Rezension

PAUL FEYERABEND ZUM 100.

Paul Feyerabend wurde am 13. Januar 1924 in Wien geboren. Er eignete sich eine breite Wissensgrundlage an, war ein Vielleser und Theaterbegeisterter. Um einem weiteren Kriegseinsatz zu entgehen meldete er sich von der Front weg als Offiziersschüler, wurde jedoch vor dem Schulabschluss im Dezember 1943 wieder im Krieg gegen Russland eingesetzt. Auf dem Rückzug erlitt er eine Schussverletzung im Wirbelsäulenbereich. Der Lähmung konnte er entgehen, war jedoch zeitlebens auf Krücken angewiesen. Seine Verletzung hatte ihn in ein Lazarett im thüringische Apolda geführt. Er wurde dort Mitglied des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ und begann ein Studium an der „Hochschule für Musik Franz Liszt“ in Weimar. Nach einem Semester brach er das Studium aber wieder ab, kehrte nach Wien zurück, studierte Wissenschaftsgeschichte und erlangte schnell Anschluss an die internationale Wissenschafts-Szene. Von 1958–1989 hatte er eine Professur im kalifornischen Berkeley inne. Von 1980–1990 dazu eine an der ETH Zürich. Feyerabend starb 1994 in der Schweiz.

1. Zur Entstehung des Buches „Wider den Methodenzwang“ zitierte Feyerabend seinen Freund und Kollegen Imre Lakatos (1922–1976): Paul, Du hast doch so komische Ideen, warum schreibst Du sie nicht nieder, ich schreibe eine Antwort, wir publizieren die Sache und haben einen Heidenspaß. (Wider dem Methodenzwang, S. 11) Feyerabend widmete sich dieser Aufgabe und schickte 1972 das Manuskript zu Lakatos nach London. Doch der Brief ging verloren. Lakatos schaltete Interpol ein, die ihn nach einiger Zeit fanden. Feyer­abend überarbeitete den Text nocheinmal. Doch 1974 verstarb Lakatos. Das Buch erschien 1975 ohne Lakatos’ Beitrag. In der Einleitung relativiert Feyerabend in vorbildlich, bescheidener Weise seine Kritik am Wissenschaftbetrieb. So sei „anything goes“ nicht sein Grundsatz. Grundsätze könnten ohnehin nicht unabhängig vom Forschungsproblem bestehen. Es sei der erschreckte Ausruf eines Rationalisten über den Inhalt des Buches (S. 11). In Kenntnis der universitären Strukturen nannte er sich auch einen „Methodenanarchisten“. Mitunter vergleicht er die universitäre Szene mit der „Kirche“. Er hätte sich auch einen „Ketzer“ nennen können. So wurde er auch von vielen autoritären Kollegen behandelt.

2. Feyerabend versuchte in „Wider dem Methodenzwang“ über etwa 400 Seiten beim Leser einen Sinn für die Schwachpunkt der überlieferten universitären Naturwissenschafts-Auffassung zu befördern. Dabei machte er auf verschiedene Arten von Voreingenommenheiten, wie Konformismus (S. 53) und die Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen von ihrer Geschichte (S. 56) aufmerksam. Feyerabend zeigte, dass die Wissenschaftsentwicklung nicht nach abstrakten Regeln oder Formeln verläuft. Die Geschichte der Astronomie und der Kosmologie wurde von Feyerabend besonders gründlich gelesen. Er verwies darauf, dass bereits im 15./16. Jahrhundert mit gerichtlichen Mitteln gegen wissenschaftliche Erkenntnisse vorgegangen wurde. Er zeigte, dass auch Erkenntnisse aus dem Mythos und der Astrologie ernst genommen werden müssen. Gegen das herrschende Fortschritts-Dogma verwies er darauf, dass keine Idee in der Menschheitsgeschichte verloren geht. Im Gegenteil. Wenn es an der Zeit ist, wird sie wieder aufgegriffen. 

3. Vielleicht kann man Paul Feyerabends Schaffen im Rahmen des Wechsel des Zyklus-Umbruchs der Jahre 1965/75 begreifen. In Europa ging damit der, nach dem russischen Mathematiker Nikolai Kondratjew benannte „Zyklus“ zu Ende, der mit dem Generationenwechsel 1920/30 begonnen hatte. (Der 1965/75 begonnene Zyklus geht gerade mit dem Umbruch von 2020/30 zu Ende.) Feyerabend erschütterte auf ironische, fast dramatische Weise die alten Autoritäten, die „Ruhe und Ordnung“ in die Wissenschaften bringen wollten, und die sich vornehmlich auf die Forderung nach Widerspruchsfreiheit stützten. Dabei war ein Konstrukt entstanden, als ob die Wissenschaftsentwicklung nach den Regeln der bloß berechnenden Vernunft verlaufe. Ernüchtert konstatiert Feyerabend: „Die ‚normalen‘ Wissenschaften des späten 20. Jahrhunderts haben im Gegensatz zu den Wissenschaften, die ihnen vorangingen, jeden philosophischen Ehrgeiz aufgegeben und sind ein mächtiges Geschäft geworden, das das Bewußtsein der in ihm Tätigen beeinflusst. Gute Bezahlung, ein gutes Verhältnis zum Chef und den Kollegen in der ‚Abteilung‘ sind die Hauptziele dieser menschlichen Ameisen, die bei der Lösung winziger Probleme brillieren, denen weitere Gesichtspunkte aber fast völlig fehlen. An das menschliche Wohl wird kaum gedacht, ebensowenig an einen Fortschritt, der mehr wäre als lokale Verbesserung. Die größten Leistungen der Vergangenheit werden nicht als Mittel der Aufklärung verwendet, sondern zur Einschüchterung der Laien, wie man aus einigen neueren Diskussionen über die Entwicklungstheorie erkennen kann.“ (S. 247 f.).

4. Das Buch liest sich heute noch sehr amüsant und hat nichts von seiner subversiven Wirkung verloren. Feyerabend nahm sich selbst nicht zu ernst und traf damit einen angenehmen, anregenden Ton. Kritik heißt Weiterführen des Ansatzes. Feyerabend zitiert eingangs Wladimir Iljitsch Lenins (1870–1924) Bemerkungen zum komplexen Methodensystemen, in denen die Übergänge zwischen einzelnen Methoden fließend und die Umstrukturierung des Methodensystems jederzeit möglich sein müssen (S. 13–15). Er zitierte auch Lenins Studien der Werke Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831) mit dem Auszug: „Die Geschichte lehrt uns, dass Völker und Regierungen nichts aus der Geschichte gelernt haben.“ Hegel fügte als Ursache an: Weil sie das bloß abstrakte Denken nicht überwinden können. Hegel stützte seine Methode in der „Wissenschaft der Logik“ (1806) auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ (1646–1716) Formulierung in den Thesen „Natur und Gnade“, dass man das organische System der Natur nur mittels des Gegeneinanders von Deduktion und Induktion, Glaube und Vernunft usw. erfassen kann. Johann Gottfried Herder (1744–1803), den Feyerabend leider nicht kannte, verwies bereits 1784 auf Leibniz’ Methode und merkte an, dass es „an sich“ eine „kahle Regel“ sei. Erst in der Anwendung werde sie reich und lebendig. Aus Herders Sicht sind die überlieferten Erfahrungen immer abstrakt. Die Anwendung auf besondere Bedingungen ist das Ziel der Überlieferung und erfordert eigenständige Konkretisierung. Erst in der Anwendung werden die Erfahrungen lebendig. (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Herder Werke in drei Bänden. Carl-Hanser-Verlag. München/Wien 2002. Hrsg. Wolfgang Proß. Bd. 3/1, S. 18; Brief Johann Gottfried Herders an seinen Sohn Siegmund Wolfgang August vom 31. Januar 1799. In: Johann Gottfried Herder Briefe. Bd. 8. Hrsg. Günter Arnold, Weimar 1984, S. 31 f.)

5. Was bleibt? Paul Feyerabends Ausgangspunkt ging vom Zusammenhang von Wissenschaft und Kunst aus. Das erinnert an den Begriff der Poeisis, das Hervorbringen, das Sagens des Unsagbaren, das Sichtbarmachen des Nichtsichtbaren. Im poetischen, praktisch-geistigen Verhältnis zur Welt, durchdringen sich Vernunft und Glaube. Von diesen Voraussetzungen aus war Feyerabend klar, dass Vernunft mehr sein muss als bloß „berechnender Verstand“, dass Wissenschaft sich nicht nach dürren Regeln und Formeln entwickelt. Erst damit vermochte er das Potenzial der Vernunft zu erschließen. Seine nichtkirchliche Religiösitä erinnert in veränderter Konstellation an Benedikt Spinoza (1632–1677). Wie Spinoza lebte Feyerabend nicht tugendhaft um einer Belohnung willen, das tugendhafte Leben selbst war der Lohn des echten Gelehrten.

Information

Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Suhrkamp Verlag. Frankfurt 1983 (Veränderte Neuauflage)

ISBN 9783518281970

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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