Rezension

TRIBUNAL ALS TRAUMA

Das Exil in der Sowjetunion erwies sich in den Jahren des Großen Terrors (1936–1938) für deutsche Kommunisten und Kommunistinnen oft als verhängnisvoll, mehr als 70 Prozent von ihnen waren Repressionen ausgesetzt, die vom Verlust des Arbeitsplatzes über langjährige Lagerhaft bis zur Hinrichtung reichten. Davon waren natürlich auch die antifaschistischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller betroffen, die nach 1933 in die UdSSR emigriert waren oder schon länger dort gelebt hatten. Die meisten von ihnen waren in der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverband organisiert. Dabei handelte es sich aber nicht, wie anzunehmen wäre, um eine Art Schriftstellergewerkschaft, sondern primär um ein Organ der ideologischen Disziplinierung. Der Ausschluss aus dieser Organisation bedeutete gleichzeitig den Verlust der Publikationsmöglichkeiten. Bei der Beschreibung des Innenlebens und des Wirkens der genannten Sektion waren die Wissenschaft und die interessierten Leser bis zum Ende der Sowjetunion auf die Memoirenliteratur und einige Nachlässe Überlebender angewiesen. 1991 hatte Reinhard Müller erstmals das im Archiv der Kommunistischen Internationale gefundene komplette Protokoll einer geschlossenen Parteiversammlung der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands vom September 1936 veröffentlicht, einer Parteiversammlung, die besser den Titel „Tribunal“ verdient hätte. Es ging nicht um ein kollegiales Miteinander, sondern um Verdächtigungen, Vorwürfe und um das Problem der „Kontaktschuld“, der zur Folge jemand eine Person gekannt oder diese gar gefördert habe, die inzwischen als „Volksfeind“ liquidiert worden war. Diese Parteiversammlung reflektierte auch die Situation nach dem ersten großen Schauprozess gegen die alten Bolschewiki um Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, deren Hinrichtung auch von den deutschen Kulturschaffenden enthusiastisch begrüßt wurde. Diese Parteiversammlung blieb aber bei weitem nicht der Höhepunkt, in der nächsten Zeit, vor allem im Terrorjahren 1937 und 1938, wurden die Tribunale fortgesetzt, mit der vorläufigen Bilanz, dass sich einige der Protagonisten der September-Parteiversammlung inzwischen in Haft befanden oder nicht mehr lebten.

Die Dokumente jener Jahre, die von der Slawistin Anne Hartmann und dem Historiker Reinhard Müller, beide wohl zu den besten Kennern des Sowjetexils gehörend, in mühevoller Kleinarbeit aus den russischen Archiven und der seinerzeit in Moskau erschienenen kleinen, aber einflussreichen Deutschen Zentral-Zeitung zusammengetragen haben, zeichnen ein erschreckendes Bild der ideologischen Verbohrtheit, des bis zur tödlichen Animosität getriebenen Konkurrenzdenkens und der politisch drapierten menschlichen Niedertracht. Die „Ingenieure der Seele“, wie Stalin die Schriftsteller nannte, die den neuen Menschen, die beste aller Gesellschaften und die Sowjetrealität als den Gipfel des Humanismus beschreiben sollten, illustrierten eher das, was Nadeshda Mandelstam als das „Jahrhundert der Wölfe“ nannte.

Die Dokumente beginnen mit dem Fall des jungen Schriftstellers Samuel Glesel, der versuchte, obwohl er sie selbst nicht erlebt hatte, die Realität des antifaschistischen Kampfes im nationalsozialistischen Deutschland zu beschreiben. Zunächst als hoffnungsvoller Nachwuchs gefeiert, wurde er von Otto Bork (d.i. Otto Unger), dem Leiter der Deutschen Sektion der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR, wegen Weltfremdheit kritisiert und von Erich Weinert als „Schandfleck der deutschen Literatur“ bezeichnet. Im September 1936 wurde Glesel aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, im September 1937 verhaftet und im Oktober gleichen Jahres erschossen. Einen Monat später verhaftete des NKWD auch Otto Bork, im März 1938 traf ihn die tödliche Kugel.

Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen wie Thomas Mann und Lion Feuchtwanger, die schon vor ihrer Emigration im Ausland bekannt waren und dort wegen hoher Auflagen relativ sorgenfrei leben konnten, war das Exil für die deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen in der Regel eine harte und sorgenvolle Prüfung, aber sie mussten politisch wohl weniger Rücksicht nehmen. So bekamen z.B. der Dichter Johannes R. Becher und der Ökonom Hans Günther anhaltenden Ärger und Rechtfertigungsdruck, weil sie eine halbe Stunde vor deren Ende eine Parteiversammlung des sowjetischen Schriftstellerverbands verließen. Günther wurde wenig später verhaftet und verstarb im Gulag. Auch der Österreicher Hugo Huppert, der ebenfalls der Deutschen Sektion angehörte, war verhaftet und nach erheblichen Torturen wieder aus der Haft entlassen worden. Als er im Vertrauen seinem Kollegen Franz Leschnitzer von den „asiatischen Methoden“ des NKWD erzählte, informierte dieser sofort die KPD-Vertretung in Moskau. Das hatte zur Folge, dass sich Huppert, erneut bedroht, immer wieder rechtfertigen und Stellungnahmen abgeben musste. Schnell entstand ein „Fall Huppert“, weil seine Genossen nun auch über frühere „Verfehlungen“ zu berichten wussten. Letztlich hatte Huppert Glück, dass der größte Terror schon im Abflauen war.

Vermutlich hatten die Überlebenden, auch die der Lager, gehofft, dass es keine Protokolle ihres Handelns gibt. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil schwiegen sie, die ehemaligen Häftlinge aus Angst, die Schriftsteller und Funktionäre, um ihre neue Position und den um sie entstehenden Mythos nicht zu gefährden.

Für die einzelnen Dokumentenblöcke hat Anne Hartmann eine detaillierte und kenntnisreiche Einführung geschrieben, die die dazu gehörigen Dokumente leichter verständlich und erlebbar machen. Selbst ihre Fußnoten haben lexikalischen Wert, weil durch sie das Wesentliche über die handelnden Personen zu erfahren ist.

Der weitaus größte Teil der Dokumente ist das Resultat jahrelanger Arbeit im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) und im Komintern-Archiv, das zum Staatlichen Archiv der Russischen Föderation für soziopolitische Geschichte (RGASPI) gehört.

Das Buch ist nicht nur eins der wichtigsten und am besten recherchierten Bücher über das Sowjetexil, es ist durchaus möglich, dass es seinen singulären Charakter auch durch die immer restriktiver werdende russische Archivpolitik erfährt. Es besteht die Gefahr, dass Dokumente dieser Art in Zukunft nicht mehr zugängig sind.

Werner Abel

Information

Anne Hartmann und Reinhard Müller (Hg.) Tribunale als Trauma. Die Deutsche Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands, Wallstein Verlag, Göttingen 2022, 469 Seiten, 39,00 €

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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