Reportagen

Erinnerung an Henry van de Velde in Chemnitz

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Die Chemnitzer Villa Esche dominiert ihre Umgebung. Der universale Künstler Henry van de Velde hatte dieses Bauwerk 1904 als Grundlage für einen alternativen Lebensstil entworfen. Während die Mehrheit des Chemnitzer Bürgertums noch untertänigst den mit Operettetuniformen geschmückten sächsischem König und dem ähnlich kostümierten deutschen Kaiser huldigten und nachahmten, suchte die Fabrikantenfamilie Esche und ihre Freunde nach zeitgemäßen Lebensformen. Van de Velde war sich der Rolle der Familie Esche und der Industriehochburg Chemnitz sicher bewusst – wollte wohl einen Gegenentwurf zur überlebten Monarchie vorstellen – und schoss etwas über das Ziel hinaus. Man hat heute noch das Gefühl einen Palast oder Palais zu betreten. Irgendwie geriet hier alles etwas zu groß. Dem angemessen ist allerdings die Rolle als kulturelle Begegnungsstätte, die die Villa Esche heute in Chemnitz ausfüllt.

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Am 10. September hatte die Van-de-Velde-Gesellschaft zu einer Abendveranstaltung eingeladen, zu der Dr. Antje Neumann und Linda Tschöpe von der Klassik-Stiftung Weimar den zweiten Band des Henry-van-de-Velde-Werkverzeichnisses vorstellten.
Die beiden Referentinnen gaben Einblick in ihre umfangreiche und verantwortungsvolle Arbeit. Der erste Band war im Jahre 2009 erschienen und erfasste die Metallkunstarbeiten. Die Buchpremiere des zweiten Bandes war erst im Juli 2014 in Weimar.
Es wurde deutlich, dass die beiden Wissenschaftlerinnen tausende Objekte erfassen, bewerten und katalogisieren müssen. Allein im Band II finden sich 1126 Abbildungen.

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Die Referentinnen führten in die verschiedenen Bereiche der Textilkunst van de Veldes ein (Kleider, Wandbespannung, Teppiche u.a.) Im Zusammenhang mit der Textilgestaltung nahm Henry van de Velde Kontakt zu Textilfirmen in Berlin, Chemnitz und Krefeld auf. In Chemnitz war die aus Lunzenau stammende Firma Vogel bevorzugter Partner van de Veldes.

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Die beiden Referentinnen haben dem Anschein nach eine ungeheure Menge an Faktenwissen über Henry van de Velde gewonnen. Wie nebenbei erfährt man wichtige Dinge. Zum Beispiel verzichtet van de Velde als Lehrer auf die Vermittlung abstrakter Grundsätze, die dann auf das »wirkliche Leben« angewendet werden sollen. Er lässt die Schüler sofort die Vielfalt der Erfahrungen aufnehmen, um sie aus ihren Erfahrungen lernen zu lassen.

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In der Diskussion wurde nach den Stückzahlen der Aufträge van de Veldes gefragt. Die beiden Damen konnten keine hohen Stückzahlen bestätigen. Rentabilität durch Massenproduktion konnte nicht der Grund für van de Veldes Aufträge gewesen sein. Ein Zuhörer meinte denn auch, dass es van de Velde vielleicht mehr um das Know how der Industrie ging. Hier sei daran erinnert, dass van de Velde ja zuerst im Großherzogtum Weimar engagiert wurde, um Handwerk und Kunsthandwerk gegen billige, simple Massenproduktion fit zu machen. Was ihm auch gelang!

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Die beiden Kunstwissenschaftlerinnen aus Weimar hoben hervor, dass die Preise von Vande Veldes Textilkunstwerken und anderer Produkte, nicht niedrig waren, dass sie sich aber durch hohe Qualität und Dauerhaftigkeit auszeichneten.
Auch das Maß fand Henry van de Velde. Schrittweise wurde aus dem palastartigen Bauwerk das Wohnhaus einer Fabrikantenfamilie. Die Villa Koerner, die er 1914 in der Chemnitzer Beyerstraße baute, die besitzt bereits ein auf das bürgerliche Familienleben abgestimmtes Maß.

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Dr. Andrea Pötzsch, die Leiterin der Villa Esche (li.), dankte den beiden Weimarer Referentinnen im Gespräch noch einmal für ihren interessanten Vortrag. (Dr. Antje Neumann re. und Linda Tschöpe Mitte.)
Johannes Eichenthal

Information

Thomas Föhl/Antje Neumann (Hrsg.)
Raumkunst und Kunsthandwerk
Bd. II Textil
Format 24 × 30 cm, 460 S., 1126 Abb.
E.A. Seemann Verlag
ISBN 978-3-86502-230-1

Bis 30.9.2014 Einführungspreis 128,– €
Ab 1.10.2014 148,–

Band 3 soll die Keramik enthalten, Bd. 4–5 Möbel und Bd. 6 Raumkunst
www.wvz-henryvandevelde.de

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