Reportagen

FAUST II IN CHEMNITZ

Der eher selten gespielte zweite Teil von Johann Wolfgang Goethes dramatischem Epos »Faust« steht zur Zeit im Schauspielhaus Chemnitz auf dem Spielplan.
Der Zuschauer erlebt eine vorzügliche Inszenierung von Carsten Knödler und eine Dramaturgie, die eine informative Auswahl aus dem gigantischen Textkorpus des Weimarer Meisters vornahm, jedoch dem Text getreu folgt. Der Faust von Philipp Otto und der Mephisto von Dirk Glodde ragen mit ihrer Spielleistung nocheinmal aus der überdurchschnittlichen agierenden Mannschaft heraus. Die Zusammenarbeit mit dem Ballett des Chemnitzer Opernhauses gibt der Aufführung eine zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit.
Das Publikum im ausverkauften Schauspielhaus folgt aufmerksam der Aufführung, in der Goethe die Handlung seiner beiden Helden in großen Schritten durch Zeit und Raum treibt, nicht in chronologischer jedoch logischer Folge.
Besonders interessant ist die Akzentverschiebung gegenüber den 1970er Jahren. Der Titelheld erscheint heute nicht mehr als »Visionär« eines »gesellschaftlichen Fortschritts« sondern als eine Art von alterndem Milliardär, der sich durch Raub, Krieg, Finanzgeschäfte und Betrug einen riesigen Besitz zusammenrafft, der auch die schönste Frau des Altertums in seinen Besitz bringt, der eine Horde skrupelloser Managertypen um sich versammelt, der selbst vor Mordaufträgen nicht zurückschreckt, und der zuletzt in manischer Besessenheit dem Meer Land abzuringen versuchen lässt.
Mephisto, der dazu die Arbeiter-Armee rücksichtslos antreibt, gebrüllter Kommandoton und Marschtritt lassen die Umstände erahnen, vollstreckt zwar achselzuckend die Befehle, lässt die Zuschauer aber wissen, was er davon hält: die Elemente sind stärker als der menschliche Versuch der Naturunterwerfung, es läuft alles auf Vernichtung hinaus.
Dem Anschein nach kann erst heute der Gehalt des Goetheschen Werkes erschlossen werden. Im Faust I wird das Erkenntnisstreben der bürgerlichen Aufklärung in den Mittelpunkt gestellt. Das Streben nach dem Unsagbaren, nach dem Unsichtbaren, nach dem Unbekannten. Im Verständnis Platos war dieses Streben Erotik, Liebe zur Weisheit: Wir streben nach dem, und lieben das, was wir nicht besitzen können und wollen.
Im Faust II zeigt Goethe, wie dieses Streben an einem bestimmten Punkt in sein Gegenteil umschlägt: in Beherrschungs- und Besitzwahn.
Interessanterweise macht Goethe diesen Punkt an der Erfindung des Papier-Zettel-Geldes fest: Geld ist die größte Droge der Menschheitsgeschichte. Die Sucht nach Geldbesitz ist unendlich – ein manischer Wachstumszwang ist deren Erscheinungsform.
Für Goethe resultiert dieses relativ leichte Umschlagen der Zwecke und Folgen auch aus Illusionen der Aufklärung selbst. Er hielt es für eine Selbsttäuschung zu glauben, man könne die Natur mit einer Reduktion von Philosophie und Wissenschaft auf Zahlen und Algorithmen begreifen.
Insofern wird einsichtig, dass beide Teile des Goetheschen dramatischen Menschheits-Epos notwendig sind, um die Dialektik der Aufklärung zu begreifen. Nicht das Streben nach Erkenntnis an sich ist verwerflich. Ohne die Liebe zur Weisheit, ohne Erotik wird die Menschheit zur Megamaschine (Lewis Mumford). Das aus der Erkenntnis resultierende Besitz- und Herrschaftsstreben gegenüber Menschen und Natur bewirkt das Umschlagen des Prozesses in sein inhumanes Gegenteil. Einer Gesellschaft, in der das Raffen nach Geld und Besitz als höchstes Ziel gilt, mangelt es an jeglicher Erotik, hier herrscht eitle Selbstgefälligkeit, hat man auf jede Frage sofort eine Erwiderung, ohne eine Antwort geben zu können.

Und Faust? Der wird trotz seiner begangenen Verbrechen am Ende tatsächlich noch gerettet.
Der Engelchor singt:
»Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
‹Wer immer strebend sich bemüht
Den können wir erlösen.›
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.
«
(Johann Wolfgang Goethe: Faust. 2 Bde. Hrsg. Albrecht Schöne. Frankfurt/Main 1999, Bd. 1 /Texte, S. 459)

Wieso Rettung?
»Wer immer strebend sich bemüht …« – einerseits wird das Streben Faustens nach Weisheit und Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält gewürdigt. Das Streben ist höher als das Erlangen. (Herder)
Andererseits hat die »Liebe von oben«, die göttliche Liebe, einen Einfluss auf die Erlösung Faustens. John Milton hatte 1667/74 in seinem Epos »Paradise Lost« erstmals die Vertreibung Evas und Adams aus dem Paradies mit dem Weg in die Selbstständigkeit gleichgesetzt. Der junge Johann Gottfried Herder, der Miltons Epos kannte, schrieb 1768 an seinen ehemaligen Lehrer Johann Georg Hamann, dass man doch stutzig werden müsse, wenn jemand wegen Klugheit aus dem Paradies vertrieben wird. Die Vertreibung sei vielmehr der Weg des Menschen in das Leben auf eigenes Risiko.
Hier steht ein Gottesbild zur Diskussion, in dem Gott eigenständige Menschen liebt, keine Nachäffer. Hans Urs von Balthasar formulierte es später so: Liebe heißt, den anderen in seine Selbständigkeit zu entlassen.
Selbst Mephisto muss am Ende einsehen, dass, trotz seiner gewaltigen Anstrengungen, die Wette mit Gott nicht zu gewinnen ist. Das ist kein Sieg Gottes, im Lichte Spinozas der organischen Kraft der Kräfte, denn dieser Gott will nicht siegen. Herder bringt das Wirken Gottes im Gleichgewicht des Universums in das Bild einer ausgleichenden Vergeltung. Der Goethesche Schluss zeigt, dass eine Wette mit diesem Wesen des Universums nicht funktionieren kann.
Mehr noch: Der Goethesche Mephisto war es am Ende sogar, der einwarf, dass die Elemente stärker sind als der menschliche Wahn, man könne die Natur beherrschen und unterwerfen.
Dem Ensemble des Chemnitzer Schauspielhauses ist zu danken. Diese Inszenierung demonstriert in einer Welt des Spektakels herausragendes eingreifendes Denken in herrlichen Bildern. Zugleich zeigt uns die Inszenierung die unvergängliche Kraft unseres nationalen kulturellen Erbes zur Besonderheit, in einer Epoche, in der auf globaler Ebene in abstrakt-allgemeiner Weise die Vereinheitlichung von Konsumenten und Produkten vorangetrieben wird.
Johannes Eichenthal

Information
https://www.theater-chemnitz.de

Die nächste Aufführung von Faust II ist am 7. Februar.
Am 8. und 9. Februar wird Faust I gegeben.

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