Reportagen

Goethe in Chemnitz

 

130322ChemnitzA Der 22. März 2013 war ein kalter Frühlingstag. Leichter Schneefall am Morgen. Bedeckter, grauer Himmel. Aber pünktlich um 15.00 Uhr leiteten die hellen Chorstimmen des Chemnitzer Goethe-Gymnasiums eine Gedenkveranstaltung im Saal der Seniorenresidenz ProCivitate »Manufaktur Bernhard« ein, die an den Besuch Johann Wolfgang von Goethes am 28. September 1810 in der damaligen Bernhardschen Spinnerei erinnern wollte.

Rechtsanwalt Wolfgang Schütze begrüßte die Gäste im Namen der Betreibergesellschaft »Pro Civitate gGmbH«. Die historisch gewichtete Festrede hielt Andrea Riedel, die Direktorin des Sächsischen Industriemuseums in Chemnitz.

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Dr. phil. habil. Jochen Golz, der Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar, und früherer Direktor des Goethe-Schiller-Archives, war aus Weimar nach Chemnitz gekommen, um die Grüße der internationalen Goethe-Freunde zu überbringen.

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Drei Schüler des Goethe-Gymnasiums trugen den »Lehrbrief« aus »Wilhelm Meisters Lehrjahre« des großen Weimarer Meisters vor.

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Und schon strebte die Festgesellschaft zur Enthüllung der von Volker Beier gestalteten Erinnerungstafel …

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… Dr. phil. habil. Gert Richter vom Chemnitzer Geschichtsverein, der langjährige Direktor des Stadtarchives, …

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und Siegfried Arlt, der Vorsitzende der Chemnitzer Goethe-Gesellschaft, …

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… zogen an einem Strang.

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Siegfried Arlt rezitierte eigene Verse: »Die goldne Spur der Zeit …

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… Von Meisterhand in Stein gemeißelt, …

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… Gibt Kunde uns …

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… Vom dauerhaften Streben …

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… Nach Freiheit, Kunst und Leben.«

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Kommentar

Mit einem Lied des Goethe-Gymnasium-Chores klang der Festakt aus. Bei Kaffee und Kuchen ließen die Gäste dann das Ereignis nocheinmal an sich vorbeiziehen. Neben der gastgebenden Pro Civitate gGmbH wurde die Anbringung der Tafel durch den Bürgerverein Für Chemnitz, den Geschichtsverein Chemnitz e.V. und die Goethe-Gesellschaft Chemnitz e.V sowie von zahlreichen privaten Gönnern ermöglicht. Diesen Menschen ist zu danken.

Die Tafel erinnert an einen Besuch Goethes in einem der modernsten Unternehmen seiner Zeit. Die Bernhardsche Spinnerei, aus einer Mühle an der wasserreichen und schnell fließenden Würschnitz heraus entstanden, arbeitete mit einer Technologie, die aus England stammte. Fachleute aus ganz Europa kamen in Sachsen zusammen, um solche Unternehmen zu betreiben. Die Gestaltung des Fabrikkomplexes lässt uns den kulturellen Anspruch damaliger Fabrikanten erkennen.

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Der Ausgang zum Park mit architektonischen Anleihen aus der Antike. Wir ahnen, dass die Geburt der Industrie mit dem Anspruch einer kulturellen Wiedergeburt des klassischen europäischen Erbes verbunden war. In der Tat hatte die kulturelle Vielfalt Europas mehrere solcher Renaissancen ermöglicht.

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Goethe, der aus Freiberg in Begleitung seines Freundes und Sekretärs Dr. Friedrich Wilhelm Riemer nach Chemnitz reiste, wurde hier am 28. September 1810 vom Königlich-Sächsischen Amtshauptmann Hofrat Johann Friedrich Carl Dürisch empfangen, und in die Bernhardsche Spinnerei begleitet.

Die Besichtigung »nach Tische«, wie Goethe in sein Tagebuch schrieb, erfolgte aus Wissensdrang heraus. Goethe wollte »die Wunder der Technik« sehen.

Die junge Rebellenbewegung der Romantiker hatte in den Jahren zuvor die mechanistisch-unmenschliche Wirkung der »Aufklärung« vehement kritisiert. Die Reduktion von Philosophie auf Vernunft und von Vernunft auf Kalkül war für die jungen Leute die Ursache für die beginnende industrielle Ausbeutung der Natur und die Geringschätzung der Erfahrungen nichteuropäischer Völker gewesen. Zum Zeitpunkt des Goethe-Besuches bei Bernhards hatten führende Köpfe der romantischen Jugendrevolte bereits das Scheitern ihres Ansatzes konstatiert.

Zudem war Goethe nie nur ein »Aufklärer«, passte, wie Herder, Wieland und Schiller, in keine der Literaturwissenschaftler-Schubladen. Simple Vorstellungen von »Fortschritt« waren ihm fremd. Goethe wollte mit eigenen Augen die Umstände der beginnenden Industrie in Augenschein nehmen. Auch wenn er keine Illusionen hatte, dürfte er erschrocken gewesen sein. Die Spinnerei war damals mit Lärm, Verschmutzung und Lebensgefahr verbunden, so dass viele Fabrikarbeiter sogar flüchteten. (Der Chemnitzer Rat verabschiedete später ein »Gesetz zur Ergreifung entlaufener Fabrikarbeiter«.) Zudem waren durch die beginnende industrielle Fertigung ganze Generationen von Leinewebern zur Armut verdammt. Christian Gottlob Heyne berichtete in seinen Lebenserinnerungen, dass sein Vater nahezu 24 Stunden am Tage arbeitete, und dennoch reichte der Lohn mitunter nicht einmal, um ein Brot zu kaufen.

Es besteht also kein Grund, um verklärt auf die Entstehung der Textilindustrie in der Region Chemnitz-Erzgebirge zurückzuschauen. Allein die nüchterne Sicht auf die Geschichte ist die angemessene.

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Goethe versuchte im Rahmen seines Humanismus, wie Herder, Wieland und Schiller auch, Gedanken zu entwickeln, die die Einseitigkeiten des technischen Fortschritt mit Kunst und Literatur ausgleichen sollten. Dieses Bemühen blieb nicht ohne Erfolg. Noch vor 100 Jahren war es selbstverständlich, dass ein Arzt, Fabrikant, Naturwissenschaftler, Techniker, Architekt oder Rechtsanwalt Goethes Werke kennen musste. Heute ist das anders. Insofern war es erstaunlich, dass am 22. März 2013 immer noch einige Ärztinnen, Zahnärztinnen, Naturwissenschaftler, Journalisten, Unternehmer, Buchhändler  und Rechtsanwälte zur Gedenkveranstaltung erschienen. Es kamen vor allem Menschen, die sich schon lange um die Chemnitzer Kultur bemühen. Man kann fast sagen: es kamen alle, denen die heutige Chemnitzer Kultur wirklich am Herzen liegt. Und es war eine wunderbare Gelegenheit um wieder einmal ahnen zu können, dass es in unserem Leben selbstverständlich um praktisches Wirken geht, wie sollten wir sonst existieren können, zugleich aber immer auch um lebensnotwendige philosophische Reflexion.

Wie sagte der Meister: »Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt.«

Auf der Heimfahrt wurde uns klar: Es war wieder einmal ein Ereignis.

Bei leichtem Schneefall und eisiger Kälte verschwand an diesem 22. März das Licht wieder in der Dämmerung.

Johannes Eichenthal

 

Information

Bonitz, Helga/Arlt, Siegfried: Augenblick und Ewigkeit. Goethe – die Chemnitzer und die Weltliteratur. Chemnitz 2001.

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