Rezension

DIE ZEIT ZUM WÜNSCHEN IST NICHT MEHR – NACHDENKEN ÜBER CHARLES CROS

Selbst Kennern der französischen Literatur ist das Werk von Charles Cros kaum bekannt. Er wurde am 1. Oktober 1842 in Fabrezan bei Narbonne in einer Künstler- und Gelehrtenfamilie geboren. Er studierte Medizin und Philosophie, experimentierte auf dem Gebiet der Tontechnik und der Farbfotografie. Aus seiner Feder stammt eine „Studie über die Verbindungsmöglichkeiten der Planeten“ aus dem Jahre 1869. Cros schrieb auch Texte für das Pariser Cabaret „Chat noir“. Seine Gedichtsammlung „Le coffret de santal“ (Das Sandelholz) leistete einen wichtigen Beitrag in der Entwicklung des Symbolismus. Charles Cros starb 9. August 1888 in Paris.

Professor Eberhard Görner macht in seinem Beitrag für die Litterata auf die Neuübersetzung des Gedichtbandes „Das Sandelholz“ durch Frank Stückemann aufmerksam. 

Mein Freund George Tabori hat in meinem 2001 für den ORF gedrehten Film „Der Schriftsteller als Fremder“ kategorisch festgestellt: „Das Buch ist heilig!“ Wir leben in einer Zeit des elektronischen Imperialismus, Computer und Handy ersetzen und verdrängen das Buch. Wer liest in diesen verkommenen Werbe-Tempeln heute noch ein Gedicht von Heine oder gar von Goethe, dessen „Faust“ gerade aus dem bayerischen Schulsystem entsorgt wird! Da grenzt es fast an ein Wunder, dass es im westfälischen Bielefeld-Jöllenbeck einen pensionierten Pastor gibt, welcher die im 19. Jahrhundert lebenden berühmtesten Dichter Frankreichs grandios in die deutsche Sprache übersetzt. Frank Stückemann hat dazu noch das Glück, im Aachener Rimbaud-Verlag auf hohem buchbinderischen Niveau verlegt zu werden, wie 2018 mit seinen Übersetzungen zu Paul Verlaine GEDICHTE I französisch/deutsch und 2021 Paul Verlaine GEDICHTE II französisch/deutsch im Lyrik-Taschenbuch Rimbaud. Ohne Zweifel ein verlegerisches Juwel, zu dem in diesem Jahr der lyrische Diamant DAS SANDKÄSTCHEN von Charles Cros im gleichen Verlag erschien. Beide Dichter, Verlaine und Cros, waren befreundet und verfeindet – aber beide sind in ihrer Sicht auf die Welt in unseren Tagen so modern, dass einem der Atem stockt. Wer weiß schon, dass Charles Cros vor Edison das Modell für ein Grammophon erfunden hat, dass er sowohl ein Dichter als auch ein unentwegter Erfinder war, ein Multitalent, das im Alter von nur 45 Jahren am 9. August 1888 in Paris verstarb und mit dessen Name sich die ACADÉMIE CHARLES CROS in Paris schmückt. Charles Cros wurde 1999 schon einmal übersetzt und von dem Literaturkritiker Hans-Joachim Lope positiv mit den Worten reflektiert, dass diese Erstübersetzung „durchweg den Ton des französischen Originals“ traf. Aber es geht noch besser, wie der Cros-Experte Dieter Kranz die Übersetzungs-Kunst von Frank Stückemann beschreibt: „Der Text folgt dem französischen Original inhaltlich und formal. Die Ausdrucksweise ist gegenüber der Erstfassung bodenständiger, an der Alltagssprache orientiert und eingängiger. Er liest sich einfacher, ist leichter verständlich und wirkt auf Grund seiner Bildlichkeit und seiner Musikalität deutlich nach.“ Um es auf den Punkt zu bringen. Wer wissen will, wie das Leben in Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Seine hinabfloss, muss DAS SANDELKÄSTCHEN lesen. Frank Stückemann erzählt in seinem Nachwort sehr ausführlich über die Bruder-Feindschaft Verlaine-Cros, wo es auch immer um die Rivalität in der Liebe ging, darüber, dass dem Dichter Cros stets eine leere Geldbörse begleitete, aber er seinem dichterischen Programm konsequent die Treue hielt: „Da selten Ruhm aus Gold besteht,/Säet Lieder der Poet auf Erden,/Die immer auferstehen werden.“

© Atelier Nadar / Bibliothéque national de France

Charles Cros Gedichte sind geschrieben wie die Partitur einer Komposition, die sich melodisch aufteilt in die Akte Dauernde Lieder / Vergangenheit / Antwort / Dramen und Phantasien/Zwanzig Sonette / Salzkörner/ Prosaphantasien – viele seiner Gedichte besingen die Liebe, die Schönheit der Frauen, den Rausch der Pariser Nächte aus Tabak und Absinth und gleichzeitig die Sehnsucht, dieser Droge zu entsagen. Die Seele soll Heilung suchen in der Natur. Lässt man sich tiefer auf letzteres Kapitel ein, wird deutlich, wie Charles Cros vom Reichtum der Natur überwältigt ist. Ihm sind die kleinsten Lebewesen wert in seinem dichterischen Wort, die helfen, die Ferne der Geliebten zu überwinden:

Um sie soll mir kein Trennungsschmerz aufkeimen;

so gehe tagsüber ich in den Wald

Und suche ein Versteck zum Aufenthalt.

Zwei Schmetterlinge schwärmen unter Bäumen,

Gleich Hunden, die man an die Leine schnallt.

Ich strecke mich in zartem Gras. Es kreisen

Auf meinem Leib, ohne dass ich es spür,

Die Mücken, Weberknechte, Waldameisen.

Die Nachtigallen schlagen über mir.

Ich denkʼ an meine Liebste, die auf Reisen.

© Atelier Nadar / Bibliothéque national de France

Charles Cros setzt in seinen Gedichten ganz bewusst Kontrapunkte, lässt beim Leser keine Illusion zu, wenn er in seinem Drama in drei Balladen, an das erbärmlich Leben in der Groß-Stadt denkt, die ihn magisch anzieht, obwohl er weiß, was ihn erwartet:

Doch schmerzt der Pfeil, der mich traf, im Geheimen,

Wenn abends auf den Straßen Lärm erschallt,

Aus offenen Cafés das Gaslicht strahlt

Und Leiber sich obszön beim Tanz aufbäumen

Und Fleisch sich zeigt, Labsal für Würmer bald.

Vor Trübsal lasse ich in trauten Kreisen

Bei euch zuweilen durch das blonde Bier

Mich stumpf und stumm zur Trunkenheit hinreißen,

Und dabei singt und lacht und feiert ihr,

Ich denkʼ an meine Liebste, die auf Reisen.

In seinem Nachwort zitiert Frank Stückemann Crosʼ Schwester, welche von ihrem Bruder wusste: „Charles Cros hatte die tröstende Überzeugung, dass eine in die Welt geworfene Idee sich niemals verliert und dass diese Idee eines fernen Tages seine Früchte bringen wird.“ Und ich kann Frank Stückemann nur zustimmen, wenn er feststellt, dass die Sprache von Charles Cros „gesund ist, einfach, ohne Neologismen und Archaismen. Sie bietet die Qualität einer klassischen Sprache, sozusagen mühelos in allen Epochen zeitgemäß.“ Ich wünsche dem Übersetzer Frank Stückemann und seinem bewundernswerten mutigen Rimbaud-Verlag viele tausend Leser, denn es geht im real existierenden globalen Kapitalismus inzwischen nicht nur um die Verteidigung von Luft, um Wälder, Erde und Wasser. Es geht auch um die Verteidigung der Muttersprache, um die französische wie um die deutsche, die uns die Kostbarkeit der Schöpfung unserer Welt seelisch bewusst macht!

Eberhard Görner

Information

Charles Cros: Le coffret de santal / Das Sandelkästchen; französisch / deutsch; übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Frank Stückemann; Rimbaud Verlag Aachen, 2022

ISBN 978-3-89086-639-0

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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