Im August 1922 erschien im S. Fischer Verlag das achte Heft der Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“ mit Erinnerungen an den am 24. Juni ermordeten deutschen Außenminister Walther Rathenau. Die Zeitschrift erschien im XXXIII. Jahrgang und als Herausgeber werden genannt: Oskar Bie, S. Fischer, S. Saenger. Walther Rathenau war ein Nachbar S. Fischers in Grunewald gewesen. Zwischen beiden Männern bestand eine Geistesverwandtschaft. Die Essays Rathenaus erschienen im S. Fischer Verlag und erlangten vor allem während und nach dem Ersten Weltkrieg großen Einfluss in der europäischen Öffentlichkeit.
Samuel Saenger, Mitarbeiter des S.Fischer Verlages und Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt, verfasste für diese Ausgabe einen umfangreichen Leitartikel mit dem schlichten Titel „Walther Rathenau“. Es folgt eine mitstenographierte freie Ansprache Rathenaus an die Gäste seiner 50. Geburtstagsfeier. Ernst Troeltsch und Georg Bernhard erinnern an den Freund. Fritz von Unruh legt ein Gedicht zu Ehren Rathenaus vor. Jakob Wassermann, Alexander Moszkowski, Albert Einstein, Harry Graf Kessler, Otto Flake, Johannes v. Jensen, Emil Ludwig, OskarLoerke, Hans Reisiger, Hugo Geitner, Gabriele Reuter und Georg Reick erinnern an Walther Rathenau.
Der kürzeste, vielleicht aber der prägnanteste, Beitrag stammt aus der Feder des ersten Staatskanzlers der Republik Österreich (1918–1920) Karl Renner: „Ich bin über die grauenvolle Untat, die an Rathenau begangen worden ist, fassungslos und tief unglücklich darüber, daß verschiedene Zufälle mich abgehalten haben, mit ihm persönlich bekannt zu werden. Das Mitgefühl, die Empörung und die moralische Abkehr von den Nationalisten sind hier allgemein. Über alles Politische hinaus ergreift mich aber das Menschliche: dass ein brutaler Gewaltakt imstande war, ein so wertvolles Denken vor der Zeit auszulöschen. Rathenau war zweifellos das glänzendste Ingenium, das die deutsche Bourgeoisie hervorgebracht hat. Der Techniker, Kaufmann, Philosoph und Sozialist in einer Person war für mich ein Sinnbild des geistigen Reichtums der Nation. Es wird uns allen wohlanstehen, die Erinnerung des Mannes hochzuhalten und zu kultivieren, der in sich das übernationale Herdersche Humanitätsideal mit einem Geist vereinigt, in dem die bürgerliche Ideenwelt sich mit der proletarischen des Sozialismus verschmolz. Er verkörperte wirklich für den deutschen Geist das „Zurück“ aus der Bismarckschen Gewaltepoche in die klassische Zeit. In seiner politischen Funktion wird er vermutlich ersetzt werden können, als geistige Individualität aber nicht, und als solche kann er uns nur als Vorbild erhalten bleiben.“ (S. 822)
Diese singuläre Einschätzung des Juristen und legendären Politikers Dr. Karl Renner (1870–1950) blieb bis heute richtungsweisend für die Erinnerung an Walther Rathenau.
Johannes Eichenthal