Rezension

AUS DEM SAGENSCHATZ

Im Jahre 2006 erschien im Mironde-Verlag ein kleines Bändchen mit dem Titel „Ritter Georg und der Lindwurm“. Der Leser findet in dem Büchlein mit dunkelblauem Umschlag 19 Sagentexte aus Schwarzenberg und Umgebung. Die Zeichnungen stammen von Birgit Eichler. Die Auswahl der Texte traf der bekannte Schwarzenberger Skulpturist Prof. Hans Brockhage (1925–2009). Er merkte an, dass sich die vorliegende Ausgabe auf die Sammlung „Der Sagenschatz des Erzgebirges. 1. Teil: Der Sagenschatz des Schwarzwassergebietes. Gesammelt von Hermann Hallbauer und Horst Henschel. Mit Zeichnungen von Traude Henschel und Herbert Wüstner stützt, die 1934 im Glück-Auf-Verlag in Schwarzenberg erschien. Er habe, so Hans Brockhage, 1934 die Erstausgabe des Büchleins erhalten und die überlieferten Sagen seien ihm schon damals unter die Haut gegangen und ewige Kindheitserinnerung geblieben..

Aus den Vorbemerkungen Hans Brockhages wissen wir, dass Horst Henschel vom Beruf Lehrer war. Lehrer und Pfarrer leisteten in jener Zeit die Hauptarbeit bei der Hebung des Sagenschatzes, d.h. der Sammlung, Dokumentation und Weitergabe der Überlieferung. Hallbauer und Henschel benennen in ihrem Vorwort auch die Grundsätze, mit denen sie die mündliche und schriftliche Überlieferung dokumentierten. Der Zeit gemäß versuchten sie die Sagen in verschiednen Rubriken zu ordnen. Sie definierten im Vorspruch: „Sagen sind Darstellungen oder Berichte, die dem Volksglauben entsprossen und im Volk verbreitet sind; sie sind volkstümlich, vom Verfasser ernsthaft gemeinte Versuche, etwas Gegebenes oder ein Begebnis – besonders wenn es wunderbar oder übernatürlich erscheint – in seiner Merkwürdigkeit zu begreifen und zu erklären.“

Zur Sage Das graue Männel bei der Sorge

In der Schule hören die Kinder heute: „Die Sage hat (im Unterschied zum Märchen) einen wahren Kern“. Die klugen Schüler folgern sofort: „und der Rest ist gelogen …“ In der Tat impliziert die Rede vom „wahren Kern“ diese Gegenüberstellung von Wahrheit und Falschheit. Kommen wir mit dem Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ dem Wesen der Sage näher? Angefangen von den Brüdern Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) betonen alle großen Sagensammler, dass sie den wahren Kern der Sagen mit der Treue zur Überlieferung vorgefundener Erzählungen und Texte erfassen wollten. Die Grimms verstanden unter dem wahren Kern historische Tatsachen, die es zu entdecken galt. Dabei bedienten sie sich zum Teil drastischer Methoden, kürzten überlieferte Texte radikal, vereinheitlichten die Sprache und strichen alle, ihrer Meinung nach „anstößigen“ Passagen. Auch Fremdworte wurden konsequent in ein „reines“ Deutsch umgeschrieben. Selbst deutsche Dialekte „übersetzten“ die beiden streng ins Hochdeutsche. Viele junge Wissenschaftler und Lehrer, wie der Schneeberger Gymnasiallehrer Johann August Ernst Köhler (1829–1903), folgten den Brüdern Grimm in der Methode. Den Grundsatz der „Treue der Überlieferung“ konnte sie mit dem Kriterium eines, an historischen Tatsachen fest gemachten, „wahrer Kerns“ aber nicht durchhalten. Aber welche Kriterien sind es dann?

Zur Sage Das Ende des Baumeisters der Georgenkirche

Zwei Generationen später schlug der Schneeberger Gerhard Heilfurth (1909–2006) einen anderen Weg ein. Er versuchte die Arbeiten des vergessenen Johann Gottfried Herders (1744–1803) zum Lied, zum Volkslied und zur Volkspoesie neu zu erschließen. Er machte durch seine Archivfunde in der Zwickauer Ratsschulbibliothek gedruckte Liedertexte aus dem 15./16. Jahrhundert, die sogenannten „Bergreihen“ in ihrer authentischen Sprache wieder zugänglich. Für Herder gehörten Lieder, Legende, Sagen, Märchen und andere Überlieferungen zu unserem sprachlich-literarischen Erbe. Er ging davon aus, dass in diesen Überlieferungen ein poetisches Moment steckt. Die Menschen hatten existenzielle Erlebnisse, die sie anderen mitteilen mussten, für die ihnen jedoch die Worte fehlten. Poesie ist aber das Sagen des Unsagbaren, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. Das Grundthema aller Literatur lautet: Es hätte so gewesen sein können.

Zur Sage Der Spuk am Wildenauer Grundtümpel

Weil wir uns als Menschen in der bezeichnenden Sprache konstituieren, nicht in „Denken“ oder „Bewusstsein“, hat auch die Annahme der gesamten sprachlich-literarischen Erbschaft große Bedeutung für unsere Bildung zur Humanität. Im Unterschied zu anderen Tieren wird der Mensch nahezu ohne Instinkte geboren und muss sich sein Leben lang die Bildung seiner Vorfahren durch Nachahmung und Übung aneignen. Dabei kommt gerade den Stufen der Herausbildung unseres Sprachvermögens, die leicht als „veraltetete Texte“ abqualifiziert werden, große Bedeutung zu. Das poetische Vermögen, sich im Kopf Geschichten, Personen, Wälder, Burgen, Flüsse u.a. vorzustellen, ist der Grund dessen, was wir Fantasie nennen. Bis zum achten Lebensjahr besitzen die Kinder besonders gute Voraussetzungen für die Entwicklung des Sprach- und Vorstellungsvermögens. Die Heimatsagen bildeten über Jahrhunderte eine bewährte Grundlage für das Gespräch zwischen den Generationen. Zudem erschließen wir mit den Heimatsagen auch den späteren Zugang zur Weltliteratur. 

Johannes Eichenthal

EINLADUNG

Der Mironde-Verlag beteiligt sich an der deutsch-tschechischen Literaturmesse in Schwarzenberg vom 23. bis zum 25. Juni 2023 mit einem Stand im Eisenbahntunnel.

Am 23. Juni stellt Dr. Andreas Eichler im Schloss Schwarzenberg, in der Schlossstube, um 11.00, 11.30 und 12.00 Uhr Michael Schusters Buch „Der Zwerg aus dem Berg“ vor.

Am 24. Juni stellt Dr. Andreas Eichler im Schloss Schwarzenberg, in der Schlossstube, um 16.00 Uhr unter dem Titel „Wer liest heute noch Heimatsagen?“ den Sagenband „Ritter Georg und der Lindwurm“ vor.

Weitere Information: www.erz-buch.de

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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