Rezension

BLICK IN NEUE TSCHECHISCHE BÜCHER

Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Reiner Neubert stellt in dieser Reihe regelmäßig interessante Neuerscheinungen aus Tschechien vor, die in deutscher Übersetzung vorliegen. Clara Schwarzenwald

Eine „Clique von Knalltüten“

Soeben erschien eine biografische Episode des im Nachbarland berühmten und berüchtigten Schriftstellers und Philosophen Egon Bondy (1930–2007). In „Die ersten zehn Jahre“ schildert er seinen an Eskapaden reichen und wirren Beginn seiner literarischen Laufbahn von 1947 bis 1957, verfasst 1981, gewissermaßen als Erinnerungsprotokoll. Seine magischen und betörenden Kontakte zu heute noch markanten Persönlichkeiten der politischen und künstlerischen Szene in jener Zeit, als Gottwald in der ČSR die Macht übernahm, werden bildhaft und detailliert inszeniert. Hinter dem Pseudonym Bondy verbarg sich Zbyněk Fišer, der seinerzeit enge Berührungen hatte u. a. mit Šmerda und Teige, Hrabal und Mlynář, Drtikol und Boudník. Im Plauderton erzählt Bondy von seinen Abenteuern im Prager Untergrund, seinen Exzessen in diversen Lokalen, den Drang nach marxistischer Bildung und gleichzeitiger surrealistischer literarischer Bebilderung seiner mühsam erarbeiteten Erkenntnisse. Aufbegehren wechselt mit Depressionen, Beteiligung an Protestbewegungen mit Verhaftungen und sich anschließenden Aufenthalten in Gefängnissen, und aus dem „stalinistischen Trotzkisten“ wird nach Teilnahme an Bildungszirkeln und einem Studium ein stets provozierender „Aktivist“. Als Bondy 1948 auf Honza (Jana) Krejcarová trifft, die Tochter der legendären Milena Jesenska, die er – wie noch einige andere – abgöttisch liebt und nicht von ihr loskommt, nehmen die Turbulenzen zu. Seine Karriere als Bettler und Dieb beginnt, um den Lebensunterhalt gewährleisten zu können. Mehrfach landen er und Beteiligte in der „Klapse“. Psychiatrische Gutachten begleiten ihren Werdegang. Dazwischen brutale lyrische Äußerungen zu unsäglichen gesellschaftlichen und privaten Zuständen, nachdem man nach Zechgelagen in einigen Prager Kneipen aus dem Verkehr gezogen worden war.

Viele witzige Episoden lassen den Text grotesk erscheinen: In der Psychiatrie gibt man sich als Agenten aus, die mit zwei Streichholzschachteln voller Flöhe die Parade auf dem Roten Platz in Moskau dermaßen stören könnten, dass das Regime kollabiere. Oder Bondy beginnt nachts auf einer Baustelle unmäßig laut zu schreien, dass die Polizei ihn fixieren muss, bevor er als „ambulant behandelter Irrer“ (S. 124) wunschgemäß wieder in der Anstalt landet. Suizidgedanken wechseln mit Schreibblockaden, Bekenntnisse zu Buddha mit welchen zum Trotzkismus, Liebesabenteuer mit Vereinsamung.

Eine Gedichtauswahl von Jan Faktor und Annette Simon beschließt diese bibliophile Ausgabe. Texte aus den Bänden „Totaler Realismus“ (1950), „Das besoffene Prag“ (1952) u. a. verdeutlichen das aufbegehrende Wesen Bondys, wobei einige Verse schon damals in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, z. B. „Der jüdisch-faschistische-bolschewistische Bondy schreibt auch einmal philanthropisch“. Sarkastisch wird darin die Floskel „Es lebe…“ in ihrer naiven Verdümmlichung aufs Korn genommen.

Im Nachwort versucht der sachkundige Jan Faktor Vergleiche mit anderen Schriftstellern der Weltliteratur herzustellen, aber das Fazit ist, dass es im deutschen Sprachraum keine so schrille literarische Persönlichkeit gebe. Als „manischer Rebell, Provokateur, politischer Phantast und zugleich ernstzunehmender Philosoph“ (205) sei er einmalig. Sein „primitiver, fäkalienschwerer, nacktpoetischer“ Gestus sei originell, und Bezüge zum deutschen Dadaismus seien sichtbar wahrzunehmen. Die Aufenthalte in der Psychiatrie und ein „überbordender Alkoholismus“ bewiesen das Alleinstellungsmerkmal. Besonders aufschlussreich sind Faktors Wertungen der Zusammenarbeit Bondys mit Vertretern der Geheimpolizei, die Vergleiche mit dem späteren Wirken bspw. von Sascha Anderson im Ostberliner Raum zulassen, denn die Szene des Prenzlauer Berges kennt Faktor genauestens.

„Jude sein ist wie Indianersein“

Das ist die Antwort des Vaters von Zuzana Liebeskindová auf die Frage des kleinen Mädchens danach, was ein Jude sei. Im neuen Roman der tschechischen Schriftstellerin Jakuba Katalpa (1972 geb.) mit dem Titel „Zuzanas Atem“ wird die zerrüttete Lebenslinie der Titelfigur von Mitte der 1920er Jahre bis kurz nach dem zweiten Weltkrieg stringent erzählt. Schon im Roman „Die Deutschen“ (2013) hatte sich die Autorin jenem Zeitraum militanter Auseinandersetzungen zugewandt. 

Behütet wächst das 1924 geborene Mädchen im Umfeld der Familie Abraham Liebeskind in Holešovice nahe Prag auf. Dem Vater gehört eine landes- und europaweit bekannte Zuckerfabrik. Unmittelbar nach der Geburt hatte er den Atem der Neugeborenen mit seinem Mund aufgefangen, was sich als Beweis der engen Beziehung zwischen den beiden als symbolisch erweisen sollte, zumal die Mutter zeitig starb. Eine unbeschwerte Kindheit wird poesievoll eingefangen, rührend sorgt sich die Familie, und Zuzana verbindet eine enge Freundschaft mit den zwei Jungen Jan und Hanuš. Detailreich wird diese spielerisch-naive, aber unzertrennliche Einheit des Trios vorgeführt. Doch der Weltlauf rüttelt an dieser scheinbaren Idyllik. Nach Hitlers Machtantritt wird die Situation dramatisch. Die Firmenbeziehungen des jüdischen Unternehmers werden rissig, und nachdem die Deutschen im Protektorat das Sagen übernehmen, ist man gezwungen zu überlegen, ob man als Juden das Land schnellstens verlassen sollte, zumal der vom Staat eingesetzte Verwalter Nagy alles tut, um die Ära Liebeskind auszumerzen. Dabei macht er auch vor Demütigungen nicht halt, denn die pubertierende Zuzana muss sich vor ihm ausziehen und betatschen lassen, um einige materielle Zuwendungen zu erheischen, die wiederum zum Überleben von Vater und Tochter notwendig sind.

Derweil kämpfen Jan und Hanuš weiter auf ihre Weise um die Gunst Zuzanas, die schon den gelben Stern tragen muss. Sie fühlt sich mehr zu Jan hingezogen, weil der sich dieser verpönten Beziehung wegen nicht schämt. Der neidische Hanuš ist es dann, der Zuzana und ihren Vater an die Gestapo verrät, nachdem sich beide den Aufforderungen widersetzt hatten, zum Transport nach Theresienstadt zu erscheinen und sich versteckten. All diese Ereignisse werden von J. Katalpa in einer emotional ergreifenden und originellen sprachlichen Art geschildert, so dass man – so bei mir – tief berührt wird, obzwar man ähnliche Geschehnisse bereits oft in unterschiedlicher Weise las oder sah.

Nach dem einen werden Vater und Tochter ins nächste KZ Auschwitz verbracht. Der schwer gezeichnete Vater stirbt schnell, aber der „Riesin“ Zuzana gelingt es, den unsäglichen Schikanen und den medizinischen Experimenten zu widerstehen, obwohl der bestialische Arzt Jungwirth „ihre Seele gestohlen“ (333) hatte. Sie gibt nicht auf, und als im Januar 1945 das Lager von der Roten Armee befreit wird, findet die sowjetische Ärztin Petrova auf einem Haufen Leichen eine leblose Gestalt. Aber diese atmet noch! Zuzana wird gerettet, zahnlos zwar, verstümmelt, aber die Lungen arbeiten. Ein englischer Fotograf bringt diese Szene zufällig ins Bild, das weltweit in die Presse findet. Nach einer deprimierenden Odyssee gelangt Zuzana wieder in ihre Heimat. Dieses Foto sieht Jan in den USA, wohin er auswandern musste, nachdem er im Widerstand gegen die Nazis entdeckt worden war. Er schreibt nun Hanuš, der sich inzwischen im Anwesen der Liebeskinds eingerichtet hat und sich um Zuzana „kümmert“. Jedoch sie erlebt bei und mit ihm in der Ehe die „zweite Hölle“. Den Briefwechsel mit Jan verheimlicht er. Nachdem Zuzana diese Briefe entdeckt, kommt es zum Eklat. Aber die schwangere Zuzana atmet noch …

Das hier als Kurzfassung Dargestellte vermittelt nicht annähernd die Erhabenheit und gleichzeitige Grausamkeit der geschilderten Details und Szenen, die den Leser mitunter erschauern lassen.

Rainer Neubert

Information

Egon Bondy: Die ersten zehn Jahre. Berlin: Guggolz Verlag 2023. 238 Seiten. Preis 23 Euro. ISBN 978-3-945370-41-4. Übersetzt von Eva Profousová.

Jakuba Katalpa: Zuzanas Atem. Landsberg am Lech: Balaena Verlag 2023. 456 Seiten. ISBN 978-3-981-9984-7-4. Preis 28 Euro. Übersetzt von Kathrin Janka

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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