Am Abend des 19. Oktober zog es erfreulich viele Interessierte in die Stadtbibliothek Limbach-Oberfrohna, Irmgard Eberth (Mitte) und Klaus Dietz (re.) stellten ihre Beiträge in dem neu erschienen Band »Not macht erfinderisch. Zur Geschichte der Industrie in der Region Chemnitz-Zwickau. 1945 – 1990 – 2015« vor. Moderiert wurde die Veranstaltung vom Vorsitzenden des Heimatvereins Niederfrohna, Dr. Andreas Eichler, dem Herausgeber des Bandes.
Eichler erinnerte zunächst daran, dass auf Einladung des Heimatvereins Niederfrohna seit Anfang der 1990er Jahre regelmäßig Heimathistoriker zu Tagungen des Historikerkreises nach Niederfrohna kamen. Seit 1995 seien regelmäßig Dokumentationsbände zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Region herausgegeben worden. Klaus Oehmig, Gerhard Hofmann, Daniel Bänsch, Wolfgang Bönitz, Kurt Trenkmann und Günter Eckhardt hätten wichtige Anregungen gegeben.
Jens Hummel habe im Rahmen seiner Untersuchungen zum Rüstungskommando Chemnitz im Freiburger Militärgeschichtlichem Archiv Code-Listen gefunden, die nachvollziehbar machten, welche Betriebe der Region welche Rüstungsproduktion tätigten. 1944/45 mussten auf Befehl des Rüstungskommandos Chemnitz nahezu alle Betriebe der Region für die Rüstung arbeiten. Die mittelständischen Unternehmen waren aber nur Zulieferer, die ihr Kerngeschäft aufgeben und branchenfremde Lohnarbeit übernehmen mussten. Rüstungsprojekte waren nur Großunternehmen möglich, die, so Eichler, oft im Besitz internationaler Aktionäre waren.
1945 wurden in Ostdeutschland zahlreiche Mittelständler mit der Begründung »Nazi- und Kriegsverbrecher« enteignet. Die Rüstungsproduktion war oft ein wichtiger Teil der Begründung der Enteignung. 1946 wurde in einem Volksentscheid dieses Vorgehen nachträglich zu legitimieren versucht. Durch den Vorstoß der 3. US-Armee sei in der Region am 14. April 1945 der Krieg beendet gewesen. Über Nacht mussten wieder Gebrauchsgegenstände produziert werden. Gerade in der Notsituation zeigte sich die mitteldeutsche Innovationsfähigkeit vielleicht am deutlichsten. Wie war das beim VEB Feinwäsche Bruno Freitag und bei Hempel-Limbach-Radio (HELI Radio)?
Irmgard Eberth erklärte, dass die Firma Paul Stelzmann Wirkwaren AG 1945 mit der Begründung »Nazi- und Kriegsverbrecher« enteignet wurde. Der Inhaber Paul Stelzmann wurde im Zuchthaus Bautzen inhaftiert, nach viereinhalb Jahren wegen guter Führung entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben. Dort versuchte er eine Neugründung seines Unternehmens.
Paul Stelzmann war ein innovativer Unternehmer, der zahlreiche Patente inne hatte. Bereits vor 1914 war er von der damals üblichen Handschuhproduktion zur Herstellung kunstseidener Unterwäsche übergegangen.
Die Firma Stelzmann wurde als Volkseigener Betrieb (VEB) »Pastell« weitergeführt, später in VEB Feinwäsche, dann in »VEB Feinwäsche Bruno Freitag« umbenannt.
In Limbach-Oberfrohna war der VEB Feinwäsche, der größte Hersteller von Unter- und Nachtwäsche in der DDR, mit seinen etwa 4000 Beschäftigten, vorwiegend Frauen, nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das Unternehmen wirkte in der Region auch als großer Ausbildungsbetrieb sowie auf kulturellem und sportlichem Gebiet.
1972 musste das Unternehmen eine größere Anzahl von enteigneten mittelständischen Betrieben aufnehmen. Die Zahl der Produktionsstätten stieg, auch im Zusammenhang mit Strukturveränderungen durch die »Kombinatsbildung«, auf über 1000 an. Frau Eberth verwies darauf, dass Großserieneffektivität eigentlich den Neubau von Produktionsstätten bedingt hätte.
Im Unternehmen habe man an ständigen Produktverbesserungen, auch durch Verbesserungsvorschläge der Beschäftigten, gearbeitet.
Foto: Goldmedaillenempfang auf der Leipziger Messe 1984 für den VEB Feinwäsche Bruno Freitag
Die Wäscheproduktion für den Export habe modische Produkte in hoher Qualität erfordert. Ende der 1980er Jahre habe man die Gestattungsproduktion mit Schießer aufgenommen. 1990 hätten zahlreiche westdeutschen Unternehmen den VEB Feinwäsche übernehmen wollen. Den Zuschlag habe die Treuhandorganisation aber einem eher kleinen Unternehmen, dessen Inhaber auch als Immobilienhändler tätig war, gegeben. Mit diesem Unternehmen sei der VEB Feinwäsche, trotz voller Auftragsbücher und schwarzer Zahlen, in die Insolvenz gestrudelt. Heute erinnern noch einige ehemalige Industriebauten an das Unternehmen.
Klaus Dietz erzählte, dass der Ingenieur Bodo Hempel am 25.7.19947 als Geschäftsführer in das »Labor für Hochfrequenztechnik« in Oberfrohna eintrat. Am 1.April 1950 habe er eine eigene Rundfunkgerätebau-Firma gegründet. In dieser Zeit existierte in Limbach ein »Wehrmachtselektronik Sichtungs- und Zerlegewerk«. Von dort stammten die Einzelteile, die Bodo Hempel und seine Kollegen in den Anfangsjahren zu traditionellen Radios umbauten. Es war im Grunde eine Konversion von der Rüstung zur Gebrauchsgüterproduktion. Das Unternehmen hatte in seiner größten Ausdehnung etwa 100 Mitarbeiter und entwickelte neben Radios auch Studio- und Aufnahmetechnik.
Bodo Hempel habe die Firma geführt, wie ein Vater die Familie, sagte Dietz. Hohe Anforderungen an seine Mitarbeiter seien mit Fürsorge verbunden gewesen. Hempel selbst sei den Mitarbeitern auch ein Vorbild im Arbeitseinsatz gewesen. Dieser habe erwartet, dass man sich von einer Dienstreise bei ihm zurückmelde, selbst wenn es 24.00 Uhr war. Allerdings habe Hempel dann auch noch in seinem Büro gearbeitet. In Erinnerungen seien ihm legendäre Feiern der Belegschaft, und gemeinsame Urlaubsreisen. Einmal habe Bodo Hempel einen ganzen Express-Zug für die Firma gemietet. Hempel habe ihn schon als Lehrling zu innovativen Ideen angeregt und als späteren Leiter der Entwicklungsabteilung freie Hand gelassen. So habe man Schritt für Schritt die innere Struktur von Radiogeräten verändert und den neuen Nutzererwartungen angepasst, zum Beispiel Anschlussbuchsen für Zusatzgeräte an die Vorderfront gelegt u.ä.
Zur Leipziger Messe 1960 sprachen zwei Junge Absolventen der Kunsthochschule Weißensee bei Hempel vor: Lutz Rudolph und Carl Clauss Dietel. Mit beiden ergab sich eine jahrelange fruchtbare Zusammenarbeit. Das Logo der Firma wurde neu gestaltet und die Schritt für Schritt entwickelten die beiden Designer mit den neuen Rundfunkgeräten eine eigene Formensprache und einen Programmcharakter, so dass die kleine Firma HELIRADIO zu einem Geheimtipp unter Kennern und internationalem Trendsetter wurde.
Foto: rk 90 sensit cubus
1972 wurde aber auch dieses Unternehmen enteignet und in Kombinatsstrukturen eingeordnet. Bodo Hempel wurde krank und schied aus dem Unternehmen aus. 1990 mobilisierte Bodo Hempel noch einmal seine Energie für einen Neustart. Doch dieses Mal machte ihm die Gesundheit die Hoffnung zunichte. Er verstarb völlig unerwartet. Nach seinem Tod scheiterten alle Bemühungen zum Neustart des kleinen Nischenproduzenten. Das Unternehmen ging in die Insolvenz.
Nach den Vorträgen kam es noch zu einer regen Diskussion. Frau Ebert bat am Ende händeringend ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Feinwäsche ihre Erinnerungen festzuhalten. Klaus Dietz räumte ein, dass er bei all seinen Forschungen noch nicht herausgefunden habe, woher Bodo Hempel eigentlich gekommen sei, und wo er studiert habe. Christine Erler, die Leiterin der Stadtbibliothek, dankte den drei Akteuren mit Blumen. Aber Auch Frau Erler und ihren Mitstreiterinnen ist für ihre Mühe zu danken. Es zeigt sich, dass die öffentlichen Bibliotheken auch wichtige Erinnerungsorte sind. Neben den regionalen Besonderheiten werden hier auch klassische Bildungsträger aufbewahrt, die in vielen Haushalten mittlerweile unbekannt sind. Also, nochmals vielen Dank Frau Erler!
Johannes Eichenthal
Information
Not macht erfinderisch. Zur Geschichte der Industrie in der Region Chemnitz-Zwickau. 1945 – 1990 – 2015.
14.8 × 21.0 cm, 184 Seiten, brosch., 10,00 Euro
ISBN 978-3-937654-52-2
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