitschrift einen langen Bericht darüber, Zitat (Schnell-Übersetzung):
»Bartoszewski und Frasyniuk: Unglaublich!
– Es ist unglaublich – sagt Vladislav Frasyniuk, der legendäre Führer der »Solidarität«. – Während des Kriegsrechts, war ich nicht in der Lage, mir vorzustellen, dass in der DDR jemand für uns eintrat – sagte er. Von Ost-Deutschland aus waren die Menschen der »Solidarität« als ein feindliches Land anerkannt. Wenn ich ihm berichtete, über die Details des Streiks in Cottbus, sagt er: Unglaublich.« Bartoszewski wartet nun auf die Namen, die nicht freigegeben werden von der deutschen BStU.
Weitere Aktivitäten: Gespräche mit drei Übersetzern, zwei meiner Bücher, der Gedichtband »Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!« werden von den beiden berühmten Übersetzern Marek Zybura und Wojtech Kunicki (beide Professoren an der Uni Wroclaw) bis Mai 2015 ins Deutsche übersetzt, eine Auswahl »best of stories« wird übersetzt von Ewa Szymani.

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Foto: Begegnung mit Adam Zagajewski (re.) und Ryszard Krynicki (li.)

Absolutes Highlight meines Aufenthaltes: Treffen in Krakau zwei Tage mit meinen alten Freunden (seit 33 Jahren) Adam Zagajewski und Ryszard Krynicki, die mit Zbigniew Herbert bedeutendsten lebenden Lyriker Polens. Sie nahmen mich u.a. mit zum 50. Geburtstag der Zeitschrift »Tygodnik Powszechny« (eine Feier mit Diskussionsrunde in einem Waldhaus, wo Czeslaw Milosz sich versteckt hielt 1944/45).
Daraufhin kam ein Angebot des deutschen Poesiealbums (Märkischer Verlag) für mich, eine Auswahl der Gedichte von Zagajewski zu übernehmen. Anlässlich der Feier traf ich auch den Gründer von KOR (Komitee zur Verteidiger der Arbeiter).

Literarische Ergebnisse: Mehrere Gedichte, ein Essay (bereits veröffentlich in der landesweiten germanistischen US-Internet-Zeitschrift »Glossen«).
Im September erscheint (zusammen mit dem oben bereits genannten Interview) in »Odra« in Polnisch eine längere Erzählung, die die grand dame der polnischen Literatur, seit dem Tod von Wislawa Szymborska, auswählte: Urszula Koziol.

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Erster Bericht Łódz (7.–8.Mai) 2014 – Wrocław
Ich bin seit einer Woche hier, war aber von Mittwoch bis Donnerstag in Lodz zu einem Vortrag und einer Lesung an der Uni in Lodz, wo ich zwei Professoren kenne, Vater und Sohn Kuczynski. Der Vater Krysztof ist ein Gerhart-Hauptmann-Forscher.

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Der Sohne Ernest (wirklich nach Hemingway so genannt vom Vater!) ist erst Ende Dreißig und habilitiert gerade. Er machte grad ein Buch mit Stimmen zu Jürgen Fuchs, für dass ich auch György Dalos aus Ungarn und Adam Zagajewski gewinnen konnte.

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Er bedankte sich bei mir mit einer Einladung zu seinen Studenten an die Universität Lodz.

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Die drei Gründer der Textil-Industrie von Lodz: Der Pole, der Jude, der Deutsche

Ich fuhr dreieinhalb Stunden hin mit Polski Bus, der Zug braucht fast fünf Stunden. Der Bus ist viel billiger. Dann Stadtbesichtigung, unermesslich weite Fabriklandschaften mitten in der Stadt. Ich sah auch das Ghetto und den schrecklichen Bahnhof Radegast, wo die Ghetto-Häftlinge in die Vernichtungslager abgefahren wurden. Es gab auch ein Kinderlager…
Am berühmtesten wohl von den zahlreichen Fabrikbesitzer-Villen ist der Posnanski-Palast!

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Foto: Ich schlief in Lodz im berühmten Hotel Savoy, das Joseph Roth beschrieb in seinem gleichnamigen Roman
Umwerfend. »Das gelobte Land«, Reymonts Roman verfilmt von Andrzej Wajda, dafür wurde auch einiges in diesem Palast gedreht z.B. die berühmte Treppe. In Lodz wohnte ich im Hotel »Savoy«, wo Joseph Roth lebte 1924 und dann seinen gleichnamigen Roman schrieb. Natürlich fragte ich nach drei Zyczkie-Bier und zwei Wodka am Abend gleich den Lift-Boy, ob er der Besitzer sei (wie im Roman Roths)! Er verneinte … die Zeiten are changing! Und alle werden ärmer … selbst die Liftboys. Gestern war ich in der Redaktion des Literaturmagazins »Odra« («Oder”; wie der Fluss). Der Chefredakteur, Mieczyslaw Orski erkannte mich sofort wieder, wir hatten uns sechzehn Jahre nicht gesehen. Nur zweimal in den 1990ern, hier in Wroclaw und einmal in Dresden. Im Juni will ich Adam Zagajewski besuchen, und hier habe ich noch Lesungen im Edyth-Stein-Haus, an der Uni bei den Germanisten und im Willy-Brandt-Zentrum.

Soweit mein Bericht, ich wohne im Edyt-Stein-Haus, eher in einem ärmeren Viertel, teile mir einen Kühlschrank mit fünf Praktikanten (Studenten) und die Gemeinschaftsküche. Strenges Rauchverbot, ich rauche zum Fenster raus … klar!
Ins Zentrum laufe ich gemächlich in zwanzig Minuten.

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Foto: Nach meiner Lesung an der Uni Lodz gab ich Wladylas Reymont (Nobelpreis 1924) noch einige Tipps!

 

Erst mal soweit. Leider ist mein Stuhl hier zu tief und knallhart … schon nach zwanzig Minuten hat man starke Rückenschmerzen, aber gestern habe ich mir schon einen großen Tisch organisiert. Das hier ist wie ein Museum, man kann in drei Stockwerken nach Möbeln suchen und darf es sich ins Zimmer stellen, alles wirklich prima, aber eher halt für 30-Jährige.
Leider ist auch mein Polnisch sehr klein! Englisch sprechen nur die jungen Leute, ich verrate mich als Ostdeutscher durch manchmal einfließende russische Wörter.

11. Mai 2014
Interview (deutsch) für Silesia Nova (dann polnisch auch in ODRA)
Interview mit Utz Rachowski

Sie sind in Plauen / Vogtland im Jahre 1954 geboren. Wie hat Sie diese Stadt geprägt. Hatten Sie irgendwelche familiäre Beziehungen zu Polen. Spielte der 2. Weltkrieg und die Erinnerung daran in Ihrer Familie eine Rolle?

In Plauen wurde ich zwar geboren, meine Familie zog aber schon sechs Jahre später ins benachbarte Reichenbach, wo ich auch eingeschult wurde. Familiäre Beziehungen zu Polen, dem Land oder Personen dort, hatten wir direkt nicht. Ich verstand erst viel später, als ich etwa 17 Jahre war, dass meine Familie eigentlich aus Polen kommt, nachweisbar bis in 17. Jahrhundert, hatte sie zuerst in der Gegend um Lublin gelebt und war im 19. Jahrhundert nach Zdunska Wola bei Łódz umgezogen, dort war mein Großvater Webmeister, aber auch Pazifist! Er wollte den polnischen Wehrdienst nicht machen und zog mit seiner Familie (der Geburtsname meiner Großmutter war Franke, der des Großvaters Rachowski, mein Vater wurde 1918 in Sdunska Wola geboren) nach Sachsen um, eben ins vogtländische Reichenbach. Dann zogen sie beruflich nach Plauen, dann eben wieder zurück nach Reichenbach.
Die Gespräche des Vaters und der Onkel über den Krieg waren ständig präsent. Ich schrieb darüber in meiner Erzählung »Die Stimmen des Sommers«, die ich gerade in Wroclaw der Zeitschrift ODRA angeboten habe in polnischer Übersetzung (Abdruck inzwischen in der Septembernummer, 9/2014).
In Plauen und in Reichenbach waren auch die Gespräche der Frauen, der Großmutter, den Tanten und meiner Mutter oftmals vom Krieg geprägt. Als Kind und Jugendlicher bildete ich mir aus den hunderten Bruchstücken ihrer Erzählungen langsam ein Bild: Großmutter sprach überwiegend immer vom 1. Weltkrieg, den sie (geb. 1898) in Sdunska Wola erlebte und die anderen Frauen, auch gemeinsam mit Großmutter, vom Zweiten Weltkrieg. Sie hatten z.B. die alte Mutter meiner Mutter (die ich nicht kennenlernte) aus dem brennenden bombardierten Plauen mit einem Handwagen über die zerstörte Autobahn bis nach Reichenbach gezogen. Krieg spielte immer eine Rolle, ich musste nur sortieren, von welchem die Frauen sprachen, bei den Männern war das klar.

Welche Personen / Persönlichkeiten prägten Sie in Ihrer Schulzeit. Wie ist es zu erklären, dass Sie in der Oberschule ein Philosophenclub gründeten, das Sie zum ersten Mal ins Visier des berüchtigten politischen Polizei, Stasi gebracht hat? Spielten dabei die Ereignisse in der Tschechoslowakei eine Rolle?

Ja, entscheidend war die Okkupation im August 1968. Mein sechs Jahre älterer Bruder erzählte mir schon im Vorfeld alles, was diese Reformen unter Dubcek bedeuteten – ich war politisch völlig frühreif durch ihn und hörte die deutschsprachigen Sender Böhmens und sah immer westdeutsches Fernsehen.
Tage lang zogen dann die russischen, dann die deutschen Panzer durch unsere kleine Stadt Reichenbach. Ich beschrieb genau dies in meiner Erzählung »Der letzte Tag der Kindheit« (1994). Prägend literarisch waren ein junger Lehrer schon in der Grundschule und später an der Oberschule (dort seit 1. September 1968, neun Tage nach der Okkupation der CSSR) besonders der 19jährige Jürgen Fuchs, der später einer der bekanntesten Bürgerrechtler und dissidentischen Schriftsteller der DDR wurde, unsere Freundschaft hielt lebenslang, er verstarb im Mai 1999. Vielleicht hat man ihn umgebracht …
Einen Philosophie-Club außerhalb der Schule gründete ich 1970, ich wurde daraufhin 1971 als Rädelsführer von der Oberschule geworfen. Es war nur ein loses Treffen von wenigen Schülern außerhalb der Schule, wo wir Literatur (z.B. Heinrich Böll, der in der DDR nicht verboten war) und klassische dt. Philosophen besprachen, die es in unseren Lehrbüchern nicht gab, z.B. Schopenhauer, Feuerbach, die Junghegelianer, Nietzsche.
Wir wurden von einem Kirchen-Spitzel verpfiffen, dann begann meine »Karriere«: sechs Stunden Verhör durch die Stasi. Wir waren grad mal sechzehn Jahre alt.

Wann kamen Sie zum ersten Mal mit Polen und den Polen in Kontakt? Wie waren Ihre erste Eindrücke?

Schwer verliebt – in Hanka aus Warschau – die ich in Thüringen (polnischer Gruppenurlaub per Bus mit ihrer Mutter, die Hanka gut bewachte) kennenlernte – kaufte ich mir ein Zelt und kam per Autostop nach Warschau – mit der Liebe wurde es nix – aber ich erkältete mich schwer und musste für drei Wochen in ein Krankenhaus. Dort erzählten mir viele alte Männer von ihren Erlebnissen im Krieg, vom Warschauer Aufstand. Ich kehrte zurück und glaubte der ganzen Antifaschismus-Lüge der Vätergeneration in der DDR nicht mehr, ich verachtete sie ab sofort, tief! Und schrieb die ersten wirklich brisanten Texte – Tenor: Was hast Du, mein Direktor des Elektrizitätswerks, wo ich als Monteur arbeitete, in Polen getan! – Und jetzt schießt Ihr wieder bei Euren Kampfgruppen-Übungen in Zivil! Und ich bin der Außenseiter mit dem Vollbart und den sehr langen Haaren, der sich weigert – mitzuschießen.
Ich war durch Polen zu einer tiefen und aktiven Hinterfragung des Sozialismus gelangt.

Welche Rolle spielte in Ihrer Biographie die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976. War dieser Akt vonseiten der DDR-Machthaber für Sie die Ermunterung zur oppositionellen Tätigkeit? Haben Sie sich damals als Oppositioneller verstanden? Vor wenigen Wochen hat W. Biermann einen schönen Satz gesagt: »Am Anfang waren wir wenige, zum Schluss sind viele übrig geblieben«. Wie würden Sie diesen Satz in Bezug auf die DDR-Opposition deuten? Sind Sie damit einverstanden?

Zur Zeit der Ausbürgerung Wolf Biermanns war ich schon sein Freund geworden. Jürgen Fuchs hatte uns 1975 zusammengebracht.
Lustigerweise stritten wir uns gleich über Polen!
Ich war ständig dort gewesen seit Sommer 1973 (Hanka!) und erlebte eine andere Welt: Theaterfestival in Wroclaw 1973! Jazz-Jamboree jeden Oktober in Warschau! Die freien Theater-Bühnen! Ich sagte zu Wolf: Das ist ein Land, wo auch ich frei leben könnte.
Wolf sagte: Nee – die mit ihrem Katholizismus und ihrer schwarzen Madonna, von dort wird nie was kommen! Wolf durfte niemals nach Polen reisen – und hatte einfach ein völlig falsches Bild! Er setzte seine Karte genau in diesen Jahren auf den Eurokommunismus, dem ich nie anhing, und er verlor, sehr schmerzhaft!
Der Satz ist toll, er besagt, dass jetzt immer mehr Feiglinge der DDR, je länger der Zusammenbruch des Landes her ist, sich als ehemalige Widerständler kostümieren – das ist der »reine Wolf«, wie er mein Freund ist, auch heute noch, ein Verwandter Heinrich Heines.
Sein Satz stammt übrigens erstmals aus einer Rede vom Herbst 1991.

Wegen der Verbreitung eigener Gedichte und der Literatur anderer regimekritischer Schriftsteller, wie Jürgen Fuchs, Reiner Kunze, Wolf Biermann und Gerulf Panach sind Sie zu 27 Monaten Haft verurteilt werden. Wie wurden Sie von den Häftlingen und Knastfunktionären als »staatsfeindlicher Hetzer« empfangen. Welche Haftbedingungen gab es damals in der DDR?

Von den politischen Häftlingen gut aufgenommen, wir waren natürlich verbündet, vor allem die »Hetzer«, sehr oft auch, die flüchten wollten, aber da gab es schon Unterschiede. Bei den Kriminellen musste man etwas aufpassen, aber ich kam klar und war ja schon einiges gewöhnt, Rausschmiss aus der Schule, Schwerstarbeit Eisenbahn, Elektriker und Armee …
Die Haftbedingungen waren schrecklich, viel zu wenig Essen, harte Arbeit im Schichtsystem. Um es kurz zu machen: In »Freiheit« spielte ich aktiv Volleyball und war total fit, nach der Haft war ich körperlich am Ende, jeden Morgen liefen meine Finger bis zum Handgelenk schwarz an, Kreislauf, Herzschwäche. Kuriert von der Familie Fuchs in Westberlin mit Kindersäften nach meiner Entlassung. Ich war knapp 27 Jahre.

Ihre literarischen Anfänge sind mit Jürgen Fuchs und Reiner Kunze verbunden. Was waren diese beiden Dichter (in Polen bekannte Namen, auch dank der »Odra«) für Sie persönlich, literarisch?

Ganz große Vorbilder meiner Zeit! Sie setzten fort, literarisch, was Peter Huchel und Johannes Bobrowski mir gegeben hatten – und es kam bei ihnen das Politische hinzu, ohne je plakativ zu sein. Mit Jürgen war ich sei September 1968 befreundet, mit Reiner Kunze bin ich es seit Dezember 1974. Er beschrieb in seinem Buch »Die wunderbaren Jahre« auch meinen Rausschmiss aus der Oberschule; ich lieferte das Material (Schreiben des Kreisschulrats usw.) Keiner hat meine Zu-Arbeit zu diesem Buch jemals verpfiffen, das wäre mir sehr teuerer gekommen mit ca. zwei Jahren mehr Knast …

Reiner Kunze als Mentor und Förderer der jungen Dichter in der DDR – haben diese Rolle und Wirkung Kunzes den Untergang dieses staatlichen Gebildes überdauert, wie steht man heute im literarischen Osten zu ihm?

Er ist der große alte Herr der Lyrik im gesamten Deutschland. Und er wird auch so wahrgenommen. Seine Gedichte überdauern noch ganz andere Systeme! Wenn ich mir den kleinen Scherz gestatten darf …

Sowohl die DDR als auch den volkspolnischen Staat hat die Geschichte weggespült. Indes ist die Vergangenheit nicht tot, ja bekanntlich ist sie nicht mal vergangen (und scheint auch in unserem Gespräch durch). Vor Jahren haben Sie Ihre Erfahrungen als Bürgerberater für Opfer des Regimes der ehemaligen DDR bitter zusammengefasst. Haben die verflossenen Jahre etwas an jenem bitteren Urteil geändert? Wir fragen danach, weil es eine Problematik ist, an der sich auch in Polen Geister scheiden. Warum tut sich Ihrer Meinung nach eine Demokratie so schwer, ihr erfolgreich beizukommen?

Diese alten Strukturen des Systems wirken nach – auf beide Seiten hin, die Mitmacher und Täter, aber auch auf die Betroffenen und Opfer. Das wird erst besser, wenn diese zwei Generationen zusammen in der Kiste liegen …
Seit zwölf Jahren berate ich Opfer der DDR-Diktatur im Auftrag einer Behörde in Dresden, d.h. jeweils vor Ort, ich bin drei Tage in der Woche unterwegs in drei Städten und biete 10 Stunden Sprechstunden an in den Rathäusern. Das Land ist völlig unversöhnt. Da sitzen die alten Funktionäre noch in den Rathäusern oder bereits deren Kinder, und die ehemaligen Opfer kommen betteln bei mir um eine kleine Opferpension, die der deutsche Staat nicht mal fertig brachte, »Ehrenpension« zu benennen für ehemalige politische Häftlinge. Juristisch nennt sich das »Besondere Zuwendung«. Aber weil in Polen alles noch viel weniger gut ist in dieser Hinsicht, schweige ich lieber jetzt. Aber eines müssen wir lernen: Eine Demokratie kann niemals eine Diktatur aufarbeiten! Ihr fehlen die Werkzeuge dazu. Aber die jetzt herrschende Klasse der ehemals Angepassten tut so, als könnten sie es! Von Argentinien bis Birma.
Ich bin Mitglied des deutschen Exil-PEN, nicht (!) des deutschen PEN, wir sind weltweit nur 90 Mitglieder und engagieren uns beinahe mit bloßen Fäusten für unsere eingesperrten Kollegen, da sehen wir, dass nach einer Liberalisierung immer dieses Phänomen eintritt. »… viele sind übrig geblieben«. Die schnell an die Macht wollen.

Was war in Ihren Augen der Grund dafür, dass die oppositionell gesinnten literarischen Kreise in der DDR und Polen kaum zueinander fanden?

Schwierig … Ihre Frage schmerzt mich fast physisch … am Ende ist das wahr, es hat nicht funktioniert, immer nur punktuell … Ein Grund ist sicherlich, weil die deutschen Bürgerrechtler (und viele Autoren) überwiegend Marxisten in allen Schattieren waren. Keine Kirchgänger. Das Bild ist jetzt in der öffentlichen Meinung in Deutschland völlig verfälscht, da bekommt rückblickend die Kirche der DDR die Hauptrolle. Sie war aber erst in einer letzten Phase der Auflösung von Bedeutung. Die Polen, da hatte die marxistische Ideologie sich nie wirklich in die Gene der Mehrheit einschleichen können. So auch bei den Oppositionellen Polens und auch der polnischen Schriftsteller. Das Resultat der ausgebliebenen Möglichkeiten in den intellektuellen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen bleibt traurig.
Ich habe aber, denke ich, meinen persönlich kleinen Beitrag geleistet: Redakteurs-Mitarbeit an »Archipelag«, der polnischen Exilzeitschrift in Westberlin, dann einziger deutscher Schriftsteller, der es wagte unter Kriegszustand 1982 in Polen einzureisen und Manuskripte verfolgter Autoren herausschmuggelte. Ich rechnete damals damit, dass die UB/SB mich unauffällig umlegt und habe auch eine polnische Akte. Ich habe viele Freunde hier, wie Adam Zagajewski, den ich bald in Krakow besuchen werde.

Reiner Kunze hat Sie davor gewarnt, die literarische Laufbahn einzuschlagen, und ausgerechnet diesem Rat von ihm sind Sie nicht gefolgt. Was kann also heute die Literatur noch bewirken? Wie den Weg zu den Menschen finden, wo der öffentliche Status eines Schriftstellers nicht mehr der von gestern ist, als Dichter noch Priester, Propheten, Mentoren … gewesen waren?

Oh, diese Frage stelle ich mir in meinen schwarzen Stunden selbst!
Protestantisch aber wahr und auch für den Katholiken gut geeignet: Hier stehe ich und kann nicht anders! Luther.

Sie haben ein Stipendium bekommen und arbeiten zur Zeit in Wroclaw an einem neuen Buch. Wie finden Sie unsere Stadt? Finden Sie genug Anregungen?

Einfach eine wunderbare Stadt! Lebendig!
Dem Zentrum darf man aber nicht die ganze Stadt glauben … die viel ärmeren Verhältnisse gegenüber Deutschland werden in den Vorstädten Wroclaws sichtbar.
Aber! Diese Stadt ist keine entvölkerte, ohne Jugend, wie in meinen Städten Sachsens, wo die Häuser zwar insgesamt mehr glänzen als hier, aber es keine Menschen mehr gibt, die darin wohnen. Die Jugend! Die nach Westen ging, der Arbeit nach. Das trifft zu außer auf Dresden und Leipzig auf alle Städte Sachsens.
Ich liebe es sehr, hier in Wroclaw zu sein, weil hier Leben geschieht: Der unglücklich Betrunkene am Mittag im Stadteil Olbin und der junge Student, der aus dem Philosophischen Institut kommt, noch blass von der bestandenen Prüfung, um sich glücklich Gurken zu kaufen in Knoblauchsud in der Hala Targowa!

23. Mai 2014
Brief von Prof. Ruchniewicz (Willy-Brandt-Zentrum Wroclaw)

Lieber Herr Rachowski,

haben Sie vielen Dank fuer die tolle Lesung. Es tut mir leid, dass im Anschluss daran sofort zurückgehen musste und Ihnen kein Glas Bier/Wein anbieten konnte. Am WBZ warteten auf mich die Studierenden immer noch und wollten die Abschlussnoten bekommen. Vielleicht ein anderes Mal.

Mit getrenntem E-Mail habe ich Ihnen die Kopie des Briefes an W. Biermann geschickt (bis heute keine Antwort). Ueber den Hungerstreit habe ich mit einem Freund von mir von Gazeta Wyborcza, Bartosz Wielinski, gesprochen. Er wäre bereit darüber eine Reportage zu schreiben. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit wären, ihm über diesen Vorfall zu erzählen. Auf fuer die Übermittlung der Adressen der noch lebenden Organisatoren dieses Streiks wäre ich Ihnen sehr dankbar. Er ist ein guter Journalist und hat vor wenigen Monaten einen tollen Aufsatz über die Einstellung der DDR gegenüber der Solidarnosc verfasst. Seinen Text finden Sie unter folgender Adresse:

http://m.wyborcza.pl/wyborcza/1,132750,15088316,Zdlawic__Solidarnosc_.html

Mit freundlichem Gruss
Ihr
Krzysztof Ruchniewicz

Auszug aus dem mehrseitigen Artikel von Bartosz Wielinski (Redakteur der Zeitschrift »Gazeta Wyborcza«, etwa mit dem deutschen »Spiegel« oder »Die Zeit« zu vergleichen, es ist aber eine Tageszeitung)
(Übersetzung mit Hilfe von google-Translater):

»Einer der Gefangenen warf die Idee auf, eine große Flucht ins Polnische zu organisieren. Über die Oder-Neisse-Grenze. In Polen könnten die Menschen von der »Solidarität« helfen, den Flüchtlingen in den Untergrund zu entkommen. Vielleicht können wir bis nach Danzig, auf den Hof der Lenin-Werft kommen.
 
– Fühlte sich wie »Solidarität«! – Die Zellentür öffnete sich mit einem Paukenschlag. Die Gefangenen statt geschwollene Gesichtsschutz mit einem Stock in der Hand, sah zwei Wächter. Verängstigt stiegen sie in die zweistöckigen Kojen. Die Hunde liefen hinter ihnen und bellten. Die Wachen hielten sie an langen Schnüren. – Wir werden euch schlagen. Die »Solidarität« aus dem Kopf – schrien sie. Sie durchsuchten die Zelle. Besonders interessiert an Schreibblöcken A 4 (auf solchem Papier gab es die Aufrufe der Häftlinge, geheftet an Essenkübel und Türen. – U. Rachowski).

Es war der Abend des 17. Dezember 1981 im Gefängnis in Cottbus, die 100-Tausend-Einwohner-Industriestadt liegt 30 km von der polnischen Grenze. Dann Schlüsselklirren und Stasi-Offiziere, DDR-Geheimpolizei unterdrückt Hungerstreik. In der Geschichte der DDR war es, dass eine Gruppe von Gefangenen sich weigerte zu essen und zu arbeiten. Mit ihnen wurde schnell und rücksichtslos gehandelt. Aber dieser Protest war in der DDR einzigartig. Es streikten über 300 Personen, inspiriert von »Solidarität«. Sie protestierten gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen.
Machen wir es wie die Polen.«

Lieber Herr Rachowski,
Haben Sie vielen Dank fuer Ihre Hilfe, ohne Sie, waere ich nicht imstade gewesen, dieses Beitrag zu schreiben. Ich hoffe die Sache wird sich entwickeln. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten

beste Gruesse Bartek

Im Frühjahr 2015 wird es einen Kongress in Dresden geben, auf dem die polnische Behörde (IPN) der deutschen Stasiunterlagen-Behörde BStU, ihr eigene Material vorstellen wird!
Mein schöner Schlemenstreich!
Die Deutsche Welle des Polnischen Fernsehens dreht gerade einen Film über das Ereignis des Hungerstreiks von 1981.

 

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Und noch ein Gedicht, das ich in Wroclaw schrieb (natürlich wieder für meinen Hund SUKI):

HIER
KOMMT
DEIN BOOTSMANN

Suki! ich fand
grad auf der Welt

einen Freund
für dich

Gabrielle aus Irland

schickte mir
den Tipp die Dichterin

Denk’ nicht
Lord Byrons Hündchen

BOATSWAIN

liegt in einem tumben
Grab auf Newstead Abbey

seit November 1808

irgendwo in England rum
wie’s in den Büchern steht

Lauf los, wann trefft ihr euch?
die Literaturgeschichte

ist völlig dumm!

Wroclaw, 12. Jun. 2014

Gabrielle Alioth über Suki und Boatswain:
»Und einen großen Dank für die Suki-Gedichte, die mich durch den Tag begleitet haben.
Suki muss – neben Lord Byrons Boatswain – der am schönsten bedichtete Hund der Literaturgeschichte sein.«
(Gabrielle Alioth, Ireland, 12. Juni 2014)

Adam Zagajewski an Utz Rachowski
Pfingsten 2014

Lieber Utz,

Das war gut, Dich in Krakow zu haben. Und auch die Tatsache, dass wir diesen kleinen Ausflug gemacht haben, war prima.
Wir sprachen darüber mit Ryszard – auch, wie Du nett bist, unverändert nach so vielen Jahren.

Vielen Dank für Dein Gedicht und für die Fotos.

Beste Grüsse

von Deinem Adam

 

Information

9783937654492

Utz Rachowski: MISS SUKI oder Amerika ist nicht weit
14,0 × 20,5 cm, 72 Seiten, fester Einband, Fadenheftung, Lesebändchen
VP 22,00 €
ISBN 978-3-937654-49-2

www.mironde.com

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