Der 20. März war der Tag des Frühlingsanfangs. Die Sonne erwärmte die Chemnitzer Luft. Nur ab und zu wagte sich ein kühles Lüftchen durch die Stadt. Erste Frühlingsgefühle schwebten ein. Die Goethe-Gesellschaft Chemnitz hatte zu einem Vortrag Prof. Dr. Hans Joachim Kertschers (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) eingeladen. Die Gäste wurden von Siegfried Arlt, dem Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, empfangen. Langsam füllten sich die Sitzreihen in der neuen Sächsischen Galerie.

Um 19 Uhr begrüßte Siegfried Arlt voller Freude den Referenten Prof. Dr. Kertscher (Jg. 1944), den Vorsitzenden des Goethe-Gesellschaft-Ortsvereins Halle. Von 2011 bis 2019 war Prof. Kertscher auch Vorstandsmitglied der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. Ebenso ist er Mitglied der Christian-Wolff-Gesellschaft.

Der Vortrag trug den Titel „Goethe in der Essayistik Thomas Manns“. Der Referent wählte die klassische Vortragsweise. Er entfaltetet vor den Zuschauern ein Panorama der Goethe-Rezeption Thomas Manns. Wenngleich Mann Goethe seit der Jugend geschätzte habe, seien seine Idole jedoch Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Richard Wagner gewesen. Ausführlich zitierte Kertscher aus Essays Thomas Manns. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den „Bekenntnissen eines Unpolitischen“ (1918), „Goethe und Tolstoi“ (1925), ging dann zu dessen Festvorträgen zum 100. Todestag Goethes im Jahre 1932 in Berlin, Frankfurt am Main und Weimar über, kam zum Roman „Lotte in Weimar“ (1939) und schließlich zu den Festvorträgen Thomas Manns anlässlich der Feiern zum 200. Geburtstag Johann Wolfgang Goethes in Frankfurt am Main und Weimar im Jahre 1949.

Siegfried Arlt leitete zu Fragen und Ergänzungen über.

Abschließend dankte er dem Referenten für sein Engagement

Auf dem Heimweg wurde uns noch einmal bewusst, dass man sich die Chemnitzer Goethe-Gesellschaft nicht ohne Siegfried Arlt vorstellen kann. Seit vielen Jahren engagiert er sich, gegen den allgemeinen Trend, für die Annahme des kulturellen Erbes, dass unter dem Namen „Goethe“ firmiert. Er folgt damit dem Ethos seiner Vorgänger. Die Chemnitzer Goethe-Gesellschaft wurde 1926 gegründet. Damals gehörte es zu den Voraussetzungen des Geschäftslebens, dass man Goethes Werke kannte. In den Oberstufen der Gymnasien wurde zu Thomas Manns Zeiten im Deutsch-Unterricht je ein Jahr Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe gewidmet. Das Unterrichtsniveau entsprach heutiger Hochschulbildung. Gymnasiallehrer wie Bernhard Suphan gaben gemeinsam mit Kollegen Herders Sämtliche Werke oder die Sophien-Ausgabe der Werke Goethes auf noch heute respektiertem Niveau heraus. Wirtschafts-Heroen, wie Walther Rathenau oder Salman Schocken sahen den Goethe-Mythos als Lebensorientierung an.
Thomas Mann besaß also, wie jeder Gymnasiast, eine solide Goethe-Bildung. Doch die Reichstagswahl vom 14. September 1930 führte bei ihm zu einer neuen Schwerpunktsetzung. In seiner „Deutschen Ansprache“ vom 17. Oktober 1930 im Berliner Beethovensaal verwies er darauf, dass der überraschende Sieg der Neo-Nationalisten nicht allein auf die wirtschaftliche Lage zurückzuführen sei, denn sonst hätte die KPD gewonnen. Vielmehr sah er im allgemeinen Kulturverfall die Ursachen. In seiner Analyse nahm Thomas Mann Theodor Adornos These von der Rolle der Massenkulturindustrie teilweise vorweg. An exponierter Stelle frage Thomas Mann, ob der Fanatismus, die gliederwerfende Unbesonnenheit, die orgiastische Verleugnung von Vernunft, Menschenwürde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause sei. Seine Antwort lautet: Nein. Er zitierte an dieser Stelle Goethes Epilog zu Schillers Glocke gegen den Anspruch der Public-Relations-Abteilung der NSDAP.
Ein lukratives Angebot des S. Fischer Verlages, 1932 ein Goethe-Buch mit 350 Seiten zu veröffentlichen, lehnte Thomas Mann noch ab. Aber sein Engagement in den Goethe-Feiern von 1932 zeigte, dass er sich intensiv mit Goethe beschäftigte.
Von Heinrich Mann ist der in englischer Sprache getätigte Ausspruch Thomas Manns, bei der Einreise in die USA gegenüber Journalisten, überliefert: „Wo ich bin, da ist deutsche Kultur!“ Im Unterschied zu anderen deutschen Intellektuellen bestritt Thomas Mann grundsätzlich, dass die NSDAP deutsche Kultur vertrete. Er griff dazu auf den Goethe-Mythos zurück, den Bettina von Arnim und Rahel Varnhagen in ihren Berliner Salons aus dem Erbe Weimars und der preußischen Reformer zur Kulturstaats-Idee weitergeführt hatten
Thomas Manns Anstrengungen zur Verteidigung der deutschen Kultur kulminierten im Romanprojekt „Lotte in Weimar“. Unter den Bedingungen des Exils wurde nicht nur die Arbeit am Manuskript, sondern auch die Übersendung der Manuskripte über verschiedene Adressen an den S. Fischer-Verlag, dessen Exil zunächst nach Wien und dann nach Stockholm führte, zu einem Abenteuer. Für 1938 geplant ging das Buch erst im November 1939 in den Niederlanden in den Druck und erschien im Dezember 1939 als erster Band der Stockholmer Ausgabe der Werke Thomas Manns.
Die Reden zum 200. Geburtstag Goethes, die Thomas Mann, in Frankfurt am Main und in Weimar hielt, kann man in diesem Kontext verstehen. Samuel Fischer, der Thomas Manns „Buddenbrooks“ verlegte, hatte seinen Verlag, in Weiterführung des geistigen Weimar, als Kulturbrücke in Europa aufgebaut. Um diese geopolitische Verantwortung Deutschlands ging es Thomas Mann, dessen Geburtstag sich 2025 zum 150. Male jährt, bei seinem Goethe-Engagement.
Der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft und ihrem Vorsitzenden ist für ihr unentwegtes Engagement zu danken.
Johannes Eichenthal
Information
Der gebürtige Chemnitzer Walter Janka, der damalige Leiter des Berliner Aufbau-Verlages, veröffentliche anlässlich des 80. Geburtstages Thomas Manns, am 6. Juni 1955, die zweite Gesamtausgabe der Werke des Meisters in zwölf Bänden. (Die erste Ausgabe war anlässlich dessen 50. Geburtstages im Jahre 1925 erschienen.) Die Bücher wurden auf Papier aus der Patent-Papier-Fabrik Penig in den Offizin Alexander Nexö in Leipzig gedruckt.
Im Mironde-Verlag erscheint am 23. April 2025 der dritte Band der „Literarischen Wanderung durch Mitteldeutschland. Sprache und Eigensinn 3. Von Thomas Mann bis Gundermann.“ Es werden 26 Personen vorgestellt. Neben einem Kapitel zu Thomas Mann ist ein Kapitel Walter Janka gewidmet.
Bestellbar im Buchhandel oder direkt beim Verlag: https://buchversand.mironde.com/p/andreas-eichler-literarische-wanderung-durch-mitteldeutschland-t-3-von-thomas-mann-bis-gundermann
Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.
Lieber Andreas Eichler,
für die große Wertschätzung unserer Veranstaltung , wie Du sie oben dargestellt hast, in der Neuen Sächsischen Galerie, bedanke ich mich von ganzem Herzen – empfinde ich diese doch in meiner derzeitig miserablen, gesundheitlich etwas eingeschränkten Lage, wie es möglicherweise Thomas Mann empfunden haben mag, als ihm am 10. Dezember 1929 der Literatur-Nobelpreis in Stockholm überreicht wurde. Dass ich Thomas Manns Identifikation in der Nachfolge Goethes bewundere, hat ganz einfach damit zu tun, wie wir selbst, also ganz persönlich mit dem umgehen, was wir Erbe nennen.
Für mich bedeutet es Erneuerung des Geistes im Bezug auf unseren Fortbestand und eben das erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.
Siegfried Arlt
Lieber Andreas,
ich freue mich, daß Du auch Siegried Arlt in Erinnerung rufst. Ich bin mir gewiß, er hat gegenüber Goethe und Mann den weitaus liebenswerteren Charakter und jedenfalls die schönste sonore Stimme.
Ja, ich weiß, man soll den Menschen vom Werk trennen, aber ich denke so gern zurück an unsere legendären Lesungen von Werken Gert Hofmanns im „Stadt Wien“.
Ob die „Kulturhauptsatdt“ ihren Siegfried und die von ihm so unermüdlich geleitete Goethe-Gesellschaft zu Chemnitz recht zu schätzen weiß? Ich wünsche ihm alles Gute!
Herzliche Grüße
Dr. Steffen Heinrich