Michael Maurer, Professor für Kulturgeschichte an der Universität Jena, legte Ende vergangenen Jahres im renommierten Böhlau-Verlag eine neue Herder-Biographie vor. Das Buch umfasst immerhin 196 Textseiten, zusätzlich sind zehn unnummerierte Seiten Abbildungen beigegeben. Der Untertitel lautet: Leben und Werk.
In einem Einleitungskapitel begründet Maurer die Schwerpunktsetzung des Buches: »Zentral ist seine (Herders) Theorie der Kultur und hauptsächlich seine Auffassung von Sprache. Zwischen Kultur und Humanität besteht dabei eine sehr enge Beziehung: Herder zeigte, inwiefern das Wesen des Menschen in seiner ‹Kultürlichkeit› besteht.«
Nebeneinander stellt der Autor dann einzelne Seiten Herders. So wird dieser etwa als »Mittlerfigur« bezeichnet, der der Aufklärung die Sinnlichkeit zurückgewonnen habe (S. 8), »zu einer neuen Legitimation des Menschen als Sinneswesen«. »Herder leistete wesentliches für die Philosophie, namentlich für die Ästhetik, die er sich aber nicht von Ethik getrennt vorstellen konnte«. Als Theologe habe Herder sich bemüht, das »herkömmliche Christentum mit den neuen Auffassungen seiner Zeit zu versöhnen«. (S. 9)
Zur Selbstvergewisserung verweist Maurer auf die 1500 Seiten Herder-Biographie von Rudolf Haym aus den Jahren 1877–85. Haym habe Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« als unübertroffenen Höhepunkt von Herders Schaffen dargestellt. Zur Begründung zitiert Maurer aus der Haym-Biographie: »Herder der Theologe und Herder der Geschichtsphilosoph sind eins.« (S. 13) Zur »Untermauerung« dieser wichtigen Problematik führt Maurer später ein zustimmendes Zitat der Theologen Karl Barth und Martin Keßler an. (S. 123)
Maurer folgt Haym in dem Punkt, dass die »Ideen« das Hauptwerk Herders gewesen seien. Philosophisch ist Herder, nach der Auffassung Maurers, durch Kant und Hamann geprägt: »Zwei wichtige Impulse hatte Herder in seiner Königsberger Zeit aufgenommen: Kant und Hamann. Diese beiden bildeten gewissermaßen einen Widerspruch in Herder selbst.« (S. 156)
In der Struktur des Buches sind Lebens- und Werk-Aspekte verbunden. Die Kapitelüberschriften sind Lebensstationen Herders gewidmet und in einzelnen Abschnitten werden wichtige Schriften Herders vorgestellt.
Foto: Das Wohnhausder Familie Herder vom Garten her
1744–1769: Herkunft, Kindheit, Studium und erstes Amt (Über die neuere deutsche Literatur, Fragmente)
1769–1771: Die große Seereise (Journal meiner Reise von 1769)
1771–1776: Bückeburg (Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Von deutscher Art und Kunst, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit)
1776–1788: in Weimar angekommen (Preisschriften, Plastik, Volkslieder, Lieder der Liebe, Briefe das Studium der Theologie betreffend, Über die Seelenwanderung, Vom Geist der ebräischen Poesie, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Gott. Einige Gespräche)
1788/89: Die italienische Reise (Tagebücher)
1789–1803: Weimar der Spätzeit (Briefe zur Beförderung der Humanität, Über die menschliche Unsterblichkeit, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, Kalligone, Adrastea, Der Cid)
Der Band schließt mit einem Kapitel über »Herders Größe« ab.
Der Autor pflegt einen gut lesbaren Stil. Er zitiert häufig aus Herder Texten, in der Mehrzahl aus der so genannten Frankfurter Ausgabe (Johann Gottfried Herder Werke in zehn Bänden, Deutscher Klassiker Verlag = FA). Ausgerechnet bei der Behandlung des Zeitschriftenprojektes »Adrastea«, in dem Herder seine »Ideen« und die Briefe zur Beförderung der Humanität« auf zeitgemäße Weise fortsetzte, und die für das retrospektive Verständnis des Lebenswerkes eine Schlüsselbedeutung besitzen, zitiert er nicht mehr aus der Frankfurter Ausgabe, sondern aus der Ausgabe Herder Sämtliche Werke von Bernhard Suphan (SWS).
Michael Maurer zitiert auch aus der Weimarer Ausgabe der Herder-Briefe, die der ehemalige Verlag Hermann Böhlau Nachf. (heute Metzler Verlag) in einem gigantischen Projekt seit Jahrzehnten betreut. Aber alle zitierten Stellen betreffen rein persönliche Eindrücke Herders. Für die Dokumentation inhaltlicher Kontroversen und Positionsbestimmungen werden die Briefe nicht genutzt. In den letzten beiden Kapiteln, nach der Italienischen Reise, taucht zudem leider kein einziges Zitat aus den Briefen mehr auf.
Insgesamt breitet der Autor vor dem Publikum eine ungeheure Stofffülle aus. Der Umfang geht weit über eine Werkeinführung hinaus.
Foto: Das Wohnhausder Familie Herder vom Garten her
Anmerkungen
In unserer Anmerkung wollen wir uns auf die Kulturgeschichts-These des Kulturgeschichts-Professors konzentrieren, die er nach der Ankündigung in der Einleitung immer wieder zur Sprache bringt: »Herders Wiederaufnahme und Neuansatz einer Universalgeschichte führt gerade in dieser Komplexität mit Notwendigkeit zu einer neuen, säkularen, empirisch fundierten Universalgeschichte, zur Kulturgeschichte.« (S. 80) »Herders Hauptwerk ‹Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit› stellt den Versuch einer Gesamtgeschichte der Menschheit dar, nachdem die rein heilsgeschichtliche Deutung der Universalgeschichte nicht mehr möglich war und die nun nicht mehr anders als empirisch angegangen werden konnte. Herders Gesamtdeutung zeigt die organische Entfaltung der Menschheit im Prozess der Kultur: man kann auch sagen: Universalgeschichte wird abgelöst durch eine empirische Geschichte als Kulturgeschichte.« (S. 125)
Betrieb Herder wirklich empirische Geschichte?
Herder verteidigte immer die erfahrungsgestützte Wissenschaft: »Die ewige Weisheit hat uns ein großes Lehrbuch aufgestellt, daraus wir ohne Unterlaß unterrichten sollen; dieses heißt die Natur; seine einzelnen Buchstaben sind einzelne Gegenstände. Diese müssen wir zuerst genau, in allen ihren Verhältnissen kennen lernen; denn ihre Kenntniß ist der Grund von allem unserem Wissen, welches nicht aus Nebelschlüssen á priori besteht.« (Johann Gottfried Herder: Hodegetische Abendvorträge. Textgrundlage: Mitschrift von Gotthilf Heinrich Schubert. Zitiert nach Gotthilf Heinrich Schubert – ein anderer Humboldt. S. 63; FA Bd. 9/2, S. 794))
Aber kann man Herders Methode als »empirisch« bezeichnen? Maurer schreibt weiter: »Herders Methode ist durchgehend die der Analogie.« (S. 126) Wirklich?
Herder führt im Wesentlichen die Methode von Leibniz weiter. Dieser hatte den langen Streit der Philosophen, ob Induktion oder Deduktion den Vorrang haben sollte, durch eine Kombination beider Methoden ersetzt. Wie bei der Differenzialrechnung, deren Prinzip philosophische Bedeutung hat, gehen Leibniz und Herder von zwei Seiten an den Forschungsgegenstand heran: induktiv, hier könnte man sagen empirisch, und deduktiv, hier könnte man sagen theoretisch.
Herder über seine Methode: »Wenn ich also das große Himmelsbuch aufschlage und diesen unermeßlichen Palast, den allein und überall nur die Gottheit zu erfüllen vermag, vor mir sehe: so schließe ich, so ungeteilt als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom Einzelnen aufs Ganze.« (Ideen, FA Bd. 6, S. 22)
Hier geht es um die Erfassung des Besonderen. Das ist nur durch die gegenläufige Methode von Induktion und Deduktion möglich. Nur so kann man das Umschlagen des Allgemeinen in das Besondere und umgekehrt begreifen. Herder lehnte die von Kant proklamierte »Dialektik« immer mit dem Vorwurf der Sophistik ab. Gleichzeitig vermochte Herder mit den Mitteln der Logik das Moment der Dialektik in unserer Wirklichkeit zu erfassen. Alle Erscheinungen schlagen an einem bestimmten Punkt in ihr Gegenteil um. Dieses Moment ist das eigentlich Dialektische. Um die Erfassung dieses Umschlagens vom Allgemeinen in das Besondere und umgekehrt geht es, wenn wir von Dialektik reden.
Um überhaupt menschliche Erfahrungsprozesse unter solchem Aspekten zu bearbeiten, brauchte es eine Weiterentwicklung der alten Logik. Bereits auf seiner Seereise von 1769 schrieb Herder, dass es in der Logik darum gehen müsse, die Begriffe nicht einfach zu setzen, sondern zu entwickeln.
Aber anders als Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der 37 Jahre später die dialektische Logik als die neue Metaphysik proklamierte, wusste Herder, dass es bei der dialektischen Logik nur um die der Vernunft gemäße Denkform geht, und dass Philosophie mehr ist als Logik und Dialektik.
Die von Kant verwendete, an der Mathematik orientierte Logik, vermochte dagegen nur den abstrakten Vergleich oder die abstrakte Unterscheidung zu denken. In diesem Verfahren ist die Analogie das Prinzip der Methode
Herder bezeichnet jedoch mit dem Ausdruck »Analogie« gerade nicht seine Methode, sondern in der Tradition von Gottfried Wilhelm Leibniz, die Hypothese des allgemeinen Zusammenhanges im Universum. Es wirken überall die gleichen Naturgesetze. Der Planet, der Mensch wie das Staubkorn sind den gleichen Naturgesetzen unterworfen. (»Der in sich selbst überall allgnugsamen Natur ist das Staubkorn so wert, als ein unermeßliches Ganze.« (Ideen, FA Bd. 6, S. 22)
Wir können diesen universellen Zusammenhang jedoch niemals nur annähernd vollständig nachweisen. Wir gehen von der theoretischen Hypothese des allgemeinen Zusammenhanges aus, die sich jedoch auf unsere Erfahrungen stützen muss, und die, wie Herder anmerkt, bislang immer wieder bestätigt wurde.
Empirische Kulturgeschichte? Es müsste uns nachdenklich machen, dass Herder mit dem Kultur-Begriff vorsichtig umgeht: »Welches Volk der Erde ists, das nicht einige Kultur habe? und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem was Wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten, jedes Individuum des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts ist unbestimmter als dieses Wort und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert?« (FA Bd. 6, S. 12 )
Statt dessen beharrt Herder auf dem Humanitäts-Begriff. Warum?
Wir erinnern hier noch einmal an das Haym Zitat (»Herder der Theologe und Herder der Geschichtsphilosoph sind eins.«) Michael Maurer kann sich dem Anschein nach beide Aspekte nur nebeneinander vorstellen. Zur Entlastung muss man anführen, dass Haym den Sachverhalt unvollständig erfasste und beschrieb.
Was bedeutet die Feststellung Hayms? Die erste Überschrift der Ideen heißt: »Unsere Erde ist ein Stern unter Sternen«. Herder beginnt eine Menschheitgeschichte also mit dem Himmel. In der Vorrede zu den »Ideen« schreibt Herder: »Die Natur ist kein selbstständiges Wesen; sondern Gott ist Alles in seinen Werken.« Diese, dem Anschein nach lapidare Feststellung, weist auf eine immanente Gotttesauffassung hin. Kein außerweltlicher Gott, sondern das Wesen des Universums.
Herder nimmt die theologische Linie des jungen Luther in einer Zeit wieder auf, in der sich führende Theologen vom Kantianismus begeistern lassen und Herder an Hand seiner »Theologische Briefe« herablassend als »Popularphilosophen« einstufen. Die Linie Herders reicht dagegen vom jungen Luther über Johannes Tauler auf Meister Eckhart zurück.
Diese Sichtweise ermöglicht Herder schon 1768 in einem Brief an Hamann über seine »Genesis-Lektüre« zu schreiben: »Ich lese also Orientalisch, Jüdisch, alt, Poetisch: nicht nordisch, Christlich, neu, u. Philosophisch, u. da kommen mir folgende Betrachtungen, in diesem abgebrochenen Poetischen Nationalliede vor.
Versus 1. die Schlange war (nach Orientalischer Art) listiger, als alle p Ich mag nicht Philosophisch commentiren: daß ein Thier das andre übertreffe: einige, jedes in seiner Sache, selbst die Menschen, übertreffe; … kurz: der Umgang mit künstlichern und listigen Thieren brachte den Menschen weiter, als wo er war p. Orientalisch: die Schlange sprach: ja sollte Gott gesagt p
Nun ists für mich, u. vielleicht auch für Sie das schönste Bild, daß wenn die Quelle unsres Uebels Klugheit seyn sollte, wie es Bibel und der dummste Verstand zugeben muß – daß kein edleres, antikeres Poetisch-Orientalisches Bild seyn kann, als: der Baum des Erkenntnisses p u. nach dieser Klugheit verlangen …«
Zwanzig Jahre später schrieb Herder in den »Ideen«: »Kein nachahmender Affe höherer Wesen sollte der zur Freiheit erschaffene Mensch sein: sondern auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn stehen, daß er selbst handle. Zu seiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz auf dem seine Bestimmung liegt, ward ihm der Anblick edlerer Wesen entzogen. Denn wahrscheinlich würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese kennten. Der Mensch also soll in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern sich hineinglauben.« (FA, Bd. 6, S. 197)
Hier sei angemerkt, dass Herder seine wesentliche Gedanken weder von Hamann noch von Kant hatte. Ebensowenig trug er den »Widerspruch zwischen Kant und Hamann« in sich, wie Maurer schreibt. Hamann regte Herder an. Die Kontroverse zwischen ihm und Herder um den Sprachentstehungsessay zeigte jedoch, dass Hamann, erst Jahre später annähernd das Niveau seines Schülers in Sachen Sprache erlangte.
Es hätte den Kulturhistoriker stutzig machen müssen, wenn er bei Herder liest: Die Humanität ruht auf zwei Säulen: dem Glauben und der Vernunft. Der Glaube ist im Wesen Hoffnung und die Vernunft ist im Wesen Skepsis, die Fähigkeit aus unseren Fehlern zu lernen.
Weil die Vernunft im Wesen Skepsis ist, bedarf der Mensch der Ergänzung durch das Gegenteil: die existenzielle Hoffnung, der Glaube, dass unser Leben einen Sinn hat.
Wissenschaft, Vernunft ist für Herder also lediglich ein Werkzeug, wenn auch das wichtigste, zur Analyse der Wirklichkeit, des historischen Prozesses, zur Begründung und Auswertung der zwecksetzenden Tätigkeit des Menschen. Wissenschaft ist zur Anwendung da. Deshalb ist der Ausdruck »instrumentelle Vernunft« für Herder kein Makel und der Ausdruck »reine Vernunft« eine Leerformel. Ebensowenig trennt er theoretische und praktische Vernunft. Die Theorie ist für die Anwendung in der Praxis da. Aus der Praxis gewinnen wir Erfahrungen. Die Vernunft hilft uns, aus unseren Erfahrungen, unseren Fehlern zu lernen.
Das Gesamtprojekt Herders war seit Riga auf eine Universalgeschichte zur Bildung der Welt angelegt, wie es explizit Wolfgang Proß in seinen Kommentaren zu Herders Ideen und Günter Arnold in den Kommentaren zur Briefausgabe nicht müde werden hervorzuheben.
»Bildung der Welt« – ja hier gibt es phänomenologische Momente. Aber Herder weigert sich konsequent, solche Aspekte zu vereinseitigen. (Ähnlich verfuhr er mit der »Lebensalter-Theorie«, bei der man Sprachen und Kulturen in Analogie zu Geburt, Blüte, Verfall setzte.)
Schon die Zeitgenossen betrachteten die »Ideen« als Herders Hauptwerk. Diese waren das Kernstück des Gesamtprojektes. In den »Ideen« werden wesentliche Gedanken von Herders Kommentaren zum Alten Testament (Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, vom Geist der ebräischen Poesie), des Sprachursprungessay u.a. nahezu wörtlich aufgenommen.
Es handelt sich in der Tat um »Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit«. Herder nimmt zu diesem Zweck die »Urerzählung« der Schöpfung auf. Mit seiner »morgenländischen Archäologie«, d.h. mit hermeneutischem Handwerkszeug folgt er der Verwurzelung des Christentums in orientalischen Überlieferungen. Im Kern geht es um eine »Urerzählung«, die von jedem Volk zu jeder Zeit verändert weitererzählt wurde. In den Kommentaren zur »Genesis« hebt Herder hervor, dass es nicht um eine physikalische Theorie von der Schöpfung geht, sondern um eine poetische. Dabei geht es nicht um eine Ablehnung der Physik. In der Poesie kommen die Gegensätze von Glauben und Vernunft zusammen. Darum geht es.
Die Urerzählung wurde von verschieden Völkern zu verschiedenen Zeiten weitererzählt. Die Erzählung wird mit dem Ausdruck Fabel in ihrer weiten Bedeutung erfasst. Der Ausdruck Mythos und Fabel korrespondieren in dieser Beziehung. Herder bringt auch noch den Ausdruck Epopee ins Spiel. Ab und an verweist Herder zudem auf den Zusammenhang von Fabel und Traum.
In den »Ideen« bewahrt Herder einerseits die Tradition des Mythos, der Fabel, der Epopee. Die Religion ist die Hüterin der Tradition. Andererseits nimmt er die Erkenntnisse der Wissenschaften seiner Zeit auf. Warum macht er das, wo der größte Teil der Wissenschaftler, wie der Theologen dieses Verfahren nicht zu verstehen vermag? Weil zur Humanität zwei Säulen gehören: Glaube und Vernunft. Herder schildert im ersten Teil der »Ideen«, dass unsere Erde in einem kosmischen Meer schwimmt, eine Sonne umkreist, die wiederum ein Zentrum umkreis. Hier laufe alles nach einer kosmischen Harmonie ab. Nach deren Gesetzen werde aber alles, was entsteht, wieder zu Grunde gehen. Erde, Menschheit und Mensch: »Sobald in einer Natur voller veränderlicher Dinge Gang sein muß; sobald muß auch Untergang sein. Scheinbarer Untergang nehmlich, eine Abwechslung von Gestalten und Formen, Nie aber trifft dies das Innere der Natur, die über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus der Asche entsteht und mit jungen Kräften blühet.« (FA, Bd 6.; S. 32) Metamorphose, Wiedergeburt, Renaissance, Palingenese sind die Stichworte.
Doch Herder ist kein religiöser Apokalyptiker. Der Untergang folgt nicht aus moralischen Gründen, sondern nach den ewigen kosmischen Gesetzen einer großen Harmonie: »Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in der unabsehbaren Harmonie einer Welt Gottes.« (FA, Bd 6.; S. 24)
Auch hier wird deutlich, dass Herder in der Nachfolge des großen Leibniz steht. Die »Bausteine« unserer Welt, die Monaden, sind unerschaffbar und unzerstörbar. Vor unseren Augen läuft ein beständiges Zusammensetzen und Zerfallen dieser Elemente ab.
Aber diese »rein« wissenschaftliche Sicht kann uns Menschen nicht genügen: »Der Mensch soll sich in seine Zukunft nicht hineinschauen, sondern hineinglauben«. (FA 6, S. 197)
Der Glaube ist die notwendige Ergänzung zur Vernunft. In uns gibt es einen »göttlichen Funken« in der Seele. Herder modifizierte einen Satz von Leibniz, wonach die Monade ein Spiegel des Weltalls sei: unsere Seele ist ein Spiegel des Weltalls. Der Mensch kann und muss einen Bezug zu Gott als dem Wesen des Universums herstellen. Auch hier folgt Herder Leibniz, der Gott als das notwendige Wesen, als den zureichenden Grund unseres Universums begriff.
Zusammenfassen kann man sagen, dass Herders »Ideen« eine Weiterführung der »Urerzählung« der Schöpfung darstellen. Die Universalgeschichte der Bildung der Welt. Dabei geht es Herder nicht um ein 7-Tage-Ereignis: die Schöpfung ist ein immerwährender Prozess. Herder verfolgte dieses Ziel vom Beginn seines Theologie-Studiums an. Durch alle Wirren seines Lebenslaufes verfolgte er dieses Projekt einer poetischen Darstellung des Menschen im Kosmos. (Pierre Teilhard de Chardin nahm dass Thema im 20. Jahrhundert auf. Er bevorzugte aber eher die rein wissenschaftliche Form.) Der Sinn der Geschichte besteht für Herder in der Bildung zur Humanität. Aber dieser Sinn ist keine »innere Logik«, kein »Automatismus«. Bildung zur Humanität ist Inhalt, Kriterium und Ideal der Menschheitsgeschichte.
Wir erinnern hier noch einmal an das Haym Zitat (»Herder der Theologe und Herder der Geschichtsphilosoph sind eins.«) Michael Maurer kann sich dem Anschein nach beide Aspekte nicht nur nur nebeneinander sondern auch nur getrennt vorstellen. Damit konnte er am Ende Herder nicht gerecht werden. Zum Trost: selbst die umfänglich und inhaltlich bisher unerreichte Herder-Biographie von Rudolf Haym blieb einseitig und unvollständig.
Aber es wird einem wehmütig ums Herz, wenn man die vorbildlich nüchternen editorischen Berichte und Kommentare von Bernhard Suphan und seinen Kollegen aus der Herder-Ausgabe Sämtliche Werke (SWS) neben den von Hegelianismus und Kantianismus beeinflussten Haym-Text legt. Um so mehr bedauern wir, dass Bernhard Suphan nicht mehr zu einer Herder-Biographie kam.
Auch heute liegen die Materialien für eine zeitgemäße Herder-Biographie vor. Die Kommentare der Herder-Werk-Ausgabe von Wolfgang Proß, der Frankfurter Werk-Ausgabe wie der Weimarer Briefausgabe enthalten auf vorbildlich nüchterne Weise alles, was ein Wissenschaftler für eine zeitgemäße Herder-Biographie bräuchte.
Dem Autor Michael Maurer und dem Böhlau-Verlag ist zu danken, dass sie uns wieder einmal darauf hingewiesen haben: wir müssen zurück zu den Quellen, um Herder heute weiterführen zu können. Darum geht es doch. Oder nicht?
Johannes Eichenthal
Information
Michael Maurer: Johann Gottfried Herder. Leben und Werk. Böhlau Verlag Köln Weimar Wien 2014. ISBN 978-3-412-22344-1