Reportagen

SELBSTBEHAUPTUNG UND SELBSTBEGRENZUNG – EUROPAS PLATZ IN EINER MULTIPOLAREN WELTORDNUNG

Am Abend des 27. Oktober hielt Prof. Dr. Heinz Theisen im Esche-Museum Limbach-Oberfrohna einen Vortrag unter dem Titel „Selbstbehauptung und Selbstbegrenzung – Europas Platz in einer multipolaren Weltordnung.“ Eingeladen hatte der Verein „L.O.s gehts e.V.“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe Bürgerakademie.

Peter Siegel vom gastgebenden Verein begrüßte die Gäste und stellte den Referenten Heinz Theisen, Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln, der in Göttingen und Bonn studiert hat, vor. 

Professor Theisen begann mit dem Verweis darauf, dass „Selbstbehauptung“ eines Staats leicht für selbstverständlich gehalten werde. Doch das sei nicht so. Im Durchschnitt der Weltgeschichte betrage die „Lebenszeit“ eines Staates nur 24 Jahre. Auch die Existenzsicherung unseres Staates sei nicht im Selbstlauf möglich, bedürfe der beständigen Arbeit.

Seit einiger Zeit werde die notwendige Diskussion um diese Existenzsicherung durch eine Polarisierung erschwert, die das alte Links-Rechts-Schema ersetze. Das eine Extrem seien die „Globalisten“, die eine vollständige Verwestlichung der Welt, die vollständige Öffnung aller Grenzen für Finanzen, Waren und Dienstleistungen forderten. Das andere Extrem seien „Protektionisten“, die gegen die rasante Vereinheitlichung der Welt durch mächtige „Global Player“ Schutz durch intakte Grenzkontrollen, die Wiedereinführung von Handelszöllen und den Nationalstaat forderten.

Besorgniserregend sei, dass zwischen den beiden Lagern keine Diskussion mehr stattfände. Man habe sich auf moralisierende Positionen zurückgezogen

Als Ursache für die heute in den Funktionseliten dominierende Sichtweise des Globalismus nannte Theisen zunächst das Ende des Marxismus um 1990. Auf Nachfrage fügte er an, dass die multinationalen „Global Player“ ebenfalls diese Position vertreten, dass es zu einer unglücklichen Allianz von sich „links“ gebenden Menschen und mächtigen Globalkonzernen gekommen sei.

Selbstbegrenzung Europas sei nötig, um der Gefahr der Entgrenzung, der Überdehnung zu entgehen. Theisen plädierte für einen Mittelweg zwischen Globalisten und Protektionisten, um sich in einer multikulturellen und multipolaren Welt behaupten zu können.

Nach dem Vortrag antwortete Professor Theisen geduldig auf Fragen aus den Reihen der etwa 70 Zuhörer. Die Fragenden teilten die Sorgen des Referenten. Es war ein angenehmer Meinungsaustausch auf hohem Niveau. 

Information

Heinz Theisen: Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen. Lau-Verlag Reinbeck. 390 Seiten VP 24,80 € ISBN 978-3-95768-236-9

Kommentar

Vielleicht können wir den Vortrag noch besser einordnen, wenn wir an einige Eckpunkte der Diskussion seit 1990 erinnern. Die Vorstellung, dass der Westen die „Universalkultur“ sei, entstand nach 1990 bei ehemaligen Linken in Deutschland, die aus Furcht vor einem wiedervereinigten Deutschland eine Flucht nach vorn antraten und bei den Neocons in den USA in der Gestalt des Konzeptes einer „Neuen Weltordnung“. (Deutsche Übersetzung: S. Brzezinski: „Die einzige Weltmacht“. Frankfurt/Main 1997.)

In Deutschland wurde diese Veränderung im Denken der Funktionseliten in der Reaktion auf die konservative Kritik an der neokonservativen Doktrin einer „Neuen Weltordnung“ durch den Harvard-Professors Samuel P. Huntington „The Clash of Civilizations“ deutlich. Huntington hatte darauf verwiesen, dass der Westen aufhören müsse, den anderen seine Kultur aufzudrängen. Die westliche Kultur sei nicht die Universalkultur, sondern eine besondere Kultur, wie alle anderen. Man müsse mit den anderen Kulturen in einer multikulturellen und multipolaren Welt friedlich zusammenleben. In der Reaktion auf dieses Buch war bereits das Ende der früheren Debattenkultur zu verzeichnen. Massenhaft verurteilten Rezensenten Huntington, zum größten Teil ohne das Buch gelesen zu haben, als „rechts“, „faschistisch“ usw. Ulrich Menzel konstatierte nur wenige ausgewogene Kritiken gegen Hunderte Verrisse. (Vgl. die Litterata über Huntington: https://www.mironde.com/litterata/2753/essay/kassandra)

Im Jahre 2004 wurde der 200. Todestag Immanuel Kants zum Anlass verstärkter Bezugnahme auf den abstrakten Kosmopolitismus des Königsbergers. Am häufigsten verwiesen Leute auf Kant, die ihn weder gelesen noch verstanden hatten. In München kam es 2004 in der Hochschule der Jesuiten zu einer Diskussion zwischen dem Stimmführer des abstrakten Kosmopolitismus und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels Professor Jürgen Habermas und dem damaligen Präfekten der Vatikanischen Glaubenskongregation Kardinal Joseph Ratzinger. Der Kardinal demonstrierte auf weltbürgerliche Weise, dass weder das Christentum noch der „okzidentale Rationalismus“ universellen Charakter besitzen. Er verwies darauf, dass es die Weisheit gebietet, nicht in andere Kulturen und Religionen einzugreifen. Das Ergebnis der Diskussion wird bis heute kaum beachtet. (Vgl. die Litterata-Rezension der Debatte: https://www.mironde.com/litterata/8260/rezension/der-philosoph)

Im Jahre 2022 jährte sich der Todestag des deutschen Außenministers, Unternehmers, Künstlers, Musikers und Philosophen Walther Rathenau zum 100. Male. Er hatte 1916/17 in seinem Buch „Von kommenden Dingen“ die Verbindung von Industrie und Vernunft, die Durchdringung des gesamten menschlichen Lebens mit der Forderung nach finanzieller Effizienz „Mechanisierung“ genannt (heute „Globalisierung“). Rathenau verwies darauf, dass die in Deutschland seit Kant dominierende universitäre „Intellektualphilosophie“ nicht nur nicht helfe, uns gegen die Versklavung durch die Mechanisierung/Globalisierung zu behaupten, sondern dass die Intellektualphilosophie diese Effizienz-Maschinerie sogar noch beschleunigt. Dagegen helfe uns nur geistige Kraft, „Liebe zur Weisheit“, Stärkung unserer Seelenkräfte und Spiritualität. (Vgl. Litterata-Erinnerung an Rathenau: https://www.mironde.com/litterata/10231/essay/der-alternative)

Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, dass sich selbst die heutige „antideutsche“ Globalismus-Ideologie tief in den Wäldern alter deutscher Tradition verirrt hat. Mehr noch, sie befindet sich auf einem der „Holzwege“. Kant vertrat einen abstrakten Kosmopolitismus, den er selbst „kosmopolitischen Chiliasmus“ nannte. Bereits Johann Gottfried Herder kritisierte die abstrakte Vorstellung einer „reinen Vernunft“ und die simplen Denkfehler Kants: Das Allgemeine existiert einzig in der Mathematik rein, in der Wirklichkeit immer nur als innerer Zusammenhang des Besonderen. Deshalb kann keine besondere Kultur die allgemeine, die universale Menschheitskultur sein.

Angesichts der von Professor Theisen vorgetragenen komplizierten Thematik ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass ein solch zahlreiches, fachkundiges und diszipliniertes Publikum an diesem Abend den Weg ins Esche-Museum fand. Allen Aktiven ist zu danken!

Johannes Eichenthal

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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