Reportagen

Herbstlese 2012

Am Nachmittag des 27. Oktober war in der Stadtbibliothek Chemnitz ein Lesemarathon des Schriftstellervereins Chemnitz-Erzgebirge angekündigt. Der Winter hatte über Nacht Einzug gehalten. Wege und Straßen bedeckte eine Schicht nassen Schnees. Einige Landstraßen des Erzgebirges wurden gesperrt. Züge hatten Verspätung. Dennoch konnte Uwe Hastreiter von der Stadtbibliothek Chemnitz einem zahlreichen Publikum vierzehn Schriftsteller vorstellen. (Nur einer war im Schnee stecken geblieben. Wir hoffen, dass er inzwischen wieder zuhause ist.) Sechs Stunden sollte die Veranstaltung dauern. Musikalische Unterstützung bot die Brazz-Band-Chemnitz.

Uwe Hastreiter hob hervor, dass die Veranstaltung ein Teil der bundesweiten Veranstaltungsreihe »Treffpunkt Bibliothek« sei. Die Chemnitzer Stadtbibliothek habe zwischen 24. und 31. Oktober eine abwechslungsreiche Veranstaltungsreihe aufgeboten. Die Herbstlese des Schriftstellervereines Chemnitz-Erzgebirge nehme dabei einen besonderen Platz ein. Kenntnisreich stellte Hastreiter dem interessierten Publikum jede einzelne Schriftstellerin oder Schriftsteller vor. Die Bibliothek präsentierte zudem eine liebevoll zusammengestellte Auswahl der Werke der anwesenden Schriftsteller aus dem Bibliotheksbestand.

Uwe Hastreiter dankte abschließend der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen für die Unterstützung der »Herbstlese des Schriftstellervereines Chemnitz-Erzgebirge«.

Und schon ging es los. Es folgte Lesung auf Lesung:

Katharina Kammer-Veken

Regina Röhner

Wolfgang Eckert

Karl Sewart

Günter Saalmann

Brazz-Band-Chemnitz

Hans-Jörg Dost

Utz Rachowski

Uwe Schneider

Rainer Klis

Hans Brinkmann

Matthias Zwarg

Hermann Friedrich

Gerhard Birk

Andreas Eichler

 

Kommentar

Die Zuhörer verfolgten die Lesungen mit großem Interesse. Es entstand eine Art von Kaffeehausatmosphäre. Ein kleinerer Teil des Publikums hielt bis zum Schluss durch. Die Mehrheit nahm für jeweils einige Stunden teil. Die Zuhörer lauschten, lachten und wurden traurig, wie es in den Geschichten zu hören war. Unter den Besuchern war auch Elke Beer, die Leiterin der Chemnitzer Stadtbibliothek, der Maler und Grafiker Uwe Mühlberg und der Buchhändler Michael Schneider. Selbst der letzte Akteur in der Reihenfolge hatte noch erfreulich viele Zuhörer. Es war ein Ereignis.

Aber im Zeitalter der »Globalisierung«, der weltweiten Vermarktung von Massenbuchautoren, die von weltweit tätigen Lektoren »optimiert« werden, die mit einer Millionen-Startauflage beginnen, die fast gleichzeitig in alle kommerziell interessanten Sprachen übersetzbar sind, die von Oslo bis Feuerland und von Wladiwostok bis Lissabon verkauft werden können, die mit Literatur-Preisen überhäuft und deren Bilder permanent in den Massenmedien präsent sind, könnte man die regionale Literaturszene für »Kleingärtnervereinigungen« halten.

Vielleicht müssen wir aber zunächst einmal die allgegenwärtige Perspektive der heutigen neoliberalkonservativen Machtelite verlassen, um wieder den Horizont zu erblicken? Denn im menschlichen Leben und auch auf dem Feld der Literatur kommen wir auf Dauer nicht mit einer »Kurz-Sicht« aus.

Literatur ist immer ein Moment unserer historischen Sprachentwicklung gewesen. Regionale Besonderheiten führten zu sprachlichen Besonderheiten und diese zu regionalen Literaturszenen. Nennen wir unsere Ausgangsposition einmal Muttersprache. Wenn abstrakt-kosmopolitisch orientierte Sprachwissenschaftler heute einen Satz von Wilhelm von Humboldt falsch verstehen, dann kommen sie zur irrigen Meinung, unsere Muttersprache sei ein »Gefängnis«.

Wir nehmen aber mit unserer Muttersprache die Besonderheiten unserer Heimat auf, gleichzeitig treten wir mit unserer Muttersprache in den allgemeinen Kreis der Menschheit ein. Es gibt keinen anderen Zugang zum Allgemeinen als über das Besondere. Zudem, an dieser Stelle muss ich einmal auf Johann Gottfried Herder verweisen, stiftet Sprache immer gleichzeitig Gemeinschaft, wie sie auch trennt. Darin ist Sprache jedoch keine Ausnahme. Alles Lebendige ist mit seinem Gegenteil verbunden. Doch letztlich ist Sprache die Ebene, auf der der Mensch ein poetisches Verhältnis zur Welt, das eigentlich menschliche Verhältnis zur Welt entwickeln kann.

So entstanden auf der ganzen Erde, in der ganzen Menschheit, in den Regionen auch Sprachlandschaften. Das sind keine feststehenden Formationen. Auch unsere Sprachlandschaft verändert sich. Neue Wörter werden geboren, reisen ein oder werden erfunden. Andere Wörter verschwinden. Puristen sehen mitunter die literarische Hochsprache als Kriterium und vermuten Gefahren von Seiten weniger gebildeter Menschen.

Doch die Gefahr für unsere Sprachlandschaft kommt heute, wie der bekannte Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant unlängst in der FAZ schrieb, nicht von »unten«, sondern von »oben«. Im Bestreben ihr Globalisierungs-Projekt als Vereinheitlichung zu betreiben, reduziert die neoliberalkonservative Machtelite ihre Sprache heute auf ein bloßes Kommunikationsmittel und bevorzugt eine Art von amerikanischem Englisch-Verschnitt. Mitunter hat man den Eindruck, dass diese ewig jungen dynamischen Manager und Politiker am Ende darauf insistierten, dass alle Menschen ihr vereinheitlichtes und verquastes Englisch sprächen. Diese Sprache und diese Denkweise spiegeln sich letztlich in der immer mehr vereinheitlichten globalen Erfolgsliteratur.

Kann man sich gegen eine solche Macht behaupten?

Vielleicht liegt in unserer Ohnmacht die größte Stärke? Man kann zunächst einmal »abschalten«. Eine andere Frage ist, wie man sich behaupten kann. Über Jahrhunderte erwarben Kinder ihre Kenntnisse in der Muttersprache im Alltag. Die Erzählung von heimatlichen Sagen durch Großeltern und Eltern nahm einen wichtigen Platz ein. Wie nebenbei lernten die Kinder auf diese Weise die heimatliche Landschaft und die Sprachlandschaft kennen. Über die Heimatsagen erfolgt der Zugang zur Weltliteratur. Zudem eigneten sich die Kinder einen regional besonderen Zugang zum Denken an. Wir können nur denken, was wir auch sprechen können. Aber auch unsere Konstituierung als autonome Menschen erfolgt in Sprache. Von einigen Künstlern sind die Zweifel an der Vermutung, wir würden uns in einem »Ich-Bewusstsein« konstituieren, überliefert. Aus lokalpatriotischen Gründen zitieren wir nicht Friedrich Nietzsche, sondern Heiner Müller: »Ich, das ist ein anderer!«

Nicht in einer Flucht in eine naturalistische Vorstellung eines völlig determinierten Menschen liegt die Lösung, sondern in der Einsicht von der Sprachgebundenheit von Vernunft und Bewusstsein. In diesem Lichte wird deutlich, dass regionale Sprachlandschaften für unsere Konstituierung grundlegend sind, und dass die regionale Literatur in dieser Landschaft wächst. Die Bücher der regionalen Autoren sind also für die Bildungslandschaft einer Region von besonderer Bedeutung. Reich ist eine Region, in der regionale Literatur gelesen wird. Mindestens genauso wichtig wie die Bücher, ist die öffentliche Diskussion, der Dialog zwischen Autoren, Lesern, Buchhändlern, bildenden Künstlern, Musikern und Literaturwissenschaftlern.

In diesem Lichte ist es vielleicht gar nicht ehrenrührig, regionale Autoren als Sprach-»Gärtner« zu bezeichnen. Im Gegenteil.

Johannes Eichenthal

One thought on “Herbstlese 2012

  1. Sehr verehrter Herr Prof. Eichenthal,

    nun bin ich wieder in heimatlichen Gefilden, lese die obige „Litterata“ (ein Segen, dass es eine solch großartige Doku gibt !) und bin tieftraurig, dass ich die „Herbstlese 2012“ nicht erleben durfte.
    Hatte ich mir doch um meinem Geburtstag herum einige wenige Tage „Auszeit“ vergönnt, um nun festzustellen zu müssen, dass mir damit das offenbar schönste Geschenk entgangen ist.
    Ihren Kommentar teile ich hundertprozentig. Verdeutlicht er doch die ganze Tragweite der Problematik.
    Und wenn selbst Goethe sein eigenes Leben mit dem ewigen Wälzen eines riesigen Steins verglich,
    so sollten wir in unseren Tagen schon gar nicht verzagen, wenn wir konstatieren, dass „die Welt aus
    den Fugen ist“. Dieses große Wort hat übrigens lange vor uns William Shakespeare geprägt – und
    Schiller brachte es in seinem „Wallenstein“ auf den Punkt:
    „Und jetzt, an des Jahrhunderts ernstem Ende, / wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird, / wo wir
    den Kampf gewaltiger Naturen / Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn, / Und um der Menschheit
    große Gegenstände, / Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen, / jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne / auch höhern Flug versuchen, ja sie muß, / Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.“
    Stellen wir also fest, dass wir nicht am „Ende“, sondern immer noch am Anfang eines neuen Jahrtausends stehen.
    Und auch auch dann, wenn es bisweilen aussichtslos scheint, stehen wir an welcher Stelle auch immer,
    mit der „Macht des Wortes“ in der Verantwortung, den Dialog, die Debatte, den Streit auf allen Ebenen zu aktivieren.
    Vergessen wir deshalb nicht: „Der kleinste Beitrag kann Großes bewirken … „.

    Mit allen guten Wünschen

    Ihr

    Siegfried Arlt

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