Technologie

Energieerzeugung vor Ort

Hermann Scheer: Der energethische Imperativ – 100 Prozent jetzt – Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist.

Hermann Scheer starb überraschend am 14. Oktober 2010. Er war einer der wichtigsten Wegbereiter des Energiewechsels. Obwohl er sich auch bestens mit der Technik erneuerbarer Energien auskannte, war er als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler doch hauptsächlich um deren politische Durchsetzung bemüht. Davon handelt in der Hauptsache auch sein letztes Buch, das er selbst nicht mehr vorstellen konnte. Davon handelt auch mein Vortrag.

Scheer war SPD-Politiker und Mitglied des Bundestages. Er war viele Jahre lang das umweltpolitische Gewissen der SPD. U. a. hat er das Erneuerbare Energie-Gesetz auf den Weg gebracht. Aber die Genossen sind ihm nicht in allen Punkten gefolgt. Davon später.
Auch international war sein Renommee hoch. Er war Präsident von EUROSOLAR und Vorsitzender des Weltrats für erneuerbare Energien. Er wurde mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt.
Er hatte viele Anhänger, aber auch mächtige Gegner. Was warfen sie ihm vor? Was fürchteten sie? Warum war er bis zuletzt so umstritten? Bekennen sich nicht fast alle Politiker und Wirtschaftsleute heute zur Notwendigkeit des Umstiegs auf erneuerbare Energien?
Ehe ich Einzelheiten aus seinem Buch referiere, will ich zunächst seine Energiepolitik als ganze umreißen. Dann wird klarer, wo die Konfliktgrenzen verlaufen.
Schon vor Jahren hatte mir meine Tochter einen Aufsatz Scheers zugeschickt, in dem er überzeugend darstellt, dass der Wechsel zu erneuerbaren Energien einen Systemwechsel impliziert. Energie kann vor Ort, also dort erzeugt werden, wo sie gebraucht wird. Man braucht weder ausgezeichnete Regionen noch große Zentren der Energieerzeugung. »Es wäre eine krasse Fehlentwicklung, die auf die fossilen und atomaren Energien zugeschnittenen Strukturen beizubehalten und innerhalb dieser lediglich die Energiequellen auszutauschen«, heißt es in seinem Buch. Damit ist der Konflikt mit den Energiemonopolen, den großen Energiekonzernen, vorgezeichnet.
Im Übergang von großen zentralen Rechenanlagen zum PC eine Analogie zu sehen, liegt nahe. Nur konnte IBM den Umbruch damals weder verhindern noch verzögern. IBM hätte Microsoft kaufen können, lehnte das aber mit der Begründung ab, es würden sich doch Privatleute keine Rechenanlagen in ihre Wohnung stellen wollen.
Die heutigen Machthaber der Energieerzeugung sind nicht mehr so naiv und sie unternehmen alles, um die ihnen drohende Entmachtung zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Es geht inzwischen längst nicht mehr nur um Energiearten, sondern vorzüglich um Zentralisierung gegen Dezentralisierung. Damit geht es auch um den Umbruch in den Köpfen, also um Einstellungsänderungen. Selbst eine süddeutsche SPD-Politikerin, die nicht nur ihren Parteifreund Hermann Scheer sehr verehrt hat, sondern vor Ort auch die Umstellung einer Reihe kleiner Gemeinden zu autonomer Energieversorgung kennenlernen konnte und sich darüber freute, sagte mir noch kürzlich, man wird wohl für Großstädte und große Industrieanlagen noch lange auf zentrale Energieerzeugung angewiesen sein. Sie begrüße daher Windparks vor der Küste und Pläne, in der Sahara ein großes Solarwerk aufzubauen. Ich war nicht überrascht, dass Hermann Scheer in seinem Buch auch diesen »grünen« Plänen eine scharfe Absage erteilt. Für ihn sind es Versuche der gegenwärtigen Platzhalter, der Entmachtung zu entgehen und traditionelle Strukturen aufrecht zu erhalten. Günstigstenfalls bedeuten sie eine Verzögerung des fälligen Umbruchs.
Scheers 260 Seiten dickes Buch hat mir zweierlei vermittelt: die Aussicht auf eine durchgreifende Veränderung unserer Lebenswelt, wenn die Energieerzeugung wieder in die Hände der vielen einzelnen Energienutzer gelangt, ob es nun Privatpersonen oder Betriebe sind, und eine große Skepsis, dass dies in absehbarer Zeit gelingen kann; zu mächtig sind die Gegner und zu befangen in tradierten Vorstellungen (was die Dezentralisierung betrifft) sind auch viele Befürworter einer Umstellung auf erneuerbare Energien. Das Vorwort endet mit dem Satz: »Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.«


Nun zu einzelnen Abschnitten des Buches:

Die Kenntnis der wichtigsten Arten erneuerbarer Energien setzt Scheer beim Leser voraus: Wasserkraft, Windenergie, Sonnenenergie, Erdwärme, durch Gezeiten erzeugte Energie, Produkte aus Biomasse (Biogas, Biosprit u. ä). Hier macht Scheer allerdings die Einschränkung, dass die Bioenergienutzung nicht als erneuerbare Energie gelten kann, wenn dadurch landwirtschaftliche Flächen, die primär der Nahrungsmittelerzeugung dienen sollen, auf diese Weise denaturiert werden. Aber es bleiben viele Möglichkeiten, Abfälle aller Art zu nutzen.
Technische Beschreibungen liefert Scheer nur dort, wo Unterschiede politische Relevanz haben. Stromerzeugung durch Sonnenenergie kann über Solarzellen (Photovoltaik) oder (in der Sahara) direkt durch die Produktion von Wasserdampf erzielt werden. Transportprobleme sind anders bei zentraler oder dezentraler Stromproduktion usw.
Entscheidende Unterschiede zwischen herkömmlicher Stromerzeugung und Stromerzeugung durch erneuerbare Energien gibt es auch bei der Energiespeicherung. Bei traditionellen Verfahren können die Rohstoffe zur Stromerzeugung gespeichert werden (z. B. Kohlenhalden). Bei erneuerbaren Energien ist das nur bei einigen Arten möglich (z. B. bei Verwendung von Bioprodukten oder bei der Wasserkraft). Bei erneuerbaren Energien kann die Speicherung in der Regel erst nach der Stromproduktion erfolgen. Von Gegnern wird ja oft angeführt, dass dies nur erschwert möglich sei. Damit wird dann begründet, dass in Lieferpausen traditionelle Energieformen unverzichtbar seien. Genau besehen gibt es aber schon eine Fülle von Speichermöglichkeiten von Strom. Das simpelste Verfahren ist das Pumpspeicherkraftwerk, bei dem bei Stromüberschuss Wasser hochgepumpt wird, das bei Rückfluss eine Turbine betreiben kann. Es gibt weitere Möglichkeiten. Scheer weist in diesem Zusammenhang auch auf die rasante Entwicklung von Batterien hin. Auf jeden Fall kann die Erneuerbare-Energien-Technik ihre Speicherprobleme selbst lösen.
Wann sind 100 % des Energiebedarfs durch erneuerbare Energien abzudecken. Die Ausarbeitung dieser Passage meines Vortrags war nicht ganz einfach. Scheer berichtet über eine Reihe veröffentlichter Prognosen. Dreimal taucht das Ziel-Jahr 2050 auf: bei der Prognose des Sachverständigenrats der Bundesregierung für Umweltfragen, des Deutschen Forschungsverbunds Erneuerbare Energien und des Deutschen Umweltbundesamts. Zwei amerikanische Forscher veröffentlichten 2009 eine Berechnung für die gesamte Welt und kommen auf das Jahr 2030. Die Prognosen basieren auf der Beobachtung der bisherigen Entwicklung. Da sind die Widerstände ja schon mit drin. Die Entwicklung der Nutzung erneuerbarer Energien verlief aber schneller als alle vorhergehenden Prognosen. Wenn der Trend so weitergeht, könnte man also auch günstigere Prognosen formulieren. Andererseits formieren sich die Gegenkräfte. In dem Maße, in dem sich die traditionellen Energieerzeuger in ihrer Substanz bedroht fühlen, erhöhen sie ihre Anstrengungen, Tatsachen zu schaffen, die ein Überhandnehmen erneuerbarer Energien unwahrscheinlicher machen. Was Hermann Scheer in seinem Buch aufzählt, kann einem schon die Hoffnung rauben: »Weltweit wird immer noch deutlich mehr in konventionelle Energien investiert; 2009 war es das Vierfache. … Präsident Obama musste sich für seine Initiativen die weitere Förderung von Atomenergie, den Bau neuer Kohlekraftwerke und umstrittene Genehmigungen für neue Ölbohrungen und Pipelines vom US-Kongress abringen lassen. In China liegt der Schwerpunkt auf dem Bau neuer Kohlekraftwerke. Ebenso in Indien.

Eine milliardenschwere Subventionswelle für die Abscheidung von CO2 in Kohlekraftwerken läuft bereits – gefördert werden sogenannte CCS-Kraftwerke, um das CO2 anschließend in Erdlager zu pressen (CCS steht für »Carbon Dioxide Capture and Storage«; dazu später mehr). … Schon hat die EU-Kommission für diese Technologie mehr Investitionshilfen bereitgestellt als für die direkte Investitionsförderung in erneuerbare Energien. Der Energiekonzern Shell hat seine in den 1990er Jahren begonnenen Solarinitiativen schon wieder weitgehend aufgegeben und verkündet stattdessen sein Engagement für CCS-Investitionen. … Die britische Regierung hat zwar im April 2010 ein Einspeise-Gesetz für erneuerbare Energien nach deutschem Vorbild beschlossen, betreibt aber gleichzeitig den Bau neuer Atomkraftwerke. Die finnische Regierung hat im April 2010 die Baugenehmigung für zwei neue Atomreaktoren beschlossen, obwohl die Partei der Grünen an der Regierung beteiligt ist. Polen plant aktuell zwei Atomkraftwerke. Die italienische Regierung hat den Bau von Atomreaktoren angekündigt, obwohl 1987 eine Volksabstimmung gegen Atomkraftwerke votierte. Russland und die Ukraine vereinbarten im Frühjahr 2010 einen gemeinsamen Plan, ihr atomtechnisches Know-how zu bündeln, innerhalb eines Jahrzehnts ihre Atomproduktion zu verdoppeln und diese international anzubieten. Abu Dhabi hat Anfang 2010 vier Atomreaktoren in Korea bestellt, und Vietnam will in die Atomproduktion einsteigen. Selbst Brasilien – das Land, das zusammen mit Russland, Kanada und Australien das üppigste natürliche Potenzial erneuerbarer Energien besitzt – plant neue Atomkraftwerke. Die Internationale Energieagentur (IEA) fordert bis 2050 den Bau von jährlich zweiunddreißig neuen Atomkraftwerken, was bedeuten würde, dass alle elf Tage ein neues hinzukäme.«
Das große Interesse an Atomreaktoren in Schwellenländern resultiert natürlich auch daraus, dass sie hoffen, auf diese Weise zu Atomwaffen gelangen zu können. Zumindest könnten sie sich einen Verzicht darauf teuer abkaufen lassen.

Was bedeutet Hermann Scheers Forderung »100 % jetzt« angesichts dieser Szenarien? Ist diese Forderung nicht eine reine Luftnummer? Hermann Scheer geht wie alle großen politischen Visionäre davon aus, dass man alle Ampeln auf Grün stellen könnte. Dann wäre es vielleicht möglich, innerhalb von 10 Jahren 100 % erneuerbare Energien in Deutschland, in Europa, möglicherweise in der ganzen Welt zu etablieren. Rein technisch wäre es möglich. In Deutschland wäre ein großer Schritt schon getan, wenn alle Bundesländer so viele Windkraftanlagen installieren würden wie Sachsen-Anhalt, das zu 47 % seinen Nettostromverbrauch aus Windkraft deckt. Um bei der Windkraft zu bleiben: Was spräche gegen die Aufstellung von Windkraftanlagen entlang der Autobahnen?
Bei den Initiativen der Gegenseite fällt auf, dass Strom aus Atomkraftwerken und aus Kohlekraftwerken mit CO2-Verpressung offenbar bevorzugt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Reduzierung eines CO2-Ausstoßes, um die Erderwärmung aufzuhalten, ist das ja eine durchaus logische Strategie. Das ist die Umweltethik von Frau Merkel. Hermann Scheer möchte es nicht dabei belassen. Für ihn ist der Atommüll und das in die Erde verpresste CO2 eine nicht akzeptable Schadstoffhinterlassenschaft für viele Generationen. Erneuerbare Energien würden solche Zeitbomben unter der Erde generell vermeiden.
Es gibt noch ein weiteres Argument für den Bau von Atomkraftwerken oder ihre Laufzeitverlängerung und für den Bau neuartiger Kohlekraftwerke, das in aller Munde ist: Es handele sich dabei um »Brückentechnologie« oder um »Brücken zu Erneuerbaren Energien«. Dieser Begriff ist die geschickteste Erfindung der traditionellen Energieerzeuger. Er nimmt allen Erneuerern den Wind aus den Segeln. In dem Begriff stecken gleichzeitig das Bekenntnis zu erneuerbaren Energien und die Rechtfertigung für den Ausbau der Stromerzeugung nach alten Mustern.
Hermann Scheer bestreitet nicht, dass es auch für eine kurze Übergangszeit »Brücken« für die Energieversorgung geben muss:
»Über welche Brücken kann der Weg zu erneuerbaren Energien … führen? Eine ist durch die bestehenden Kapazitäten der konventionellen Energieversorgung gegeben. Erneuerbare Energien treten zunehmend an die Stelle der konventionellen Kapazitäten, bis diese gänzlich überflüssig werden. Für den schnellen Energiewechsel darf es nur keine garantierten Restlaufzeiten der konventionellen Energien geben, die über den tatsächlichen Bedarf an ihrer Produktionsleistung hinausgehen. Sie werden also synchron zur Mobilisierung erneuerbarer Energien aus dem Markt verdrängt, und Regierungen müssen ihre Protektorenrolle für sie aufgeben. Für die Träger des konventionellen Energiesystems klingt das ungeheuerlich, ist aber in allen technologischen Revolutionen ein normaler Vorgang: Auch bei der breiten Einführung der PCs wurde keine Rücksicht auf die Existenz der Schreibmaschinenhersteller genommen, die mittlerweile nahezu verschwunden sind.« Scheer beschreibt eine Reihe von technischen Möglichkeiten, eine Übergangszeit zu überbrücken, gewissermaßen eine Hybridtechnologie. Er kommt zu dem Schluss: »als Brücke zu erneuerbaren Energien sind Großkraftwerke denkbar ungeeignet.«
Das SPD-Mitglied Hermann Scheer setzt sich besonders ausführlich mit den geplanten neuen Kohlekraftwerken auseinander, da die SPD in ihnen ja immer noch eine gegenüber der Kernkraft akzeptablere Lösung sieht. Er schreibt: »CCS-Kraftwerke … scheiden CO2 bei der Verfeuerung der Kohle oder von Gas im Kraftwerk ab, das dann unterirdisch in ausgewählten Lagerstätten oder auf dem Meeresgrund abgelegt werden soll. CCS-Kraftwerke sind deshalb Kohlekraftwerke mit angeschlossener chemischer Fabrik sowie einer CO2-Pipeline-Infrastruktur und CO2-Endlagertechniken. Das bedeutet, dass die Stromerzeugungskosten weit über die heutiger fossiler Kraftwerke hinausgehen. Dennoch ist der Einsatz solcher sogenannter »klimafreundlicher Kohlekraftwerke«, trotz der unüberschaubaren Kostenrisiken und der völlig unabschätzbaren Umweltrisiken, bereits zum festen Bestandteil von internationalen und nationalen Klimaschutzstrategien geworden. – Wer heute die CCS-Option befürwortet und vorantreibt, nimmt hin, dass die Ablösung von Kohlekraftwerken durch erneuerbare Energien in der Stromerzeugung in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts verschoben wird. Falls CCS-Kraftwerke tatsächlich – wie vielfach schon vorgesehen – ab dem Jahr 2020 oder 2025 allgemein verbindlicher Standard für Kohlekraftwerke und dann durchgängig gebaut würden, bedeutet das eine Laufzeit dieser Kraftwerke bis 2070 oder 2075 und darüber hinaus.«
Man könnte einwenden, dass es inzwischen auch die Möglichkeit gibt, CO2 wiederzuverwenden statt zu speichern. Wie Scheer genau beschreibt, ist das mit Hilfe von Algenkulturen aber nur für kleinere Mengen möglich. Auch hier stößt man schnell an eine Grenze bei Großanlagen.

Worüber ich jetzt noch referieren will, sind gewissermaßen Strategien des Entgegenkommens der traditionellen Betreiber. Ein scheinbar faires Angebot besteht darin, die Produzenten erneuerbarer Energien schlicht zu Wettbewerb einzuladen. Wenn sie ihren Strompreis unter den der traditionellen Anbieter drücken könnten, hätten sie ja den Marktwettbewerb gewonnen. Keiner könnte ihnen dann in einer freien Marktwirtschaft ihr Existenzrecht mehr streitig machen. Unter der Überschrift »Die Mär vom Wettbewerb« führt Hermann Scheer im Einzelnen auf, dass in dem Strompreis der traditionellen Anbieter die öffentliche Subventionen von Jahrzehnten in der Höhe vieler Milliarden stecken. Allein die Subventionen für den Bergbau gehen in dreistellige Milliardenhöhe. Die bisherige Förderung erneuerbarer Energien nimmt sich im Verhältnis dazu sehr bescheiden aus. Noch größer wird das Ungleichgewicht, wenn man die möglichen sozialen und ökologischen Folgekosten der traditionellen Stromproduktion in Rechnung stellen würde.
Weitergehend ist das Entgegenkommen der traditionellen Energieerzeuger im Bezug auf Großanlagen zur Produktion erneuerbarer Energien. Ihnen ist es ja letztlich vielleicht sogar egal, womit sie ihren Strom produzieren, wenn sie nur ihre Macht und die diese Macht stützenden Strukturen in ihrer Hand behielten: also Großkraftwerke für erneuerbare Energien in ihrer Regie.
Zwei solcher Großprojekte sind geplant oder schon im Bau; die Offshore Windparks in der Nordsee (Seatec) und solarthermische Kraftwerke in der Sahara (Desertec). Beide Projekte sind in den Medien in den letzten Monaten sehr hochgejubelt worden. Herrmann Scheer schreibt dazu: »Viele waren deshalb überrascht, als ich das Desertec-Projekt inmitten der medialen Euphorie als Fata Morgana bezeichnete und auch den Nordseeplan als Ablenkung von einem schnell möglichen Weg zum Energiewechsel bewertete. Wie kann jemand, so wurde gefragt, der als Protagonist der erneuerbare Energien gilt und sich für den vollständigen Energiewechsel einsetzt, gegen solche Projekte sein?«
Technisch sind beide Projekte realisierbar. Das Nordseeprojekt bietet sogar durch die Verknüpfung von Offshore-Windparks in der Nordsee und Pumpspeicherkraftwerken in Norwegen eine technisch elegante Lösung des Speicherproblems. Trotzdem kann man die Bedenken Hermann Scheers teilen. Beide Projekte sind sehr kostspielig. Das Geld könnte zur Förderung erneuerbarer Energien an anderer Stelle besser eingesetzt werden. Am kostspieligsten ist aber der Stromtransport. Beim Wüstenstromprojekt ist es außerdem noch ziemlich ungewiss, wie sich das Transportproblem über die große Distanz lösen lässt. Außerdem ist das nicht nur ein technisches Problem. Mit einer Reihe von Ländern müssen Verhandlungen über Genehmigungsrechte der Durchleitung geführt werden. Der Eindruck ist nicht abzuweisen, dass die große Unterstützung, die diese beiden Projekte erfahren, darauf beruht, dass hiermit der Energiewechsel verschoben werden kann.
Der Haupteinwand gegen solche Großprojekte, auch wenn es hier um erneuerbare Energien geht, besteht für Hermann Scheer und alle, die sich seinen Argumenten nicht verschließen, darin, dass hier das einzigartige Potenzial der erneuerbaren Energien nicht zum Zuge kommt, nämlich vor Ort, dort wo sie gebraucht werden, produziert werden zu können. Das wäre doch vernünftig und würde unsere ganze Lebenswelt positiv verändern. Aber in der Geschichte der Menschheit gibt es viele Beispiele, dass sich die Vernunft nicht durchgesetzt hat oder auf ihre Durchsetzung lange warten musste.

Information

Der Autor des Beitrages, Prof. Dr. Reinhard Wegner, Hochschullehrer i. R., hielt seinen Vortrag über Hermann Scheers Buch anlässlich des »Politischen Stammtisches« der SPD-Arbeitsgemeinschaft »60 plus« in Bergisch Gladbach, am 18.11.2010 in der »Ewigen Lampe«.

Hermann Scheer »Der energethische Imperativ – 100 % jetzt – Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist« (Verlag Antje Kunstmann, München)

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