Rezension

EINE REZENSION VON JENS HUMMEL

Die Veröffentlichungen, die sich mit der deutschen Geschichte während des Nationalsozialismus und mit dem zweiten Weltkrieg befassen, sind kaum zu überblicken. Über wohl fast alle Aspekte, die dieser Thematik zuzuordnen sind, wurden bisher ausführliche Publikationen vorgelegt. Allerdings ist festzustellen, dass die verschiedenen Themen im regionalen Kontext in sehr unterschiedlichem Umfang dokumentiert sind und das mancher Sachverhalt in seiner Komplexität nur schwer darstellbar ist. 

Dazu muss vor allem auch das Thema Rüstungswirtschaft im Dritten Reich gezählt werden. Allein die Dokumentation der Rüstungsproduktion in diesen 12 Jahren, von der noch geheimen Wiederaufrüstung, über die zunehmend offene Aufrüstung bis zur Fertigung in den Kriegsjahren, mit den je nach Kriegslage unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und den vielfältigen Problemen, ist eine enorme Herausforderung. Diese anzunehmen und noch mit dem größten Problem der NS-Kriegswirtschaft, dem Arbeitskräftebedarf und dem daraus resultierenden Zwangsarbeitereinsatz zu verknüpfen und eine solch komplexe, detaillierte Arbeit über Sachsen vorzulegen, ist außerordentlich beachtlich und zeichnet die Autoren zweifellos aus. 

Es gelingt ihnen in diesem Buch die Entwicklung im Deutschen Reich aufzuzeigen und die damit verbundenen Folgen für die verschiedenen Regionen in Sachsen zu dokumentieren. Auch werden die Besonderheiten dieser Thematik mit berücksichtigt, die durch die Struktur der sächsischen Industrie mit ihren hauptsächlich klein- und mittelständischen Betrieben und durch die bis 1938 bestehende Grenzlandlage bedingt waren.

Durch die Auswertung von umfangreichem Quellenmaterial zum Thema Rüstungswirtschaft und Zwangsarbeitereinsatz, können die Autoren den zunehmenden Einsatz der sächsischen Wirtschaft für die Rüstungsproduktion sowie die Zusammenhänge zwischen Kriegswirtschaft, Arbeitskräftebedarf und dem daraus resultierenden Einsatz von ausländischen Arbeitskräften deutlich aufzeigen. 

Die enorme Bedeutung dieser Arbeitskräfte in einigen Bereichen der Wirtschaft (Landwirtschaft, Bergbau, Metallindustrie und Bau) wird mit statistischem Material belegt. So stellten die verschiedenen Gruppen teilweise zwischen 25 und 33 Prozent des eingesetzten Personals. 

Nur mit ihnen konnte die Wirtschaft bis Kriegsende aufrecht erhalten werden. 

Die ausländischen Arbeitskräfte müssen sehr differenziert betrachtet werden. Die unterschiedliche Behandlung der eingesetzten  Fremd- und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und KZ-Häftlinge richtete sich in erster Linie nach den nationalsozialistischen Rassedoktrin und der Nationalität der Betroffenen. Dadurch gab es beachtliche Unterschiede in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen. Auch dieser Sachverhalt kann anhand der geschilderten Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Gesundheitsversorgung und Lebensmittelzuteilung von den Autoren anschaulich dargestellt werden. Der Schwerpunkt dieser Studie liegt dabei auf der Dokumentation der größten Gruppen, der „Ostarbeiter“ (Polen und Sowjetbürger), der Kriegsgefangenen und der KZ-Häftlinge.

Die organisatorischen Maßnahmen dieses Arbeitskräfteeinsatzes werden ebenfalls beleuchtet, von der Anwerbung oder zwangsweisen Verpflichtung in den besetzten Gebieten über die Beschaffung von Arbeitskräften in den Kriegsgefangenenlagern und Konzentrationslagern bis zur Schaffung der Voraussetzungen für deren Einsatz am Arbeitsort z.B. zur Unterbringung. 

So erhält der Leser einen umfassenden Überblick über die wirtschaftliche Lage in den Kriegsjahren und somit über eine Ausnahmesituation für die Wirtschaft, die durch viele Einschränkungen und Lenkungsmaßnahmen gekennzeichnet war. 

Die damit verbundenen Entwicklungen werden auch am Beispiel einiger bekannter Firmen dokumentiert und dadurch können die vielfältigen Probleme der Rüstungswirtschaft exemplarisch gut aufgezeigt werden.

Dazu wird z.B. die Astra AG, Chemnitz herangezogen. Damit wurde eine Firma ausgewählt, die in den Kriegsjahren in verschiedene Rüstungsprojekte eingebunden war. So gehörte die Astra AG zur sogenannten Sachsengruppe der Infanteriewaffenhersteller. Es wurden z.B. Verschlusshülsen für den Karabiner 98 k und später Teile für die MP 43 hergestellt. Das Unternehmen war auch an anderen Rüstungsprojekten beteiligt. Von Zündern für 10,5 cm Granaten bis zu Teilen für die V1-Raketen reichte das Produktionsprogramm. Am Beispiel dieses Unternehmens wird dokumentiert wie es zur zunehmenden Ausweitung von Rüstungsproduktion und zum Einsatz von Zwangsarbeitern kam. Anhand solcher Beispiele kann der Zusammenhang zwischen Kriegswirtschaft,  Arbeitskräftebedarf und Zwangsarbeitereinsatz gut dargestellt werden.

In der Veröffentlichung finden sich allerdings nicht nur Informationen zu solchen Industriebetrieben. Auch der Bergbau und die Situation in der Landwirtschaft wurden mit berücksichtigt, was die Dokumentation dieser äußerst komplexen Thematik zusätzlich aufwertet. Somit gelingt eine breit angelegte Darstellung der Entwicklung in Sachsen in diesen Jahren. 

Dabei überwiegt bei der Schilderung der Situation etwas die Region Westsachsen, was sicherlich dem zur Verfügung stehenden Quellenmaterial geschuldet ist.

Auch die vielfältigen Einflussfaktoren, denen die Organisation der Kriegswirtschaft im Laufe der Jahre ausgesetzt war, werden mit aufgezeigt. 

Die unterschiedlichen Möglichkeiten und ideologischen Schwerpunktsetzungen während der Kriegsjahre, der wechselnde Bedarf der Teilstreitkräfte je nach Kriegslage (U-Boot-Krieg/Luftkrieg gegen England/Feldzug im Osten), die teils gegensätzlichen Interessen der unterschiedlichen Akteure (OKW/NSDAP/DAF/Gauverwaltungen/Teilstreitkräfte) und die Konkurrenzverhältnisse der Bedarfs- und Entscheidungsträger lassen erahnen, dass die Kriegswirtschaft nicht ohne teils deutliche Interessengegensätze zu organisieren war. 

Auch das Festpreissystem, mit welchem die Abrechnung der Aufträge ab 1942 erfolgte, bleibt nicht unerwähnt. 

Den Abschluss der Arbeit bildet ein Kapitel, welches die Fremd- und Zwangsarbeiterthematik nach dem Kriegsende beleuchtet. Dies beinhaltet Informationen zur unmittelbaren Nachkriegszeit, in der es in erster Linie um die Rückführung der Arbeitskräfte in ihre Heimat ging. Ergänzt wird dieses Kapitel durch Berichte über die Überprüfungen und Erlebnisse von ehemaligen sowjetrussischen Zwangsarbeitern nach ihrer Rückkehr in die Heimat. Für manche begann hier ein erneuter Leidensweg als vermeintlicher Kollaborateur. Weiterhin wird auf die juristische Aufarbeitung eingegangen und es werden noch die Bemühungen um Entschädigungen der Zwangsarbeiter thematisiert. 

Und doch lässt diese Studie auch noch zukünftigen Autoren Raum für detaillierte Recherchen und interessante Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex. Gerade die Situation der regionalen, mittelständischen Unternehmer, die in der Kriegswirtschaft zwischen den Rüstungsdienststellen und den großen Konzernen standen, bietet dafür noch ausreichend Raum. Wie wurden diese in die Rüstungswirtschaft eingebunden, welche Entscheidungsspielräume hatten sie zwischen direkten Rüstungsaufträgen, Aufnahme von Rüstungsbetrieben oder Betriebsstilllegungen? Welche Folgen hatten diese Sachverhalte nach Kriegsende usw.? Unter regionalen Gesichtspunkten betrachtet, könnte das Thema Wirtschaft und Industrie in den Jahren 1933 bis 1945 noch manche interessante Arbeit hervorbringen. 

Abschließend bleibt die Erkenntnis, dass dieses umfangreiche Werk zukünftig einen bedeutenden Platz als Standardwerk zum Thema Rüstungswirtschaft und Zwangsarbeitereinsatz in Sachsen einnehmen wird. Es führt den großen Umfang von NS-Zwangsarbeit vor Augen und dokumentiert den harten, entbehrungsreichen Arbeitsalltag dieser Menschen, welcher oft unter unmenschlichen Bedingungen ablief und auch aufgrund von unzureichender Ernährung und mangelnder medizinischer Betreuung viele Todesopfer forderte. 

In kaum einem anderen Werk dürfte die Einbindung der sächsischen Unternehmen in die Rüstungsproduktion, verbunden mit dem zunehmenden Einsatz von ausländischen Arbeitskräften, vor allem Zwangsarbeitern und letztendlich KZ-Häftlingen, für den Leser so umfassend aufgezeigt werden.

Dieses Buch ist somit jedem zu empfehlen, der sich mit der Zeit des Nationalsozialismus in Sachsen beschäftigt. Der behandelte Themenkomplex berührt dabei viele Bereiche der geschichtlichen Forschung. Zukünftigen Arbeiten über die sächsische Industrie- und Wirtschaftsgeschichte bzw. über die regionale Militär- und Heimatgeschichte wird diese Studie eine wertvolle Quelle sein.

Jens Hummel

Information

NS-Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft 1939–1945

Autoren: Klaus-Dieter Müller und Dietmar Wendler

Herausgeber: Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Bestellnummer 158*)

701 Seiten, viele Abbildungen, drei Hauptteile mit zehn Kapiteln 

Teil 1: Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft im Deutschen Reich

Kapitel 1: Die Entwicklung bis Ende 1941

Kapitel 2: Kriegswirtschaft und Arbeitskräftebeschaffung im totalen Krieg

Teil 2: Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft in Sachsen

Kapitel 3: Überblick

Kapitel 4: Einzelne Fremd- / Zwangsarbeitergruppen

Kapitel 5: Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft in der Region Chemnitz / Südwestsachsen

Kapitel 6: Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft in den Regionen Leipzig und Dresden 

Kapitel 7: Zwangsarbeit(er) und Abwehrbeauftragte / Werkschutz in den Betrieben: Sicherheit, Repression und Selbstbehauptungsmöglichkeiten

Teil 3: Opfer und Täter nach Kriegsende

Kapitel 8: Befreiung und Repatriierung

Kapitel 9: Juristische Aufarbeitung

Kapitel 10: Wiedergutmachung und Entschädigung 

Literatur- und Quellennachweise und Personenregister schließen den Band ab.

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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