Reportagen

LESSING UND DIE ERZIEHUNG DES MENSCHENGESCHLECHTS

Hans-Eckhardt Wenzel hielt die 6. Kamenzer Rede mit dem Titel »Die misslungene Erziehung des Menschengeschlechts« in der St. Annenkirche, am 10. September 2019.

Am Dienstagabend setzte sich, nach einigen kalten Regentagen, der Sommer nocheinmal durch. Die Kamenzer St. Annenkirche erstrahlte im warmen Abendlicht. Viele Menschen lenkten Ihre Schritte zum Ort der Kamenzer Rede. Eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn waren alle Sitzplätze ausverkauft. Die rührigen Veranstalter beschafften zusätzlich den noch wartenden Besuchern Notsitze.

19.07 Uhr begrüßte der Kamenzer Oberbürgermeister Roland Dantz voller Freude die Gäste. Danach stellte Michael Hametner den Besuchern in einer Art Laudatio den renommierten Liedermacher Hans-Eckhardt Wenzel (Jahrgang 1955) vor.

Wenzel begann mit dem, was man von einem Liedermacher erwartet, einem Lied zur Gitarre.

Dann trat Wenzel ans Rednerpult, um zum Thema »Die misslungene Erziehung des Menschengeschlechts« zu sprechen. Vielleicht kann man hier einfügen, dass Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) eine Schrift mit dem Titel »Die Erziehung des Menschengeschlechts« veröffentlicht hatte.
Wenzel verwies anfangs darauf, dass Lessing im Garten Johann Wilhelm Ludwig Gleims (1719–1803) in Halberstadt im August 1780 die Formulierung »En kai pan« gebraucht habe. Er kommentierte diesen, für den Laien schwer verständlichen Ausdruck, jedoch nicht, sondern interpretierte ihn als »Einheitlichkeit der Welt und der Vernunft«.
Lessing hatte den Ausdruck in griechischer Sprache in der Tradition von Xenophanes und der Eleaten als »Gott-Natur« und »All-Eines« verwendet, um Benedikt Spinoza zu verstehen: »En kai pan. Eins und Alles. Ich weiß nichts anders.« (Zitiert nach F. H. Jacobis Schrift »Die Lehre des Spinoza, in der Jacobi Lessing als »Spinozisten« und »Atheisten« denunzierte.)
In einem furiosen kritischen Rundumschlag versuchte Wenzel in der Folge den Zuhörern die Fragmentierung der heutigen Welt zu beschreiben, um zu begründen, dass die Erziehung des Menschengeschlechts« misslungen sei. Wenzel führte den Monolog von Politik und Medien, die wachsende Zahl an zerstörerischen Kriegen, den kritischen Zustand der Natur u.v.a. an.

Auffällig war, dass Wenzel seine Kritik des »Verlustes der Einheitlichkeit«, der »Fragmentierung« und der »instrumentellen Vernunft« nicht mit Lessing, sondern vor allem mit Zitaten von Immanuel Kant (1724–1804) zu begründen versuchte. Die Rede Wenzels gipfelte in einer Kritik des Neoliberalismus: dieser halte den Menschen von Natur aus für schlecht, deshalb müsse der Mensch beherrscht werden.
Hier zeigte sich die Problematik der Kant-Rezeption heutiger Vertreter der Aufklärung, denn in Bezug auf die »Natur des Menschen« hatte Kant eine ähnliche Position, wie sie Wenzel den Neoliberalen vorwarf. Kant ging von einem »radikal Bösem in der menschlichen Natur« aus (vgl. »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«) und begründete einen Rechtsanspruch des »guten Prinzips« (des Staates) auf die Herrschaft über den Menschen.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) war es damals, der seinem ehemaligen Lehrer in diesem Punkt hart kritisierte. Herder sah in dem von Kant propagierten Glauben an autonomes rationales Handeln die Grundlegung eines politischen Despotismus, der die Vernunft benutzt, um die Masse der Menschen zu instrumentalisieren.

Wenzel beendete sein Rede gegen 20.30 Uhr mit einem Lied zur Gitarre.
Das Publikum dankte mit herzlichem Beifall.

Im Anschluss konnte das Publikum seine Fragen schriftlich einreichen. Einer der ersten Fragesteller wollte wissen, wo denn für Wenzel die Hoffnung bleibe? Darauf antwortete er ausweichend. Später merkte er an, dass er ein zutiefst pessimistischer Mensch sei. Ein langer Frage-Antwort-Teil schloss sich an.

Kommentar
Die Kamenzer Reden sind inzwischen zu einer Tradition geworden. Der Geburtsstadt Gotthold Ephraim Lessings ist die Aufmerksamkeit eine größeren Publikums zu wünschen. Mit dieser Veranstaltungsreihe gelingt das dem Anschein nach. Den Organisatoren ist zu danken. Der Redner Hans-Eckhardt Wenzel regte uns dazu an, wieder einmal unsere alten Lessing-Bände aus dem Regal zu holen.
Lessing hatte ab 1775 Texte des verstorbenen Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) veröffentlicht, um eine Diskussion zwischen den sogenannten Neologen (Rationalisten), zu denen Reimarus gehörte, und den Vertretern der erstarrten Amtskirche zu innitiieren. Dieser Moderationsversuch scheiterte jedoch und Lessing erhielt vom Braunschweiger Herzog, seinem Dienstherren, wissenschaftliches Publikationsverbot.
Die »Erziehung des Menschengeschlechts«, an der er ab etwa 1777 arbeitete, war ein Versuch Lessings, einen Dialog der positiven Religionen dennoch zu befördern. Mit seiner Freimaurerschrift »Ernst und Falk« und dem Drama »Nathan der Weise« ging es Lessing ebenfalls um diesen Punkt. In dem Zusammenhang können wir auch »Die Erziehung des Menschengeschlechts« verstehen.
Leider spielte die zentrale Intention von Lessings Schrift, einen Dialog der positiven Religionen zu befördern, in der Rede Wenzels keine Rolle. Dabei wusste schon Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), dass der Religionsfrieden eine Voraussetzung für den weltlichen Frieden ist. Wie auch unser innerer Frieden Voraussetzung der Bildung zur Humanität ist.
In seinem Nachruf auf Lessing hob Johann Gottfried Herder 1781 besonders die »Erziehung des Menschengeschlechts« hervor. In den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« vertritt Herder ein ähnlich unabgeschlossenes Entwicklungskonzept. Bei Herder nimmt »Natur« die Rolle ein, die Lessing »Gott« zuschrieb. Da beide aber in der Tradition Spinozas standen, leuchtet der Zusammenhang von Gott/Natur auf den ersten Blick ein.
Lessing und Herder standen in der jahrtausendalten Tradition, die Weisheit als Einheit der Gegensätze von Glauben und Vernunft fasst. Die Tradition sah Vernunft im Kern als Skepsis, als Fähigkeit aus Fehlern zu lernen, und Glaube im Kern als existenzielle Hoffnung, dass unser Leben einen Sinn hat. Der Weise sucht nach der Gleichzeitigkeit von Skepsis und Hoffnung. Vernunft und Skepsis reichen für unser Leben nicht hin. Wir bedürfen auch der Hoffnung und des Glaubens.
Wie sind wir nur von Lessing auf Johann Gottfried Herder gekommen? Vielleicht waren diese Brüder im Geiste? Sei es, wie es sei. Wir danken Wenzel für seine Mühe in einem ungewohnten Metier und für seine Anregungen, wieder einmal Lessing und Herder im Original zu lesen. Was will ein Redner mehr, als dass wir uns in der Folge seines Vortrages den originalen Texten zuwenden?
Johannes Eichenthal

Information
Die Rede wird, wie in den vergangenen Jahren, etwa Ende Oktober in gedruckter Form erhältlich sein.

Bestellungen sind möglich über:
www.lessingrezeption-kamenz.de 

 info@lessingrezeption-kamenz.de

MDR-Kultur wird die Rede voraussichtlich am 24. September, um 22.00 Uhr senden.

Eine weitere Reportage von der Veranstaltung brachte die Tageszeitung Junge Welt: https://www.jungewelt.de/artikel/362678.rede-wer-braucht-noch-volksschauspieler-die-geschäfte-laufen.html?sstr=Wenzel

Die Litterata – Technik und Poesie in Mitteleuropa – ist ein Feuilleton des Mironde Verlags (www.mironde.com) und des Freundeskreises Gert Hofmann.

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