Reportagen

Zum 300. Geburtstag von Heinrich Melchior Mühlenberg

Luthers Mann in Amerika – Zum 300. Geburtstag Heinrich Melchior Mühlenbergs

Von den etwa 100.000 Deutschen, die im 18. Jahrhundert nach Britisch-Amerika emigrierten, waren das Gros einfache Arbeiter, Bauern und Handwerker. Nur eine Minderheit konnte auf eigene Ersparnisse vertrauen oder hatte im Hintergrund Institutionen oder Sponsoren, die sie bei der Überfahrt oder beim Start in der Neuen Welt finanziell förderten. Etwa 50 bis 60 % der Neuankömmlinge waren selbst zu arm, um ihre Passage über den Atlantik im voraus zu zahlen oder gar ein Startkapital für eine neue Existenz mitzubringen. Sie mussten sich in England einen Kapitän suchen – nur britische Schiffe waren berechtigt, Häfen in den britischen Kolonien anzulaufen –, der bereit war, sie mitzunehmen und im Ankunftshafen darauf vertrauen, dass sich ein Dienstherr fand, der mit dem Passagier einen Dienstvertrag schloss und die Passagekosten übernahm.

Die meisten solcher Verträge liefen darauf hinaus, dass der Dienstherr die Fahrtkosten übernahm, seinem Bediensteten für einige Jahre Arbeit, Unterkunft und Verpflegung gewährte und ihn nach Ablauf der Dienstzeit mit einem Stück Land oder einer Summe Geldes zum Aufbau einer eigenen Existenz versorgte. Dafür musste der Bedienstete für die vereinbarte Zeit auf Arbeitslohn und seine Freizügigkeit verzichten.

Kritiker haben dieses System der sogenannten Redemptioner (von »to redeem«, loskaufen) als Leibeigenschaft oder gar »weiße Sklaverei« denunziert, doch trug es kein Stigma der Inferiorität und nützte letztlich allen Beteiligten. Arme Auswanderer konnten ohne eigenes Kapital nach Amerika gelangen, dort Arbeit und Unterkunft finden und die Jahre der Knechtschaft nutzen, um Englisch zu lernen, sich mit neuen Arbeitstechniken vertraut zu machen und sich zu akkulturieren. Die Dienstherren ihrerseits bekamen dringend benötigte billige, hoch motivierte und häufig gut qualifizierte Arbeitskräfte, auf die sie sich verlassen konnten. Die Kolonien schließlich profitierten von der Bevölkerungsvermehrung, die Besiedlung und Entwicklung vorantrieben.

Die meisten der frühen deutschen Einwanderer in Britisch-Amerika waren Protestanten: Lutheraner, Reformierte oder Dissidenten. Um die Schwierigkeiten einer neuen Existenz in fremder Umgebung – auf dem Lande häufig auch in großer Armut und Einsamkeit – besser bewältigen zu können, suchten sie von Anfang an Kraft und Trost in ihrer Religion. Sie kamen in religiös homogenen Gruppen und siedelten zusammen in Gemeinschaften, in denen sie auch gemeinsam ihrer Religion leben konnten. Bevorzugtes Ziel war Pennsylvania, die riesige Eigentümerkolonie des Quäkers William Penn, der mit Broschüren auch in deutscher Sprache intensiv für Einwanderung warb und in seiner Kolonie besondere Toleranz versprach. Jeder Protestant sollte dort nach seiner Fasson selig werden. Als Beginn deutscher Gruppeneinwanderung und anschließender Gemeinschaftssiedlung gilt die Ankunft von dreizehn Krefelder Familien am 6. Oktober 1683 in Philadelphia und die Gründung des nahegelegenen Germantown unter der Leitung des gelehrten Pietisten Franz Daniel Pastorius. Präsident Reagan hat den 300. Jahrestag dieser Landung 1983 zum Anlass genommen, den 6. Oktober als »German-American Day« zu proklamieren. Bis heute wird er alljährlich von den deutsch-amerikanischen Vereinen gefeiert.

Ein deutscher »Massenexodus« startete jedoch erst im 18. Jahrhundert. Erster Höhepunkt war 1709/10, als eine große Gruppe von pfälzischen Bauern nach Pennsylvania kam, die der Rekatholisierung der Kurpfalz, Naturalsteuern, Frondiensten und Kriegskontributionen zu entkommen suchten. 1717 ist abermals eine große Auswanderungswelle aus Südwestdeutschland bezeugt, die weitere Protestanten brachte. Seit 1727 gibt es in Philadelphia, damals dem größten Hafen Nordamerikas, regelmäßige Schiffslisten, die das Anschwellen der Einwanderung dokumentieren. Von 1727 bis 1740 trafen 80 Einwandererschiffe ein und in den folgenden fünfzehn Jahren bis zum Siebenjährigen Krieg weitere 88. Höhepunkt war die Jahrhundertmitte. Allein 1749 kamen 7049 Deutsche nach Philadelphia, und in den folgenden drei Jahren nochmals 18.000. Erst mit dem Siebenjährigen Krieg schwoll die Zahl zeitweilig wieder etwas ab.

Natürlich trafen solche Einwanderungswellen aus Deutschland auch auf den Widerstand der englischen Siedler. Auf ihrem Höhepunkt fragte Benjamin Franklin 1751 sorgenvoll: »… warum sollten die pfälzischen Bauern in unsere Siedlungen schwärmen und durch ihr Zusammensiedeln ihre Sprache und ihre Sitten bis zum Ausschluss von unseren etablieren dürfen? Warum sollte das von Engländern gegründete Pennsylvania eine Kolonie von Ausländern werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, statt dass wir sie anglifizieren, und die unsere Sprache und unsere Gewohnheiten nie mehr annehmen werden, als sie unsere Hautfarbe erwerben können?«

Franklin fürchtete, dass deutsche Siedler angesichts der zunehmenden Bedrohung durch Franzosen und Indianer ein Risiko für die innere und äußere Sicherheit Pennsylvanias werden könnten. Er zweifelte an der Bereitschaft der Deutschen sich zu integrieren, an der Loyalität ihrer Führer und fürchtete um Pennsylvanias demokratische Institutionen durch Einwanderer, die das politische System der Kolonie nicht verstünden oder ihm indifferent gegenübertraten.

Was die Deutschen in Pennsylvania zu einer den Engländern fremden, in sich aber relativ homogenen Gruppe machte, waren vor allem Sprache und Religion. Für ihren Zusammenhalt war hilfreich, dass mit Ausnahme des Quäkertums, das allerdings die staatlichen Repräsentanten stellte, praktisch alle Glaubensrichtungen – von den Krefelder Mennoniten bis zu den Herrnhuter Pietisten Graf Ludwig Nikolaus von Zinzendorfs – deutschen Ursprungs waren. Ihrem Glauben galten die kulturellen Leistungen, die die Deutschen erbrachten, vor allem dem Kirchenbau, der Kirchenmusik und dem Druck von Bibeln, Andachts- und Liederbüchern. Deutsche Einwanderer waren in Pennsylvania die Pioniere der Papierherstellung, der Gießkunst, die wichtig war zur Herstellung beweglicher Lettern, und der Produktion von Druckerschwärze. Der mit den Quäkern sympathisierende Christoph Sauer, der 1738 in Germantown eine Buchdruckerei gründete, ist bis heute unvergessen als Begründer einer deutschsprachigen Presse, als Herausgeber von praktischen Kalendern und frommen Büchern und wegen des Drucks einer Lutherbibel im Jahre 1743, dem ersten deutschen Bibeldruck in Amerika. Deutsche Pfarrer aller Konfessionen trugen mit ihren Predigten und kirchlichen Druckerzeugnissen vielfältig dazu bei, die großen Erweckungsbewegungen der Jahrhundertmitte zu beeinflussen und so auch den amerikanischen Evangelikanismus mitzugestalten. George Whitefield, der englische Methodist, der die amerikanische »Great Awakening« der 1740er Jahre entscheidend bestimmte, war seinerseits stark vom deutschen Pietismus geprägt.

Auch fern der Heimat in Amerika blieben die deutschen Auswanderer – die Redemptioner genauso wie die, die frei ins Land gekommen waren – bestrebt, ihr religiöses Leben so zu führen, wie sie es zuhause gewohnt waren. In dem von der Toleranz der Quäker geprägten, kirchlich aber völlig ungeordneten und von der nervösen Konkurrenz der Sekten aufgewühlten Pennsylvania verlangten sie nach den vertrauten Ritualen bei Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen. Vor allem verlangten sie nach beständiger geistlicher Führung durch Pastoren, die zugleich über persönliche Integrität, durch Ordination nachgewiesene fachliche Autorität und den in einer Pioniergesellschaft erforderlichen Pragmatismus verfügten. Ohne geistliche Führung war der Zusammenhalt der Siedler und das Überleben in teilweise noch wilder Natur kaum zu realisieren.

Die Lutheraner, die größte deutsche Gruppe, erhofften sich solche geistlichen Führer vor allem unter den Absolventen der damals bereits weltberühmten Glauchaschen Anstalten, den heutigen Franckeschen Stiftungen in Halle. Diese tief im Geiste des Halleschen Pietismus verwurzelten Anstalten, mit ihren zahlreichen Gebäuden und ihrer großen Bibliothek quasi ein moderner Campus, zogen nicht nur Schüler aus ganz Europa an, sondern unterhielten auch weltweite Kontakte: im Norden bis nach Skandinavien, im Osten bis nach Kamschatka, im Süden bis Indien und im Westen bis nach Nordamerika. Es ist daher kein Wunder, dass sich deutsche Auswanderer in Pennsylvania seit den 1730er Jahren mehrfach an den dritten Direktor der Anstalten und Sohn ihres Gründers, Gotthilf August Francke, mit der Bitte wandten, Seelsorger nach Pennsylvania zu senden. Die Bittsteller behielten sich allerdings vor – ganz im Sinne ihrer neu gewonnenen spezifischen Freiheit –, deren Akzeptanz von einer vorherigen Prüfung vor Ort abhängig zu machen.

Gotthilf August Francke zögerte lange Kandidaten zu benennen, denen er das Risiko einer so unsicheren Mission auf einem so unsicheren Terrain aufbürden könnte. Schließlich berief er den erst dreißigjährigen, kurz zuvor ordinierten Pfarrer Heinrich Melchior Mühlenberg aus Einbeck für die drei deutsch-lutherischen Gemeinden in Philadelphia, New Hanover und Providence. Nicht viel deutete anfangs darauf hin, dass der junge Mühlenberg sich gegen die Konkurrenz älterer bereits vor Ort befindlicher lutherischer Pfarrer oder gegen die Herrnhuter Pietisten, die dort von Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf persönlich geleitet wurden, würde durchsetzen können, und doch war seine Wahl ein Glücksgriff. In den drei Jahrzehnten nach seiner Überfahrt 1742 gelingt es Mühlenberg, in dem durch Trennung von Staat und Kirche gekennzeichneten Amerika weitgehend selbständig eine institutionalisierte lutherische Kirche aufzubauen, den lutherischen Konfessionalismus des Augsburger Bekenntnisses durchzusetzen und so zum »Vater des amerikanischen Luthertums« zu werden. Eine faszinierende Geschichte, die heute jedoch fast vergessen ist.

Abbildung aus dem vorgestellten Buch: Heinrich Melchior Mühlenberg

Zum 300. Geburtstag Mühlenbergs – am 6. September 2011 – hat sich der Dramaturg, Publizist und Autor Eberhard Görner jedoch der Aufgabe angenommen, Mühlenberg dem Vergessen zu entreißen und ihm in der Form eines historischen Romans ein literarisches Denkmal zu setzen. Immer wieder mit historischen Dokumenten aus der Korrespondenz Mühlenbergs und den Akten der Franckeschen Stiftungen angereichert gelingt es ihm, ein zwar romanhaftes, aber doch realistisches und umfassendes Bild Mühlenbergs, seiner Zeit und der politischen, sozialen und religiösen Spannungen in den britischen Kolonien zu entwickeln. Alle die Einwanderung prägenden Kräfte der Neuen Welt werden lebendig. Er beschreibt die zahlreichen voll besetzten Auswandererschiffe, die in den vierziger und frühen fünfziger Jahren in Philadelphia anlegen. Er erzählt von den Redemptioner, die – so klagt Mühlenberg – auch von »liederlichen Lutheranern« vom Schiff losgekauft werden, und beschreibt detailliert eine Szene mit Einwanderern aus Sachsen, die bei Ankunft ihres Schiffes verkauft werden sollen. Allerdings gelingt es dem Chemnitzer Familienvater Sebastian Schroetter, von Bord zu flüchten und nach dem Motto der Pioniere, »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott«, eine freie Existenz aufzubauen. Zum Dank verspricht er Mühlenberg, mit Tischlerarbeiten eine Kirche bauen zu helfen. Görner versäumt es auch nicht, immer wieder auf die Armut und die Einsamkeit der z.T. weit verstreut siedelnden Einwanderer hinzuweisen sowie auf ihre religiösen Sorgen und Bedürfnisse, auf die Mühlenberg eine Antwort suchen musste.

Im Hintergrund steht die weltpolitische Situation vor dem Machtkampf zwischen den protestantischen Engländern, die die Atlantikküste von Boston bis Savannah bevölkern und kolonisieren, und den katholischen Franzosen, die in dem riesigen Gebiet entlang der Großen Seen und des Mississippi von Quebec bis New Orleans siedeln. Indianer und Neusiedler müssen sich entscheiden, auf welche Seite sie sich stellen wollen. Görner zitiert, wie Mühlenberg in einem Brief vom 30.10.1745 diese Situation analysiert: »Die Französischen Indianer hausen grausam mit unsern armen teutschen Landes Leuten im Neuyorkischen … Wir können nicht weit fliehn. Auf der einen Seite ist das Meer, auf der anderen die wilden Indianer und inwendig im Lande sind viele tausende Catholiken. Die Französische Flotte ist auch in unserer Nachbarschafft angekommen.«

Der Roman bricht ab, bevor der Konflikt beendet ist, doch Görner beschreibt detailliert, wie sich Mühlenberg bemüht, die pazifistischen Quäker zur Selbstverteidigung zu bewegen, die deutschen Siedler zwar eigenständig zu halten, aber auf die Seite der Engländer zu ziehen, und die Indianer aus dem in Nordamerika 1754 ausbrechenden Krieg möglichst herauszuhalten.

Um solcher Ziele willen verhandelt Mühlenberg besonders mit dem Abgeordneten des Kolonialparlaments von Pennsylvania, dem damals schon berühmten Benjamin Franklin, sowie mit dem britischen Gouverneur Robert Hunter Morris. Görner erzählt, wie Mühlenberg geschickt den Brief des lutherischen Pastors Johann Nicolaus Kurtz vom 2.7.1757 nutzt, um dem amerikanischen Patrioten Benjamin Franklin in die Hände zu spielen. Kurtz klagt über die Überfälle der mit den Franzosen verbündeten Indianer: »Mich deucht, die Milchjahre von Pennsylvanien haben ein Ende. Diesen Morgen wurden sieben ermordete und gescalpte, drei Weiber und vier Kinder, zur Beerdigung auf unseren Kirchhof gebracht … Wir sind nun in Tulpehocken in sehr bedrängten und bekümmerten Umständen. Man ist fast nicht mehr sicher bei Tag und bei Nacht …«

Benjamin Franklin interpretiert diesen Brief sehr in seinem Sinne als Aufruf an die pazifistischen Quäker, endlich geschlossen gegen die Franzosen und die mit ihnen verbündeten Indianer Front zu machen. Görner lässt dazu den Gouverneur ausrufen: »Nehmen wir Mühlenberg doch in die Mitte, Sir Benjamin. Sie rechts, ich links – eine pennsylvanische Troika – wenn die in Fahrt kommt!«

Wir wissen nicht, ob diese Troika so je aktiv wurde, aber wir wissen, dass Briten und Amerikaner mit Unterstützung der deutschen Siedler den Krieg gewannen.

Anschaulich fächert Görner die Indianerproblematik auf, die gerade im »French and Indian War« viele beschäftigte. Zwar dürfte Mühlenberg kaum direkt mit den »native Americans« in Berührung gekommen sein – sein Platz war bei den lutherischen Gemeinden – , doch erfindet Görner einen Häuptling der Delaware-Indianer, »Fliegender Pfeil«, um zu verdeutlichen, dass Mühlenberg nichts von Indianermission hielt, und um an des Häuptlings Haltung die Gespaltenheit und die Positionswechsel der indigenen Bevölkerung zwischen Franzosen und Engländern zu illustrieren. Das besondere Wohlwollen von Häuptling »Fliegender Pfeil« gegenüber den deutschen Siedlern, das Görner konstatiert, lässt sich aus den Quellen zwar kaum nachweisen, doch bereichert seine Figur den Roman um eine besondere dramatische Komponente und macht aus ihm so etwas wie einen »christlichen Western.«

Im Mittelpunkt des Romans steht jedoch eindeutig das seelsorgerische und organisatorische Wirken Mühlenbergs um das Luthertum in Amerika. Ein Brief Mühlenbergs und dreier weiterer evangelischer Pfarrer vom 6.12.1744 beschreibt drastisch, wie die vier deutschen Theologen die Situation Pennsylvanias zu jener Zeit sahen:

»Denn da wir in unserem Vaterland unschätzbare geistliche Pflege in Schulen und Kirchen genossen, so kamen wir hier in eine wüste Einöde und betrübte Wilderniß, wo Unwissenheit, Verkehrt- und Blindheit gepflegt wird … Wir sehnten uns anfänglich nach geistlichen Hirten und Pflegern, aber stattdessen bekamen wir wilde Säue und Wölfe … Die listigen und fast unzähligen Sekten überschwemmten das Land und suchten alles an sich zu locken …«

Mühlenberg bemühte sich daher, den lutherischen Konfessionalismus und Institutionalismus, wie er ihn aus Deutschland kannte, wo ja Luthertum und Obrigkeit nach dem Grundsatz des »cuius regio, eius religio« eng verzahnt waren, auch in einer Umwelt durchzusetzen, wo es eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat gab. Dass ihm dies mit manchmal durchaus auch an Sturheit grenzender Prinzipientreue einerseits, aber andererseits auch mit dem erforderlichen Fingerspitzengefühl und Pragmatismus gelang, ist vielleicht sein größtes Verdienst.

Zunächst musste er sich allerdings gegen Angriffe aus den eigenen Reihen wehren, wie z. B. gegen Zinzendorf, der die deutschen evangelischen Auswanderer in Pennsylvania zu einer »Gemeinde Gottes im Geist« einen wollte und dem Halleschen Pietisten Mühlenberg sein Luthertum bestritt. Mühlenberg konnte seine Autorität gegenüber dem Älteren und Erfahreneren, der 1747 entmutigt nach Herrnhut zurückkehrte, jedoch erfolgreich durchsetzen. Er betonte Zucht und Disziplin und griff entschlossen gegen nicht-ordinierte lutherische Pastoren durch, die die hergebrachte Liturgie seiner Meinung nach verwirrt hätten. Er bestand auf ordinierten Pfarrern, vornehmlich von den Franckeschen Anstalten, und auf dem Gebrauch von »eynerlei Ceremonie, Formular und Worten.« Die strengen ethischen Auffassungen der Pietisten verband er aber durchaus mit deren emanzipatorischen, auf Erziehung zur Kultur gerichteten Ansätzen. In solcher Weise versuchte er, die evangelischen Gemeinden organisch von unten aufzubauen und mit lutherischem Leben zu erfüllen. Er gab dem Einzelnen so viele Mitbestimmungsrechte wie möglich und der Gemeinde so viel einheitliche Struktur wie nötig. Unter vielen Mühen und mit erheblichen Rückschlägen gelang es so unter den besonderen amerikanischen Bedingungen, die verstreuten lutherischen Gemeinden allmählich in Rechtskörperschaften zu transformieren, die zu einem synodal organisierten Kirchenwesen vereint werden konnten. Görner erzählt diesen komplizierten Prozess von 1742 bis 1760, indem er ihn auf signifikante Beispiele reduziert, die er chronologisch Jahr für Jahr leichthändig erzählt. Besondere Spannung und Authentizität erzielt er dabei mit sorgfältig ausgewählten, zum Teil auch längeren Originalzitaten, die er in ihrem barocken Deutsch stehen lässt. Das Geschichtenbuch liest sich dann über weite Strecken auch als Geschichtsbuch.

Mühlenbergs Erfolg verdankt sich nicht zuletzt auch seiner sprachlichen Begabung. Er predigte hoch- und plattdeutsch, englisch und niederländisch und verstand es, deutsche, holländische und schwedische Lutheraner zusammenzubringen. Obwohl er grundsätzlich an der deutschen Sprache festhielt, förderte er aus pragmatischen Gründen doch auch den Erwerb von Englischkenntnissen, da er sie für eine erfolgreiche Integration in der neuen Heimat für unabdingbar hielt. Am 3. März 1759 schreibt er in einem Brief an Francke in Halle und dessen Londoner Repräsentanten Ziegenhagen, dass er zweisprachige Prediger bevorzuge: »Denn ich kann nicht verbergen, dass die englische Sprache neben der deutschen immer nötiger wird, und ein Mann das hiesige Klima physisch und moralisch eher gewohnt wird, wenn er eine Zeit lang in der Altenglischen Luft und in der Cur des Herrn Hofprediger Ziegenhagen gewesen ist …«

Gleichzeitig verteidigte er aber auch das Deutsche gegenüber dem hochgeachteten deutschen Drucker Christoph Sauer in Germantown, der ganz im Sinne von Benjamin Franklin an den kirchlichen Anstalten der Lutheraner für mehr Englisch plädierte:

Der alte Drucker Sauer suchte die Anstalt recht gefährlich und stinkend zu machen, weil er und seine Quäker-Partei monierten, die Deutschen könnten Englisch lernen, und dann könnten sie sie nicht so füglich an der Nase bei den alljährlichen Wahltagen herum führen…

Schon Mühlenbergs in Pennsylvania geborener Sohn Frederick Augustus Conrad, der zwar noch in Halle studiert hatte, aber in Amerika sozial und politisch voll integriert war und nach der Unabhängigkeit der USA sogar zum Sprecher des neu gebildeten Repräsentantenhauses aufstieg, dachte jedoch anders. Als neu in Virginia angekommene deutsche Farmer vom amerikanischen Kongress deutschsprachige Informationen über die Gesetze ihrer neuen Heimat erbaten, beschied er sie 1794, sie sollten so schnell wie möglich Englisch lernen, damit sie bessere Amerikaner würden. Damals wie heute galt der Erwerb der Landessprache als unabdingbar, um in der Gesellschaft zu reüssieren, zumindest in der zweiten Generation.

Foto: Der Buchautor Eberhard Görner (re.), auch als Medienprofessor, Dramaturg, Filmemacher bekannt, zeigt sich mitunter sogar als veritabler Sänger

Beeindruckend ist schließlich die routinemäßige Arbeitsleistung, die Mühlenberg alltäglich zu bewältigen hatte. Görner zitiert ausführlich aus seinem Tagebuch vom April 1760. Mühlenberg scheint ständig unterwegs zu sein: er reist, reitet oder fährt; lässt den Wagen laden und setzt über Flüsse; kehrt ein, logiert, übernachtet, nimmt Abschied und zieht um. Wenn er nicht in Bewegung ist, kommt er seinen geistlichen Aufgaben nach: er schreibt und bereitet vor; katechisiert, unterrichtet und examiniert; betet, verkündigt, predigt und singt; tauft, konfirmiert, vermählt (er nennt es »copuliert«) und beerdigt. Nur selten ist er zu Hause bei Frau und Kindern, nur selten hat er Zeit zur Muße. Sein Leben ist das eines christlichen Pioniers, sein Wirken das eines fürsorglichen Hirten.

Auch wenn Görner das Leben und Wirken Heinrich Melchior Mühlenbergs als Roman erzählt, schreibt er lebendige Geschichte im doppelten Sinn des Wortes, als »Story« und als »History.« Eine spannende Geschichte, voller Rückschläge, aber mit Happy End. Wenn die Lutheraner in den USA heute mit etwa 13,5 Millionen Mitgliedern unter den christlichen Glaubensfamilien nach Katholiken (24,5 %), Baptisten (16,3 %) und Methodisten (6,8 %) mit 4,6 % den vierten Platz besetzen, ist das nicht zuletzt auch Mühlenbergs Verdienst. Mit der finanziellen und organisatorischen Unterstützung durch die Franckeschen Stiftungen hat er über die Kolonialzeit hinaus Amerika eine einige, starke und lebendige Kirche hinterlassen. Zu Recht wird seines 300. Geburtstages daher am 26. März 2011 mit einem Festakt in Halle in Anwesenheit des amerikanischen Botschafters und des Halleschen Ehrenbürgers Hans Dietrich Genscher gedacht werden. Es gilt an einen Menschen zu erinnern, der mit Prinzipientreue und Pragmatismus und unter großem persönlichen Einsatz nicht nur zu einem »Vater der Lutheraner in Amerika,« sondern auch zu einem Brückenbauer zwischen Deutschland und den USA geworden ist. Eberhard Görner ist zu danken, dass er ihm ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Hans J. Wendler

Der Autor unserer Buchbesprechung, ein promovierter Historiker, ist ein leidenschaftlicher Leser.

Information

Eberhard Görner: In Gottes Eigenem Land : Heinrich Melchior Mühlenberg – der Vater des amerikanischen Luthertums. Historischer Roman. Mitteldeutscher Verlag 2011. Geb. 324 S. ISBN 978-3-89812-766-0

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